Fluch oder Segen? Die Rolle der direkten Demokratie bei der Entwicklung der Frauen- und Gleichstellungspolitik seit 1971

Es gibt ver­schie­de­ne pro­mi­nen­te Bei­spie­le für nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen der direkt­de­mo­kra­ti­schen Instru­men­te auf die Gleich­stel­lung der Frau­en — man den­ke etwa an den lan­gen Weg zur Ein­füh­rung des Frau­en­stimm­rechts oder der Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung. Für eine umfas­sen­de Ein­schät­zung der Wir­kung der direk­ten Demo­kra­tie seit 1971 auf die Gleich­stel­lung müs­sen neben die­sen direk­ten Effek­ten aber auch mög­li­che indi­rek­te Effek­te berück­sich­tigt wer­den — so kön­nen Initia­ti­ven bei­spiels­wei­se auch neue Dis­kus­sio­nen anstos­sen. Die­se Effek­te — direkt und indi­rekt — haben wir untersucht.

Gemein­hin geht man – ins­be­son­de­re mit Blick auf die Ableh­nung des Frau­en­stimm­rechts 1959 – davon aus, dass die direkt­de­mo­kra­ti­schen Instru­men­te einen nega­ti­ven Effekt auf die Gleich­stel­lung der Frau­en in der Schweiz gehabt haben. So haben Grup­pen, die sich weder im Par­la­ment noch an der Urne ein­brin­gen dür­fen, kei­ne Mög­lich­keit, die ent­spre­chen­den Instru­men­te zu nut­zen, gleich­zei­tig kön­nen sie jedoch zu ihren Unguns­ten ein­ge­setzt werden.

Auch nach 1971 gibt es gewich­ti­ge Bei­spie­le, bei denen die recht­li­che Gleich­stel­lung der Frau­en durch eine Urnen­ab­stim­mung behin­dert wur­de – man den­ke etwa an den lan­gen Weg zur Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung und zur Fristenlösung.

Jedoch üben Volks­in­itia­ti­ven und Refe­ren­den nicht nur direkt durch das Ergeb­nis eines Urnen­gangs einen Ein­fluss auf die Recht­set­zung oder auf die Poli­tik aus, son­dern häu­fig auch indi­rekt, indem dadurch wei­te­re Gesetz­ge­bungs­pro­zes­se ange­stos­sen wer­den oder neue The­men auf die poli­ti­sche Agen­da gelan­gen (Roh­ner 2012; Lin­der & Muel­ler 2017). Wir unter­su­chen nun in unse­rem Arti­kel, wel­che Effek­te – direk­te und indi­rek­te – die direkt­de­mo­kra­ti­schen Instru­men­te der Schweiz seit 1971 auf die Durch­set­zung gleich­stel­lungs­po­li­ti­scher und frau­en­spe­zi­fi­scher Anlie­gen aus­ge­übt haben.

Die indirekten Effekte direktdemokratischer Instrumente

Neben den direk­ten Effek­ten, die bei Annah­me einer Volks­in­itia­ti­ve (sog. Recht­set­zungs­ef­fekt, Lin­der & Muel­ler 2017; Roh­ner 2012) oder Ableh­nung einer Refe­ren­dums­vor­la­ge (sog. Brems­ef­fekt; Lin­der & Muel­ler 2017) an der Urne zu tra­gen kom­men, kön­nen sich direkt­de­mo­kra­ti­sche Instru­men­te auch auf ver­schie­dens­te Wei­se indi­rekt auf die Poli­tik­ge­stal­tung auswirken.

Rein die Mög­lich­keit des fakul­ta­ti­ven Refe­ren­dums kann dazu füh­ren, dass es einer Grup­pe oder Orga­ni­sa­ti­on durch ihre Refe­ren­dums­fä­hig­keit gelingt, ihre Inter­es­sen in ein Gesetz­ge­bungs­pro­jekt ein­flies­sen zu las­sen. Hier­bei spricht man vom Inte­gra­ti­ons­ef­fekt des Refe­ren­dums (Neid­hart 1970; Krie­si 1991; Christ­mann 2010).

Bei Volks­in­itia­ti­ven kön­nen Bun­des­rat oder Par­la­ment einen direk­ten Gegen­ent­wurf oder einen indi­rek­ten Gegen­vor­schlag erar­bei­ten (Schwung­rad- oder Ver­hand­lungs­pfand­ef­fekt; Lin­der und Muel­ler 2017), der Anlie­gen der Initia­ti­ve teil­wei­se berücksichtigt. 

