Direkte Demokratie in der Schweiz: Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung

Ist die direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz dys­funk­tio­nal und anfäl­lig für Mani­pu­la­tio­nen? Ent­fal­tet sie eher spal­ten­de oder inte­grie­ren­de Wir­kun­gen? Und wird die Lösungs­fin­dung für wich­ti­ge Pro­ble­me durch die direk­te Demo­kra­tie eher blo­ckiert oder geför­dert? Zu die­sen und vie­len wei­te­ren Fra­gen lie­fert unser neu­er Sam­mel­band ver­tief­te und inno­va­ti­ve Ein­sich­ten. In der DeFac­to-Serie «Direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz» geben die Autor:innen der ein­zel­nen Kapi­tel einen Über­blick über ihre wich­tigs­ten Befunde.

Die direk­te Demo­kra­tie stösst an ihre Gren­zen: Die Men­ge und Kom­ple­xi­tät der Vor­la­gen über­for­dert die Stimm­be­rech­tig­ten, Mehr­heits­ent­schei­de för­dern Spal­tung und Aus­schluss statt Inte­gra­ti­on, und die aus dem vor­letz­ten Jahr­hun­dert stam­men­den Spiel­re­geln behin­dern die Lösung dring­li­cher Pro­ble­me! Sol­che und ähn­li­che Kas­san­dra­ru­fe erschall­ten in den letz­ten Jah­ren oft. Sie stüt­zen sich auf Bei­spie­le, die in der Tat Unbe­ha­gen wecken: Ist eine seriö­se Mei­nungs­bil­dung mög­lich, wenn gleich­zei­tig über meh­re­re hoch­kom­ple­xe Vor­la­gen abge­stimmt wer­den muss und das «Abstim­mungs­büch­lein» wie im Juni 2021 über 140 Sei­ten umfasst? Hat das dama­li­ge Nein zum CO2-Gesetz nicht auch gezeigt, dass die Kom­bi­na­ti­on mit ande­ren The­men (Trink­was­ser- und Pes­ti­zi­d­in­itia­ti­ve) Abstim­mungs­re­sul­ta­te beein­flusst? Und ver­tief­te eben­die­se Abstim­mung nicht auf bedroh­li­che Wei­se den Stadt-Land-Gra­ben? Und mehr noch: Ist die­ses Nein zu einer Kli­ma­schutz­vor­la­ge nicht ein Zei­chen dafür, dass die direk­te Demo­kra­tie bei drin­gen­den Pro­ble­men viel zu lang­sam ist und Lösun­gen blockiert?

Der kürz­lich erschie­ne­ne und Open Access ver­füg­ba­re Sam­mel­band «Direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz» nimmt sol­che Beden­ken auf. Neun Bei­trä­ge kon­fron­tie­ren die aus anek­do­ti­scher Evi­denz genähr­te Kri­tik an der direk­ten Demo­kra­tie mit wis­sen­schaft­lich-ana­ly­ti­schen Betrach­tun­gen und wer­ten die Volks­ab­stim­mun­gen der letz­ten Jahr­zehn­te sys­te­ma­tisch aus. Sie unter­su­chen unter ande­rem drei gros­se Fra­gen zur direk­ten Demo­kra­tie in der Schweiz:

  • Ist sie anfäl­lig für Manipulationen?
  • Ent­fal­tet sie eher spal­ten­de oder inte­grie­ren­de Wirkungen?
  • Bremst oder för­dert sie die Lösungs­fin­dung für wich­ti­ge Probleme?

Die Bei­trä­ge hel­fen nicht nur, den Blick von pro­mi­nen­ten und extre­men Ein­zel­fäl­len zu lösen und auf das gros­se Gan­ze zu rich­ten, son­dern mit ihren inno­va­ti­ven Her­an­ge­hens­wei­sen lie­fern sie auch neue Erkennt­nis­se für die Abstimmungsforschung.

