Die Volksinitiative: Nur ein weiteres politisches Instrument?

Die Volks­in­itia­ti­ve erscheint auf den ers­ten Blick als anti­par­la­men­ta­ri­sches Instru­ment, mit dem auf das Par­la­ment ein­ge­wirkt und der Recht­set­zungs­pro­zess von aus­ser­halb des Par­la­ments ange­stos­sen wer­den kann. In einer empi­ri­schen Unter­su­chung der Nut­zung der Insti­tu­ti­on Volks­in­itia­ti­ve durch par­la­men­ta­ri­sche Akteur:innen kom­men wir jedoch zum Schluss, dass auch Mit­glie­der der eid­ge­nös­si­schen Räte und Par­tei­en häu­fig zum Instru­ment der Volks­in­itia­ti­ve grei­fen, obwohl ihnen eine gan­ze Rei­he wei­te­rer poli­ti­scher Ein­fluss­in­stru­men­te zur Ver­fü­gung stehen.

Geschich­te der Volksinitiative
Im Jahr 1891 wur­de die Volks­in­itia­ti­ve auf Teil­re­vi­si­on der Bun­des­ver­fas­sung ein­ge­führt, um poli­tisch Aus­sen­ste­hen­den und Min­der­hei­ten, die im par­la­men­ta­ri­schen Pro­zess unge­nü­gend zum Zuge kom­men, die Mög­lich­keit zu geben, mit­tels poli­ti­scher For­de­run­gen eine Ver­än­de­rung des Sta­tus quo aus­zu­lö­sen. Im öffent­li­chen Dis­kurs wer­den Volks­in­itia­ti­ven aber häu­fig mit den im Par­la­ment ver­tre­te­nen poli­ti­schen Par­tei­en in Ver­bin­dung gebracht. Zu den­ken ist etwa an die Steu­er­ge­rech­tig­keits­in­itia­ti­ve der SP oder die Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve der SVP. Dadurch ent­steht der Ein­druck, dass par­la­men­ta­ri­sche Grup­pie­run­gen das Instru­ment der Volks­in­itia­ti­ve für ihre eige­nen Zwe­cke nut­zen, obwohl ihnen ver­schie­de­ne Instru­men­te wie etwa die Moti­on oder das Pos­tu­lat zur Ver­fü­gung ste­hen, um ihre Anlie­gen direkt im Par­la­ment ein­zu­brin­gen. Die­se wer­den von den Parlamentarier:innen auch rege genutzt. Nichts­des­to­trotz fällt es ihnen nicht immer leicht, ihre Anlie­gen im Par­la­ment durch­zu­brin­gen und eine Ände­rung der Rechts­la­ge her­bei­zu­füh­ren. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den ins­ge­samt nied­ri­gen Erfolgs­quo­ten der par­la­men­ta­ri­schen Instru­men­te. Zwi­schen 1994 und 2014 wur­den über 7’000 Motio­nen und über 3’000 Pos­tu­la­te ein­ge­reicht, deren Erfolgs­quo­te bei nur 18 (Motio­nen) bzw. 43 (Pos­tu­la­te) Pro­zent liegt (Brü­sch­wei­ler & Vat­ter 2018).
Die Volksinitiative als valable Alternative zu den parlamentarischen Instrumenten

Seit ihrer Ein­füh­rung wur­den 493 eid­ge­nös­si­sche Volks­in­itia­ti­ven lan­ciert (Stand Mit­te März 2022). Von den 348 zustan­de gekom­me­nen Initia­ti­ven wur­den 105 zurück­ge­zo­gen und 227 Volk und Stän­den zur Abstim­mung unter­brei­tet – davon schaff­ten es jedoch nur 25 über die Hür­de des dop­pel­ten Mehrs. Die Wir­kung einer Volks­in­itia­ti­ve beschränkt sich aller­dings nicht nur auf ihren Erfolg an der Urne. Mit ihr kön­nen viel­mehr auch wei­te­re, ganz unter­schied­li­che Zie­le ver­folgt wer­den, wie zum Beispiel:

  • der indi­rek­te Erfolg einer Volks­in­itia­ti­ve (Berück­sich­ti­gung in Teil­be­rei­chen der Gesetz­ge­bung; Gegenvorschläge);
  • das Ein­füh­ren als extrem emp­fun­de­ner The­men in die öffent­li­che Dis­kus­si­on und das Anstos­sen neu­er poli­ti­scher Tendenzen;
  • das Ver­hin­dern von Pro­tes­ten in der Bevölkerung;
  • das all­ge­mei­ne Ein­wir­ken auf die poli­ti­sche Agen­da (Agen­da-Set­ting) sowie
  • die Stei­ge­rung des Bekannt­heits­gra­des einer Grup­pie­rung und der damit ver­bun­de­nen Mobi­li­sie­rung von Mit­glie­dern (z. B. Image­pfle­ge der Parteien).

Seit Ein­füh­rung der Pro­porz­wahl für die Natio­nal­rats­wah­len 1919 ver­fügt kei­ne Par­tei mehr über eine abso­lu­te Mehr­heit an Sit­zen im Natio­nal- und Stän­de­rat. Anstatt einer insti­tu­tio­na­li­sier­ten kennt die Schweiz eine fall­wei­se, von den jewei­li­gen Geschäf­ten abhän­gi­ge Oppo­si­ti­on. Die Volks­in­itia­ti­ve kann folg­lich auch für indi­vi­du­el­le Par­la­ments­mit­glie­der ein Mit­tel der direk­ten poli­ti­schen Ein­fluss­nah­me sein, wenn sie mit den ihnen zu Gebo­te ste­hen­den par­la­men­ta­ri­schen Instru­men­ten nicht durchdringen.

Die Rolle der Parlamentsmitglieder im Initiativprozess

Die Mit­glie­der der Bun­des­ver­samm­lung kön­nen selbst Volks­in­itia­ti­ven lan­cie­ren. Das Par­la­ment hat zwar kei­nen Ein­fluss auf den Wort­laut einer ein­ge­reich­ten Initia­ti­ve, aller­dings ent­schei­det es über deren Gül­tig­keit, gibt eine Emp­feh­lung auf Annah­me oder Ableh­nung der­sel­ben ab und kann einen direk­ten oder indi­rek­ten Gegen­ent­wurf beschlies­sen. Aus die­ser Per­spek­ti­ve kann es für ein Initia­tiv­ko­mi­tee einen Mehr­wert brin­gen, eines sei­ner Mit­glie­der im Par­la­ment zu wis­sen. Gemäss unse­rer Unter­su­chung von 346 Initia­tiv­ko­mi­tees der Jah­re 1973 bis 2019 sind Par­la­ments­mit­glie­der in Initia­tiv­ko­mi­tees sogar eher Nor­mal- als Spezialfall.

  • In bei­na­he 2 von 3 der ins­ge­samt 346 unter­such­ten Initia­tiv­ko­mi­tees gab es min­des­tens ein akti­ves Parlamentsmitglied.
  • Zu kei­nem Zeit­punkt kamen weni­ger als 30 Pro­zent der Initia­tiv­ko­mi­tees gänz­lich ohne akti­ve Par­la­ments­mit­glie­der aus.
  • Jeweils zwi­schen 9 und 57 Pro­zent der Mit­glie­der der Bun­des­ver­samm­lung waren für min­des­tens eine Initia­ti­ve tätig.
  • Ein Par­la­ments­mit­glied kann meh­re­ren Komi­tees ange­hö­ren – eine akti­ve Par­la­men­ta­rie­rin sass zwi­schen Juni und Sep­tem­ber 1998 gleich­zei­tig in zehn Initiativkomitees.

