Die Unterschriftensammlung: Ein geeigneter Relevanzfilter?

Die Unter­schrif­ten­samm­lung bestimmt, wel­che Initia­ti­ven und Refe­ren­den vors Stimm­volk kom­men – sie soll die Spreu vom Wei­zen tren­nen. Dahin­ter steht die Vor­stel­lung, dass für poli­tisch gewich­ti­ge Anlie­gen mehr Unter­schrif­ten zusam­men­kom­men als für irrele­van­te For­de­run­gen. Doch stimmt das mit der poli­ti­schen Wirk­lich­keit über­ein? Ein Blick auf die Abstim­mun­gen der letz­ten 130 Jah­re zeigt: Ja, aber nur für Volks­in­itia­ti­ven. Bei fakul­ta­ti­ven Refe­ren­den lässt die Unter­schrif­ten­samm­lung hin­ge­gen kei­ne Rück­schlüs­se auf die poli­ti­sche Rele­vanz des Anlie­gens zu.

Die Unter­schrif­ten­samm­lung spielt in der schwei­ze­ri­schen direk­ten Demo­kra­tie eine zen­tra­le Rol­le: Sie ent­schei­det dar­über, wel­che Anlie­gen über­haupt dem Stimm­volk vor­ge­legt wer­den. Die Idee dahin­ter: Als Fil­ter sol­len die Unter­schrif­ten­hür­den dafür sor­gen, «dass nur rele­van­te und gleich­zei­tig alle rele­van­ten Anträ­ge aus dem Volk der Volks­ab­stim­mung zuge­führt wer­den» (Bisaz 2020, 505). Die Stimm­be­völ­ke­rung soll sich also nur mit poli­tisch gewich­ti­gen Anlie­gen befas­sen müs­sen, der Rest soll dem Par­la­ment über­las­sen blei­ben. Gleich­zei­tig sol­len die Hür­den nicht zu hoch sein, sodass mög­lichst kei­ne Anlie­gen dar­an hän­gen blei­ben, die eigent­lich wich­tig wären.

Die Annahme: Unterschriftenhürden als Relevanz-Filter

Hin­ter die­ser Rege­lung steht die Annah­me, dass das Unter­schrif­ten­sam­meln für gewich­ti­ge, zug­kräf­ti­ge Anlie­gen leich­ter fal­le: Die Unter­schrif­ten soll­ten in umso grös­se­rer Zahl und/oder in umso kür­ze­rer Zeit zusam­men­kom­men, je mehr Gewicht eine For­de­rung in der Stimm­be­völ­ke­rung geniesst.

Ob es einen sol­chen Zusam­men­hang zwi­schen der Anzahl gesam­mel­ter Unter­schrif­ten bzw. dem Sam­mel­tem­po einer­seits und der poli­ti­schen Rele­vanz der Anlie­gen ande­rer­seits auch tat­säch­lich gibt, haben wir anhand aller Volks­in­itia­ti­ven und fakul­ta­ti­ven Refe­ren­den unter­sucht, über die seit den 1890er Jah­ren abge­stimmt wor­den ist. Denn es ist auch denk­bar, dass der Erfolg in der Unter­schrif­ten­samm­lung von ganz ande­ren Fak­to­ren abhängt als von der poli­ti­schen Rele­vanz eines Anlie­gens – etwa von den Res­sour­cen sei­ner Urheber:innen.

Vier Kriterien für die politische Relevanz direktdemokratischer Anliegen

Die poli­ti­sche Rele­vanz haben wir an vier ver­schie­de­nen Fak­to­ren festgemacht:

  • Ers­tens kann man argu­men­tie­ren, dass (nur) all jene Initia­ti­ven und Refe­ren­den rele­vant sei­en, die in der Abstim­mung eine Mehr­heit erzie­len, d.h. wenn die Initia­ti­ve ange­nom­men bzw. die mit dem Refe­ren­dum bekämpf­te Vor­la­ge letzt­lich abge­lehnt wird.
  • Ein fei­ne­res Kri­te­ri­um misst die Rele­vanz am Stim­men­an­teil: Je höher der Anteil der Stim­men­den, die in der Abstim­mung im Sinn der Initiant:innen (Ja) bzw. der Refe­ren­dums­füh­ren­den (Nein) stim­men, des­to rele­van­ter das Anliegen.
  • Unser drit­tes Kri­te­ri­um ist die Stimm­be­tei­li­gung: Ist die­se hoch, hat die auf­ge­wor­fe­ne Fra­ge offen­bar einen Nerv der Zeit getrof­fen und wird in der Stimm­be­völ­ke­rung als wich­tig emp­fun­den – unab­hän­gig vom Aus­gang der Abstimmung.
  • Unser vier­ter Indi­ka­tor für die Rele­vanz eines Anlie­gens ist die Inten­si­tät der öffent­li­chen Debat­te, die es aus­zu­lö­sen ver­mag: Unab­hän­gig vom Abstim­mungs­re­sul­tat kön­nen Abstim­mun­gen gros­se inhalt­li­che Wir­kung ent­fal­ten, wenn sie die The­men­kon­junk­tur im öffent­li­chen Dis­kurs beein­flus­sen und lang­fris­tig neue poli­ti­sche Ten­den­zen und The­men mobi­li­sie­ren. Kon­kret haben wir die Inten­si­tät der öffent­li­chen Debat­te dar­an gemes­sen, wie vie­le Medi­en­be­rich­te zur jewei­li­gen Vor­la­ge im Abstim­mungs­kampf erschie­nen sind.
Ergebnisse: Unterschriftensammlung hängt nur bei Initiativen mit Relevanz zusammen