Differenzierte Erkenntnisse

Frei­lich kön­nen die Bei­trä­ge – trotz oder gera­de wegen ihrer umfas­sen­den Unter­su­chung der poli­ti­schen Rea­li­tät – kei­ne abschlies­sen­den Urtei­le über Mani­pu­lier­bar­keit, Inte­gra­ti­ons­kraft und Pro­blem­lö­sungs­fä­hig­keit der direk­ten Demo­kra­tie abge­ben. Es fin­den sich etwa durch­aus Hin­wei­se dafür, dass eine gros­se Zahl von (natio­na­len und kom­mu­na­len) Vor­la­gen am glei­chen Abstim­mungs­sonn­tag zu einer ober­fläch­li­che­ren und weni­ger reflek­tier­ten Mei­nungs­bil­dung führt, dass es für eine erfolg­rei­che Lan­cie­rung von Initia­ti­ven und ins­be­son­de­re Refe­ren­den Res­sour­cen und poli­ti­sche Exper­ti­se eta­blier­ter Akteur:innen braucht, dass sprach­li­che Min­der­hei­ten auch an der Urne häu­fi­ger in der Min­der­heit blei­ben, dass es Anlie­gen von nicht inte­grier­ten Min­der­hei­ten schwer haben, Gehör zu fin­den, oder dass die direk­te Demo­kra­tie oft brem­sen­de Wir­kung entfaltet.

Ins­ge­samt legt der Sam­mel­band aber nahe, dass es bei wei­tem nicht so schlecht bestellt ist um die direk­te Demo­kra­tie, wie dies extre­me Ein­zel­bei­spie­le ver­mu­ten las­sen. Die Bei­trä­ge zei­gen viel­mehr auch auf, dass die Anfäl­lig­keit für Mani­pu­la­tio­nen höchs­tens mode­rat ist, dass die direk­te Demo­kra­tie vor allem in sprach­li­cher und regio­na­ler Hin­sicht und über län­ge­re Zeit betrach­tet eini­ge Inte­gra­ti­ons­kraft auf­weist und dass von ihr durch­aus auch wich­ti­ge Impul­se für die poli­ti­sche Bear­bei­tung von Pro­ble­men ausgehen.

Die Wis­sen­schaft kann und soll kei­ne Fak­ten schaf­fen, mit denen aus anek­do­ti­schen Bei­spie­len genähr­te Beden­ken oder Idea­li­sie­run­gen ein für alle­mal ent­kräf­tet wer­den könn­ten. Wis­sen­schaft­li­che For­schung ermög­licht es aber – auch das illus­trie­ren die Bei­trä­ge in die­sem Sam­mel­band –, sich auf die Schul­tern von Ries:innen zu stel­len. Von dort aus gelingt es bes­ser, den gan­zen Wald zu über­bli­cken und sich den Blick nicht von ein­zel­nen Bäu­men ver­stel­len zu las­sen. Im Fall der direk­ten Demo­kra­tie in der Schweiz ist die­ser Wald far­ben­reich, viel­schich­tig und – aller­dings mit Abstri­chen – ziem­lich gesund.


Fragestellungen, Beiträge und Befunde in der Übersicht

Fra­gen zur Mani­pu­lier­bar­keit: Sind die direkt­de­mo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen anfäl­lig für Miss­brauch? Begüns­ti­gen sie eine ein­sei­ti­ge Ein­fluss­nah­me mäch­ti­ger und res­sour­cen­star­ker Akteur:innen? Oder funk­tio­nie­ren sie blind gegen­über The­men, Kon­text und Urheber:innen und sind dar­um ein ver­trau­ens­wür­di­ges Vehi­kel für poli­ti­schen Dia­log und für wohl­in­for­mier­te, breit abge­stütz­te Ent­schei­de? Ent­fal­ten Abstim­mun­gen eher mani­pu­la­ti­ve oder auf­klä­ren­de Wirkung?


Bei­trag von

Kri­ti­sche Befunde

Posi­ti­ve Befunde
Mar­ti­na Flick Wit­zig und Adri­an Vatter• Durch (Nicht-)Zusammenlegung kom­mu­na­ler Abstim­mungs­ter­mi­ne mit natio­na­len Vor­la­gen kön­nen Gemein­de­be­hör­den die Betei­li­gung und poten­zi­ell den Aus­gang von Abstim­mun­gen beeinflussen• Eine the­men­spe­zi­fi­sche Mobi­li­sie­rung kann nicht fest­ge­stellt wer­den; nicht abs­trak­te poli­ti­sche The­men mobi­li­sie­ren, son­dern kon­kre­te Vorlagen
Tho­mas Milic• Mul­ti­pack-Abstim­mun­gen gehen mit Qua­li­täts­ein­bus­sen bei der Mei­nungs­bil­dung einher• Qua­li­tät des Stimm­ent­schei­des bleibt auch bei hoher Betei­li­gung sowie bei zahl­rei­chen und kom­ple­xen Vor­la­gen am glei­chen Urnen­gang ins­ge­samt hoch
Phil­ip­pe Rochat, Tho­mas Milic und Nad­ja Braun Binder• In 2/3 aller Komi­tees, die Initia­ti­ven lan­cie­ren, sitzt min­des­tens 1 Par­la­ments­mit­glied