Sowohl durch den Urnen­aus­gang als auch den Abstim­mungs­kampf kön­nen sich wei­te­re indi­rek­te Effek­te zei­gen: Die Annah­me von Volks­in­itia­ti­ven, aber auch von Refe­ren­dums­vor­la­gen kann ver­wand­ten Anlie­gen einen Schub ver­lei­hen, etwa dadurch, dass sie ver­mehrt in die poli­ti­sche Are­na getra­gen wer­den (Erfolgs­ef­fekt).

Umge­kehrt ist auch denk­bar, dass die Ableh­nung einer Vor­la­ge an der Urne als Zei­chen gewer­tet wird, dass die Zeit für die For­de­rung noch nicht reif ist. Ins­be­son­de­re wenn eine Sei­te deut­lich ver­liert, kön­nen ihre Aspi­ra­tio­nen in die­sem Bereich für die fol­gen­den Jah­re stark aus­ge­bremst und auch sel­te­ner ins Par­la­ment getra­gen wer­den (Nie­der­la­ge­ef­fekt).

Nicht zuletzt kön­nen mit dem Instru­ment der Volks­in­itia­ti­ve neue The­men auf die poli­ti­sche Agen­da gebracht und durch die Abstim­mung einer brei­ten Öffent­lich­keit zugäng­lich gemacht wer­den. Die­ser soge­nann­te Kata­ly­sa­tor­ef­fekt der Initia­ti­ve (Lin­der & Muel­ler 2017) könn­te somit dazu füh­ren, dass Anlie­gen, die zuvor noch kaum im Par­la­ment the­ma­ti­siert wor­den waren, trotz Ableh­nung an der Urne plötz­lich ver­mehrt in par­la­men­ta­ri­sche Vor­stös­se ein­flies­sen. Dies ins­be­son­de­re dann, wenn der Abstim­mungs­kampf sowie die Reso­nanz in den Medi­en und bei der Bevöl­ke­rung gewis­se Akteu­re zu einer Neu­be­ur­tei­lung der Rele­vanz des Anlie­gens bewegten.

Messung der Effekte

Frau­en bil­den bekannt­lich kei­ne homo­ge­ne Grup­pe, son­dern unter­schei­den sich nicht zuletzt auch in ihren poli­ti­schen Posi­tio­nen, was für ihr Abstim­mungs­ver­hal­ten oft­mals ent­schei­den­der ist als ihr Geschlecht (Llo­ren 2015). Den­noch gibt es Vor­la­gen, die die Mehr­heit der Frau­en stär­ker betref­fen als ande­re. Wir unter­su­chen dazu die­je­ni­gen Vor­la­gen, die ent­we­der einen Aus- oder Abbau der Rech­te oder Pri­vi­le­gi­en der Frau­en beinhal­ten oder bei denen es um die tat­säch­li­che Gleich­stel­lung zwi­schen den Geschlech­tern, also eine Ver­brei­te­rung der Hand­lungs­op­tio­nen der Frau­en, geht. Für unse­re Aus­wer­tung defi­nie­ren wir auch, ob eine Vor­la­ge auf einen Aus- oder einen Abbau der Rech­te, Pri­vi­le­gi­en oder Hand­lungs­op­tio­nen von Frau­en abzielt. Wir unter­su­chen dazu die Abstim­mungs­vor­la­gen seit 1971. Das genaue Vor­ge­hen sowie die Mess­me­tho­den für die ver­schie­de­nen Effek­te fin­den sich in unse­rem Buchbeitrag.

Resultate

In Bezug auf die Volks­in­itia­ti­ven ist die Schluss­fol­ge­rung zu den direk­ten Effek­ten rasch gezo­gen: Kei­ner Aus­bau­in­itia­ti­ve war ein direk­ter Erfolg an der Urne ver­gönnt, gleich­zei­tig fand aber auch kei­ne Abbau­in­itia­ti­ve je eine Mehr­heit in einer Volks­ab­stim­mung. Hin­ge­gen gelang es eini­gen Volks­in­itia­ti­ven zu unter­schied­li­chen frau­en­spe­zi­fi­schen und gleich­stel­lungs­po­li­ti­schen Anlie­gen, aus­rei­chend Druck auf­zu­set­zen, um das Par­la­ment zur Erar­bei­tung von grif­fi­gen Gegen­vor­schlä­gen zu bewe­gen (Schwung­rad­ef­fekt). So wur­den zu den hier betrach­te­ten Anlie­gen im Ver­gleich zu allen zustan­de­ge­kom­me­nen Volks­in­itia­ti­ven gar etwas häu­fi­ger direk­te Gegen­ent­wür­fe oder indi­rek­te Gegen­vor­schlä­ge erlassen.