Bei Initia­ti­ven gibt die Unter­schrif­ten­samm­lung tat­säch­lich Anhalts­punk­te zu Rück­halt und Reso­nanz eines Anlie­gens in der Stimm­be­völ­ke­rung. Zwar hol­ten Initia­ti­ven, für die vie­le Unter­schrif­ten zusam­men­ge­kom­men waren, eben­so sel­ten eine Mehr­heit wie sol­che mit weni­ger Unter­zeich­nen­den; aber sie erziel­ten im Durch­schnitt einen höhe­ren Ja-Stim­men­an­teil, lock­ten mehr Stimm­be­rech­tig­te an die Urne und sties­sen inten­si­ve­re media­le Debat­ten an.

Beim fakul­ta­ti­ven Refe­ren­dum hin­ge­gen trägt die Unter­schrif­ten­samm­lung – so, wie die Anfor­de­run­gen heu­te aus­ge­stal­tet sind – nichts dazu bei, um zu erken­nen, wel­che Par­la­ments­be­schlüs­se in der brei­ten Bevöl­ke­rung beson­ders umstrit­ten sind und/oder für beson­de­ren Dis­kus­si­ons­be­darf sor­gen. Von unse­ren vier Kri­te­ri­en hängt ein­zig die Stimm­be­tei­li­gung mit der erziel­ten Unter­schrif­ten­zahl bei Refe­ren­den zusammen.

Tabelle 1: Übersicht über die Analyseergebnisse

   
Kri­te­ri­um für Rele­vanz   
   
Abstim­mungs-erfolg   

Erziel­ter Stimmenanteil

Stimm­be­tei­li­gung

Medi­en­re­so­nanz
Fak. Refe­ren­den: Unterschriftenzahl(0)(0)X0
Volks­in­itia­ti­ven: Unterschriftenzahl0XXX
Volks­in­itia­ti­ven: Sammeltempo0(0)(0)X

Erläu­te­rung: X: Es besteht ein Zusam­men­hang in die theo­re­tisch erwar­te­te Rich­tung, der robust auf dem 95-Pro­zent-Niveau signi­fi­kant ist. – (0): Je nach Aus­ge­stal­tung des sta­tis­ti­schen Modells besteht ein signi­fi­kan­ter Zusam­men­hang, aber die­ser erreicht nur das 90-Pro­zent-Niveau und/oder ist nicht robust. – 0: Es besteht kein signi­fi­kan­ter Zusammenhang.

Eine plau­si­ble Erklä­rung für die­se Unter­schie­de zwi­schen Initia­ti­ve und Refe­ren­dum sind die unter­schied­li­chen Anfor­de­run­gen an die Res­sour­cen und die Orga­ni­sa­ti­ons­fä­hig­keit der Unter­schrif­ten­sam­meln­den: Für Initia­ti­ven braucht es zwar mehr Unter­schrif­ten, es steht aber auch deut­lich mehr Zeit zur Ver­fü­gung (100’000 Unter­schrif­ten in 18 Mona­ten, d.h. im Schnitt 182 Unter­schrif­ten pro Tag). Für ein Refe­ren­dum müs­sen hin­ge­gen in bloss 100 Tagen 50’000 Unter­schrif­ten gesam­melt wer­den (500 Unter­schrif­ten pro Tag). Des­halb hängt die Unter­schrif­ten­samm­lung bei Refe­ren­den wohl stär­ker von den Res­sour­cen der Urheber:innen und weni­ger stark vom Inhalt des Anlie­gens und des­sen Anklang in der Bevöl­ke­rung ab.