• Initia­tiv­ko­mi­tees ohne Par­la­ments­mit­glie­der schei­tern weit häu­fi­ger an den Unterschriftenhürden
• Par­la­ments­mit­glie­der sit­zen nicht nur in Par­tei­ko­mi­tees, son­dern hel­fen mit ihrer Exper­ti­se auch Ver­bän­den und Bür­ger­grup­pen, Initia­ti­ven erfolg­reich zu lan­cie­ren

• Auch nicht par­tei­lich oder ver­band­lich orga­ni­sier­te Grup­pen nut­zen direk­te Demo­kra­tie erfolgreich
Hans-Peter Schaub und Karin Frick• Bei Refe­ren­den sagt die Unter­schrif­ten­samm­lung nichts dar­über aus, wel­che poli­ti­sche Rele­vanz eine Vor­la­ge hat; dies stellt die Eig­nung der Unter­schrif­ten­samm­lung als Fil­ter in Fra­ge

• Res­sour­cen sind mög­li­cher­wei­se ent­schei­den­der als Inhal­te, um erfolg­reich ein Refe­ren­dum zu ergreifen
• Unter­schrif­ten­samm­lung bei Volks­in­itia­ti­ven ist ver­läss­li­cher Indi­ka­tor für poli­ti­sche Rele­vanz einer For­de­rung

• Sam­mel­er­folg bei Initia­ti­ven (im Gegen­satz zu Refe­ren­den) scheint somit weni­ger stark von Orga­ni­sa­ti­ons­fä­hig­keit der Komi­tees und stär­ker von Inhal­ten abhängig
Wolf Lin­der• Digi­ta­li­sie­rung kann zu Über­las­tung des poli­ti­schen Sys­tems führen   
   

 

Fra­gen zur Inte­gra­ti­ons­kraft: Wie steht es um die Inte­gra­ti­ons­kraft direkt­de­mo­kra­ti­scher Insti­tu­tio­nen? Haben Abstim­mun­gen eher einen spal­ten­den oder einen einen­den Effekt auf die Gesellschaft?

   
Bei­trag von 

Kri­ti­sche Befunde

Posi­ti­ve Befunde
Sean Muel­ler und Anja Heidelberger• Abstim­mun­gen machen Sprach­grä­ben deut­lich

• Auch nach Jahr­zehn­ten in einem gemein­sa­men Bun­des­staat tut sich der Rös­ti­gra­ben regel­mäs­sig auf
• Durch Abstim­mun­gen sicht­bar gemach­te Unter­schie­de kön­nen dis­ku­tiert wer­den

• Sämt­li­che Kan­to­ne sind meis­tens im Lager der Gewin­ner

• Nur bei 5 von über 650 Abstim­mun­gen kommt es zu einem «per­fek­ten» Sprach­gra­ben (alle Kan­to­ne der Roman­die gegen alle Kan­to­ne der Deutsch­schweiz)

• In Brü­cken­kan­to­nen sind loka­le Sprach­dif­fe­ren­zen geringer
Juli­en Jaquet und Pas­cal Sciarini• Fran­zö­sisch­spra­chi­ge Kan­to­ne und der Kan­ton Tes­sin sind häu­fi­ger in der Min­der­heit als Deutsch­schwei­zer Kantone• Sämt­li­che Kan­to­ne sind meis­tens im Lager der Gewinner
Wolf Lin­der• Abstim­mungs­kämp­fe mobi­li­sie­ren stets auch Inter­es­sen­ge­gen­sät­ze zwi­schen unter­schied­li­chen Grup­pen; Digi­ta­li­sie­rung kann für zuneh­men­de Emo­tio­na­li­sie­rung sor­gen

• Dia­log kann durch Fil­ter­bla­sen sozia­ler Medi­en erschwert wer­den

• Geschwin­dig­keit digi­ta­li­sier­ter Kom­mu­ni­ka­ti­on kann nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen auf Dis­kurs­qua­li­tät haben

• Digi­ta­li­sie­rung der Demo­kra­tie hilft bereits über­re­prä­sen­tier­ten Gruppen
   