Häu­fig fan­den sich nach einer Ableh­nung von Vor­la­gen an der Urne ver­wand­te Anlie­gen auch ver­mehrt auf der poli­ti­schen Agen­da des Par­la­ments; ein Nie­der­la­ge­ef­fekt liess sich hin­ge­gen sel­te­ner beob­ach­ten. Die Fris­ten­lö­sungs­in­itia­ti­ve ent­pupp­te sich zudem als wich­ti­ger Kata­ly­sa­tor, mit des­sen Hil­fe die Lega­li­sie­rung des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs auch im Par­la­ment auf die Trak­tan­den­lis­te gesetzt wer­den konnte.

Ins­ge­samt kön­nen wir somit das von Sen­ti (1994) gezo­ge­ne Fazit zu den Aus­wir­kun­gen von Volks­in­itia­ti­ven auf die Gleich­stel­lungs­po­li­tik bestä­ti­gen: Auch wenn Volks­in­itia­ti­ven zu frau­en­spe­zi­fi­schen und gleich­stel­lungs­po­li­ti­schen Anlie­gen kaum je ange­nom­men oder bereits vor der Abstim­mung zurück­ge­zo­gen wur­den, sind ihre indi­rek­ten Effek­te bedeutend.

Tabelle 1: Zusammenfassung der festgestellten Effekte

  Anteil bei Aus- oder AbbauvorlagenAnteil bei allen Vorlagen
Direk­ter Effekt ReferendumErfolgs­quo­te fak. Ref. Aus­bau (Erfolg=Annahme)75%69%
Erfolgs­quo­te obl. Ref. Aus­bau (Erfolg=Annahme)75%75%
Erfolgs­quo­te fak. Ref. Abbau (Erfolg=Ablehnung)57%31%
Erfolgs­quo­te obl. Ref. Abbau (Erfolg=Ablehnung)100%25%
Indi­rek­ter Effekt
des Refe­ren­dums (Aus­gren­zungs- und Integrationseffekt)
Anzahl vom Par­la­ment beschlos­se­ne Aus­bau­vor­la­gen steigt über die Zeit anKein Ver­gleich möglich
Anteil Aus­bau­vor­la­gen, zu denen ein Refe­ren­dum ergrif­fen wird, sinkt über die ZeitKein Ver­gleich möglich
Anteil ergrif­fe­ner Refe­ren­den zu Ausbauvorlagen25,5%b6,5%a
Direk­ter Effekt der InitiativeErfolgs­quo­te Aus­bau (Erfolg=Annahme)0%10%
Erfolgs­quo­te Abbau (Erfolg=Ablehnung)100%90%
Ja-Stim­men-Anteil32,9%35,8%
Indi­rek­ter Effekt der Initia­ti­ve (Schwung­rad-effekt)Anteil direk­te Gegenentwürfe8,3%7,9%
Anteil indi­rek­ter Gegen­vor­schlä­ge

(mit Rück­zug der Initiative)
13,0%9,1%
Erfolgs­ef­fektUrnen­er­fol­ge wirk­ten sich mehr­fach posi­tiv auf ver­wand­te For­de­run­gen aus, aller­dings waren die­se kaum von direk­tem Erfolg gekrönt.Kein Ver­gleich möglich
Nie­der­la­ge­ef­fektUrnen­miss­erfol­ge wirk­ten sich nur bei Quo­ten­in­itia­ti­ve abschre­ckend aus, sowie bei Ofra teil­wei­se (Eltern­ur­laub)Kein Ver­gleich möglich
Kata­ly­sa­tor­ef­fektEin Kata­ly­sa­tor­ef­fekt lässt sich im Unter­su­chungs­zeit­raum für die Fris­ten­lö­sungs­in­itia­ti­ve nachweisenKein Ver­gleich möglich

Anmer­kun­gen: aDie­ser Wert stammt aus Vat­ter (2020, 358 f.) und bezieht sich auf die Jah­re 1971–2019. bZum bes­se­ren Ver­gleich bezieht sich die­ser Wert auf den Zeit­raum 1971–2019. Quel­len: Swiss­vo­tes (2021), Bun­des­kanz­lei (2022), eige­ne Berech­nun­gen (indi­rek­te Effek­te des Refe­ren­dums, Schwungradeffekt). 