Es fällt auf, dass Volks­in­itia­ti­ven mit akti­ven Par­la­ments­mit­glie­dern in ihren Komi­tees häu­fi­ger zustan­de kom­men als Initia­ti­ven mit Komi­tees ohne Par­la­ments­mit­glie­der. Ver­mu­tungs­wei­se bedarf der kom­ple­xe Pro­zess bis zur Ein­rei­chung einer Volks­in­itia­ti­ve einer gewis­sen Exper­ti­se, zu der Par­la­ments­mit­glie­der wesent­lich bei­tra­gen können.

  • Zwi­schen 1973 und 2019 schei­ter­ten 23 % der Volks­in­itia­ti­ven mit akti­ven Par­la­ments­mit­glie­dern in ihren Komi­tees bereits in der Pha­se der Unterschriftensammlung.
  • Im glei­chen Zeit­raum schaff­ten es 64 % der Volks­in­itia­ti­ven ohne Par­la­ments­mit­glie­der in ihren Komi­tees nicht über die Hür­de der Unterschriftensammlung.

Die indi­vi­du­el­len Mit­glie­der von Initia­tiv­ko­mi­tees reprä­sen­tie­ren die Grup­pie­run­gen, die «hin­ter der Volks­in­itia­ti­ve ste­hen». Dabei sind eta­blier­te Akteur:innen von zen­tra­ler Bedeu­tung, da sie auf­grund ihrer Res­sour­cen, Erfah­run­gen und Ver­bin­dun­gen eher in der Lage sind, Volks­in­itia­ti­ven erfolg­reich an die Urne zu bringen.

  • Hin­ter weni­ger als zehn Pro­zent der Begeh­ren, die zustan­de kamen und anschlies­send zur Abstim­mung vor­ge­legt wur­den, ste­hen poli­tisch aus­sen­ste­hen­de Gruppierungen.
  • Der Anteil Par­tei­in­itia­ti­ven jener Begeh­ren beträgt hin­ge­gen rund 35 Prozent.
Wer dominiert die Initiativwelt?

Grup­pie­run­gen, die aus­ser­halb der insti­tu­tio­na­li­sier­ten Ent­schei­dungs­struk­tu­ren ste­hen und nicht über eine dau­er­haf­te Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tur ver­fü­gen, haben die Initia­tiv­agen­da zu kei­nem Zeit­punkt domi­niert. Und selbst unter den Par­tei­en sind es nicht zwin­gend Kleinst­grup­pie­run­gen, die Volks­be­geh­ren lan­cie­ren. Im Gegen­teil sind etwa die Pol­par­tei­en, in beson­de­rem Mas­se die SP, äus­serst initia­tiv­freu­dig, obwohl sie auf die her­kömm­li­chen poli­ti­schen Instru­men­te und Ein­fluss­mög­lich­kei­ten zurück­grei­fen können.

Die polit­ro­man­ti­sche Vor­stel­lung, wonach in der Schweiz «das Volk» Ver­fas­sungs­än­de­run­gen initi­iert, ist oft­mals unzu­tref­fend. Die Volks­in­itia­ti­ve erscheint nicht nur als Instru­ment der aus­serpar­la­men­ta­ri­schen Oppo­si­ti­on, son­dern vor allem auch als Instru­ment der par­la­men­ta­ri­schen Oppo­si­ti­on, womit ihr Bild als anti­par­la­men­ta­ri­sches Instru­ment zumin­dest teil­wei­se rela­ti­viert wird.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des Buch­ka­pi­tels «Die Volks­in­itia­ti­ve: Nur ein wei­te­res par­la­men­ta­ri­sches Instru­ment?», in: Schaub Hans-Peter/­Bühl­mann Marc (Hrsg.). Direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz, Neue Erkennt­nis­se aus der Abstim­mungs­for­schung. Zürich: Seis­mo. S. 23 – 42.

Bild: wiki­me­dia commons

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