   
Isa­bel­le Sta­del­mann-Stef­fen und Sophie Ruprecht   
   

• Gesell­schaft­li­che Ver­än­de­run­gen kön­nen nach­hal­ti­ger sein und höhe­re Legi­ti­ma­ti­on haben, wenn sie häu­fig direkt­de­mo­kra­tisch dis­ku­tiert wer­den müs­sen; fort­dau­ern­der direkt­de­mo­kra­ti­scher Dia­log kann zu Inte­gra­ti­on führen

Anja Hei­del­ber­ger und Mar­lè­ne Gerber• Inte­gra­ti­on setzt poli­ti­sche Rech­te vor­aus; wer nicht über sol­che ver­fügt (z.B. Frau­en­stimm­recht), wird vom Dia­log aus­ge­schlos­sen   
   

 

 

Fra­gen zur Pro­blem­lö­sungs­fä­hig­keit: Behin­dert die direk­te Demo­kra­tie die Lösung wich­ti­ger Pro­ble­me, oder bie­tet sie im Gegen­teil geeig­ne­te Instru­men­te, um die heu­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen anzu­ge­hen? Braucht es dafür Anpas­sun­gen der aus dem vor­letz­ten Jahr­hun­dert stam­men­den Spielregeln?

   
Bei­trag von 

Kri­ti­sche Befunde

Posi­ti­ve Befunde
Anja Hei­del­ber­ger und Mar­lè­ne Gerber• Direk­te Demo­kra­tie erlaubt ledig­lich klei­ne Schrit­te: Zahl­rei­che Refor­men hin zu mehr Gleich­stel­lung wur­den durch die direk­te Demo­kra­tie ver­hin­dert oder ver­zö­gert

• Inte­gra­ti­on setzt poli­ti­sche Rech­te vor­aus; wer nicht über sol­che ver­fügt (z.B. Frau­en­stimm­recht), wird vom Dia­log ausgeschlossen
• Direk­te Demo­kra­tie kann den ste­ten Trop­fen begüns­ti­gen, der letzt­lich den Stein höhlt; die Bedeu­tung eines The­mas kann mit direkt­de­mo­kra­ti­schen Instru­men­ten ver­deut­licht und auf der Agen­da gehal­ten wer­den

• Direk­te Demo­kra­tie dien­te auch zur Ver­tei­di­gung ein­mal errun­ge­ner Erfol­ge

• Wich­ti­ge gleich­stel­lungs­po­li­ti­sche Refor­men des Par­la­ments wur­den durch Volks­in­itia­ti­ven angestossen
Isa­bel­le Sta­del­mann-Stef­fen und Sophie Ruprecht• Direk­te Demo­kra­tie erlaubt ledig­lich klei­ne Schrit­te: Rasche und wirk­sa­me Pro­blem­lö­sun­gen in Umwelt- und Kli­ma­po­li­tik wer­den in der Regel erschwert

• Vor­la­gen für kon­kre­te Ver­hal­tens­än­de­run­gen und Abga­ben­er­hö­hun­gen schei­tern öfter als all­ge­mei­ne Stra­te­gien und Subventionserhöhungen
• Direk­te Demo­kra­tie hat umwelt­po­li­ti­sche Debat­ten auch dyna­mi­siert, unter ande­rem mit erfolg­rei­chen Volks­in­itia­ti­ven

• Ver­nach­läs­sig­te The­men haben dank direk­ter Demo­kra­tie eine Chan­ce, in die poli­ti­sche Are­na zu gelangen


Refe­renz:

Schaub, Hans-Peter und Marc Bühl­mann (2022). Direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz. Neue Erkennt­nis­se aus der Abstim­mungs­for­schung. Zürich: Seismo.

Sam­mel­band mit Bei­trä­gen von Nad­ja Braun Bin­der, Marc Bühl­mann, Mar­ti­na Flick Wit­zig, Karin Frick, Mar­lè­ne Ger­ber, Anja Hei­del­ber­ger, Juli­en Jaquet, Bru­no Kauf­mann, Wolf Lin­der, Tho­mas Milic, Sean Muel­ler, Phil­ip­pe E. Rochat, Sophie Ruprecht, Hans-Peter Schaub, Adri­an Schmid, Pas­cal Scia­ri­ni, Isa­bel­le Sta­del­mann-Stef­fen, Adri­an Vat­ter.

 

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