Schlussfolgerungen für die Diskussion um die Unterschriftenhürden

Weil wir nur jene Anlie­gen unter­sucht haben, die zur Abstim­mung gelangt sind, und somit der Ver­gleich zu den im Sam­mel­sta­di­um geschei­ter­ten Anlie­gen fehlt, ist kei­ne direk­te Aus­sa­ge dazu mög­lich, wie gut die Unter­schrif­ten­hür­den ihre staats­recht­li­che Haupt­funk­ti­on erfül­len – die Her­aus­fil­te­rung jener und nur jener Vor­la­gen, die rele­vant sind. Den­noch las­sen sich für die lau­fen­de Dis­kus­si­on um die opti­ma­le Aus­ge­stal­tung der Unter­schrif­ten­hür­den drei Hin­wei­se ableiten:

  • Ers­tens besteht bei den Hür­den für die fakul­ta­ti­ven Refe­ren­den offen­bar eher Hand­lungs­be­darf als bei jenen für Volks­in­itia­ti­ven. Denn wäh­rend bei Initia­ti­ven der Erfolg in der Unter­schrif­ten­samm­lung tat­säch­lich mit der spä­te­ren Rele­vanz des Anlie­gens zusam­men­hängt, tut er das bei den Refe­ren­den kaum. Dass bis­her vor allem über mög­li­che Refor­men bei den Initia­tiv­hür­den dis­ku­tiert wird, wäre inso­fern zu hinterfragen.
  • Zwei­tens wäre eine Ver­schär­fung des gefor­der­ten Sam­mel­tem­pos (mehr Unter­schrif­ten in glei­cher oder kür­ze­rer Zeit) wohl beson­ders ris­kant: Dadurch wür­den womög­lich nicht pri­mär jene Anlie­gen aus­sor­tiert, die sich für die poli­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung als weni­ger rele­vant erwei­sen, son­dern viel­mehr jene Anlie­gen, deren Urheber:innen über weni­ger Res­sour­cen ver­fü­gen. Wenn über­haupt, wären wohl eher gross­zü­gi­ge­re Sam­mel­fris­ten bei allen­falls erhöh­ten Unter­schrif­ten­zah­len das Mit­tel der Wahl.
  • Drit­tens zei­gen unse­re dif­fe­ren­zier­ten Ergeb­nis­se, dass das Ver­hält­nis zwi­schen der Unter­schrif­ten­samm­lung und der poli­ti­schen Rele­vanz eines Anlie­gens kein simp­les ist, son­dern sich je nach Rechts­form, Kon­text und genau­er Aus­ge­stal­tung der Hür­den unter­schei­det. All­zu mecha­nis­ti­sche Vor­stel­lun­gen, dass sich die Fil­ter­wir­kung der Unter­schrif­ten­hür­den qua­si mit einem ein­fa­chen Hand­griff ziel­ge­nau jus­tie­ren las­se, sind inso­fern wohl verfehlt.
Daten und Methoden
Unse­re Aus­wer­tun­gen beru­hen grund­sätz­lich auf allen Volks­ab­stim­mun­gen seit den 1890er Jah­ren, soweit die nöti­gen Daten vor­han­den waren. Eine Aus­nah­me sind die Ana­ly­sen zur Medi­en­re­so­nanz, für die wir erst ab dem Jahr 2013 über Daten verfügen.

Bei allen Aus­wer­tun­gen ver­wen­de­ten wir ver­schie­de­ne Kon­troll­va­ria­blen. Dazu zähl­ten unter ande­rem die Anzahl Stimm- und Unter­schrifts­be­rech­tig­ter im betref­fen­den Jahr, der betrof­fe­ne Poli­tik­be­reich oder der Zustim­mungs­grad und die Umstrit­ten­heit der Vor­la­gen im Parlament.

Den Zusam­men­hang zum Abstim­mungs­er­folg (ja/nein) prüf­ten wir mit­tels Logit-Regres­sio­nen, für die drei ande­ren Rele­vanz­kri­te­ri­en (sie­he Haupt­text) führ­ten wir OLS-Regres­sio­nen durch.

Für nähe­re Aus­füh­run­gen zu Daten, Ope­ra­tio­na­li­sie­rung und Metho­dik sie­he Schaub/Frick (2022: 55–57).


Refe­renz:

  • Bisaz, Cor­sin (2020): Direkt­de­mo­kra­ti­sche Instru­men­te als «Anträ­ge aus dem Volk an das Volk»: Eine Sys­te­ma­tik des direkt­de­mo­kra­ti­schen Ver­fah­rens­rechts in der Schweiz. Zürich/St.Gallen: Dike.

 

Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des Buch­ka­pi­tels «Die Unter­schrif­ten­samm­lung: Ein geeig­ne­ter Prüf­stein für die Rele­vanz von Initia­ti­ven und Refe­ren­den?», in: Schaub Hans-Peter/­Bühl­mann Marc (Hrsg.). Direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz, Neue Erkennt­nis­se aus der Abstim­mungs­for­schung. Zürich: Seis­mo. S. 43 – 68.

Bild: unsplash.com

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