Das fakul­ta­ti­ve Refe­ren­dum erweist sich in unse­rem Arti­kel als zwei­schnei­di­ges Schwert. So wur­den bis Ende der 1990er Jah­re zen­tra­le frau­en­spe­zi­fi­sche und gleich­stel­lungs­po­li­ti­sche Anlie­gen (v.a. Fris­ten­lö­sung und Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung) dadurch mass­geb­lich gebremst. Seit dem Jahr 2000 waren hin­ge­gen alle Aus­bau­vor­la­gen in fakul­ta­ti­ven Refe­ren­dums­ab­stim­mun­gen erfolg­reich. Zudem konn­te das Refe­ren­dum bis­her auch mehr­heit­lich erfolg­reich als Waf­fe gegen Vor­la­gen ein­ge­setzt wer­den, die einen Abbau der Rech­te und Pri­vi­le­gi­en der Frau­en bedeu­tet hät­ten (sie­he auch Vat­ter & Dana­ci 2010).

So zeigt Tabel­le 1 auf, dass frau­en­spe­zi­fi­sche und gleich­stel­lungs­po­li­ti­sche Vor­la­gen ver­gli­chen mit den übri­gen Vor­la­gen seit 1971 ins­ge­samt ver­gleichs­wei­se erfolg­reich waren. Aus­bau­vor­la­gen, gegen die ein fakul­ta­ti­ves Refe­ren­dum ergrif­fen wor­den war, wur­den häu­fi­ger ange­nom­men als alle ande­ren Vor­la­gen (75% zu 69%), wäh­rend Abbau­vor­la­gen häu­fi­ger abge­lehnt wur­den (57% zu 31%). Gleich­zei­tig wur­de aber zu Aus­bau­vor­la­gen auch deut­lich häu­fi­ger das fakul­ta­ti­ve Refe­ren­dum ergrif­fen als zu allen in dem­sel­ben Zeit­raum durch das Par­la­ment bear­bei­te­ten Vor­la­gen (25.5% zu 6.5%).

Seit den 1980er Jah­ren wer­den frau­en­spe­zi­fi­sche und gleich­stel­lungs­po­li­ti­sche Anlie­gen auch ver­mehrt in Par­la­ments­be­schlüs­se auf­ge­nom­men – somit kön­nen sich die­se Anlie­gen auch neben der Abstim­mungs­ur­ne ver­stärkt durch­set­zen, was auf eine stär­ke­re per­zi­pier­te Refe­ren­dums­fä­hig­keit und somit stär­ke­re indi­rek­te Effek­te des Refe­ren­dums zuguns­ten von Aus­bau­an­lie­gen hin­deu­tet. Wei­ter erweist sich der Anteil an Aus­bau­vor­la­gen, gegen die das fakul­ta­ti­ve Refe­ren­dum ergrif­fen wor­den war, seit der Jahr­tau­send­wen­de bis­her als stark rückläufig.

Unse­re Ergeb­nis­se deu­ten somit dar­auf hin, dass sich Gleichstellungsbefürworter:innen je län­ger je mehr zu einer star­ken poli­ti­schen Kraft ent­wi­ckeln, die ihre Inter­es­sen an der Urne durch­zu­set­zen ver­mö­gen, wäh­rend gleich­zei­tig ihre Refe­ren­dums­fä­hig­keit – also die Glaub­wür­dig­keit ihrer Refe­ren­dums­dro­hung – und somit auch ihre Hand­lungs­macht inner­halb des Par­la­ments steigt.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des Buch­ka­pi­tels «Fluch oder Segen? Die Rol­le der direk­ten Demo­kra­tie bei der Ent­wick­lung der Frau­en- und Gleich­stel­lungs­po­li­tik seit 1971», in: Schaub Hans-Peter/­Bühl­mann Marc (Hrsg.). Direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz, Neue Erkennt­nis­se aus der Abstim­mungs­for­schung. Zürich: Seismo. 

Bild: pixabay.com

 

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