Ambivalenzen der Digitalisierung von Demokratie

Die zuneh­men­de Digi­ta­li­sie­rung beein­flusst auch demo­kra­ti­sche Pro­zes­se. E‑Voting, E‑Collecting und Poli­tik via Social Media: was bringt das alles und wie ver­än­dert es unse­re Demokratie?

Was bringt uns die Digitalisierung politisch, wohin führt sie in der Demokratie?

Als ers­tes sind zwei Digi­ta­li­sie­rungs­pro­jek­te zu nen­nen, die direkt in den for­ma­len Pro­zess der direk­ten Demo­kra­tie ein­grei­fen. Das bekann­te­re ist das E‑Voting. In sei­ner 20-jäh­ri­gen Ver­suchs­pha­se konn­te die Wäh­ler­schaft in 14 Kan­to­nen ihre Stim­me auf elek­tro­ni­schem Weg abge­ben. Inzwi­schen ist das Pro­jekt aus zwei Grün­den an einem Tot­punkt ange­langt: Tech­nisch gelang es nicht, alle Sicher­heits­an­for­de­run­gen zu erfül­len; vor allem aber wur­den die voll­mun­di­gen Ver­spre­chen ent­täuscht, E‑voting bele­be die direk­te Demo­kra­tie. Nach bis­he­ri­gen Erfah­run­gen erhöht E‑Voting die all­ge­mei­ne Stimm­be­tei­li­gung nicht. Es ist auch kein Mit­tel gegen die tie­fe­re Betei­li­gung der Jun­gen und der Frau­en, und das Ver­fah­ren ist kom­pli­zier­ter als die brief­li­che Stimm­ab­ga­be. Vor­tei­le scheint E‑Voting ein­zig für die Grup­pe der Aus­land­schwei­zer zu haben.

Dafür wur­de auf Initia­ti­ve von Pri­va­ten das halb-elek­tro­ni­sche Sam­meln von Unter­schrif­ten für Refe­ren­den und Volks­in­itia­ti­ven stark ent­wi­ckelt. Das prak­ti­zie­ren nicht nur Par­tei­en und Ver­bän­de, son­dern auch par­tei­un­ab­hän­gi­ge Platt­for­men wie «WeCollect» etc. E‑mail-Adress­lis­ten sind dabei äus­serst hilf­reich, so auch für neue Bewe­gun­gen wie die «Freun­de der Ver­fas­sung».  Deren 80’000 E‑Mail Adres­sen tru­gen ent­schei­dend dazu bei, dass die bei­den Covid-19 Refe­ren­den zustan­de kamen. Kurz: die Digi­ta­li­sie­rung erlaubt, Refe­ren­den und Volks­in­itia­ti­ven schnel­ler und bil­li­ger zu lan­cie­ren. Dabei sind die digi­ta­len Mög­lich­kei­ten noch kei­nes­wegs aus­ge­schöpft: Auch der letz­te Teil – die per­sön­li­che Unter­zeich­nung und das Ein­rei­chen der Unter­schrif­ten — könn­te künf­tig digi­tal erfol­gen, sobald es in der Schweiz eine rechts­gül­ti­ge elek­tro­ni­sche Signa­tur gibt.

Was die­se vol­le Form des E‑Collecting bedeu­tet, haben die Nie­der­lan­de vor eini­gen Jah­ren erfah­ren: Inner­halb weni­ger Tage kamen Hun­dert­tau­sen­de elek­tro­ni­scher Unter­schrif­ten für ein Refe­ren­dum zusam­men. Da Platt­for­men wie Scout auch in der Schweiz täg­lich von zehn­tau­sen­den Benüt­zern auf­ge­sucht wer­den, ist zu erwar­ten, dass die 50 oder 100’000 Klicks für ein Refe­ren­dum oder eine Volks­in­itia­ti­ve in weni­gen Tagen zusam­men­kä­men. Die Fol­gen einer solch rasan­ten Beschleu­ni­gung kann man sich aus­ma­len: Eine viel grös­se­re Zahl von Volks­be­geh­ren, ver­an­lasst durch einen wach­sen­den Kreis von Oppo­nen­ten und Initi­an­ten. Will man eine Über­las­tung von Regie­rung, Par­la­ment und Stimm­bür­ger­schaft ver­mei­den, müss­te man die Sam­mel­fris­ten für die elek­tro­ni­schen Unter­schrif­ten stark verkürzen.

Die grös­se­re Geschwin­dig­keit von E‑Collecting wäre aber nicht die ein­zi­ge Ver­än­de­rung. Wer nach fünf Minu­ten Dis­kus­si­on mit einer Akti­vis­tin an einem Stras­sen­stand sei­ne Unter­schrift für ein Refe­ren­dum gibt, tut dies im Glücks­fall am Ende eines Dia­logs. Wer im E‑Collecting auf­ge­ru­fen wird, sei­ne Zustim­mung für die­sel­be Sache zu geben, ist ver­sucht, sei­nen Klick allein und als spon­ta­ne emo­tio­na­le Reak­ti­on abzufeuern. 

Politische Meinungsbildung und Social Media

Das führt zur Fra­ge, wie sich die poli­ti­sche Mei­nungs­bil­dung durch Social Media ver­än­dert. Vier Jah­re Trump &Twitter sowie die angeb­li­che Beein­flus­sung von Wah­len durch pri­va­te Nut­zer­da­ten im Cam­bridge-Ana­ly­ti­ca-Skan­dal haben den Social Media den zwei­fel­haf­ten Ruf ein­ge­tra­gen, sie wür­den die öffent­li­che Mei­nung zu manipulieren.

Zwar wird die­ser Ein­fluss über­schätzt. Unter­su­chun­gen zei­gen zumin­dest für Schweiz, dass Social Media durch Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker nur beschei­den genutzt wer­den. Das­sel­be gilt für die Stimm­bür­ger­schaft, die sich in ihrem Ent­schei­den nach wie vor pri­mär auf die klas­si­schen Medi­en und das «Bun­des­büch­lein» als ver­läss­li­che Infor­ma­ti­ons­grund­la­gen abstützt.

Den­noch ist die Ten­denz der Social Media zur Bla­sen­bil­dung unter Gleich­ge­sinn­ten, die sich gegen­sei­tig bestär­ken und gegen aus­sen abschir­men real, und sie ist fatal für die poli­ti­sche Mei­nungs­bil­dung. Ein US-Expe­ri­ment, bei dem sich eini­ge hun­dert Repu­bli­ka­ner und Demo­kra­tin­nen einen Monat lang den Bots der Gegen­sei­te aus­setz­ten, führ­te ent­ge­gen den Erwar­tun­gen der For­schen­den nicht zu grös­se­rem Ver­ständ­nis für die Gegen­po­si­ti­on, son­dern zu stär­ke­rer poli­ti­scher Pola­ri­sie­rung. Zudem kön­nen sich jene, die Social Media nut­zen, als Anony­me der Ver­ant­wor­tung für ihre Aus­sa­gen ent­zie­hen. Falsch­mel­dun­gen, per­sön­li­che Ver­un­glimp­fun­gen etc. wer­den dann zum Teil des Spiels. Ohne die direk­te Ver­ant­wort­lich­keit und das Gera­de­ste­hen für die eige­ne Posi­ti­on feh­len im digi­ta­len Raum der Social Media jene zen­tra­le Vor­aus­set­zung für eine deli­be­ra­ti­ve Mei­nungs­bil­dung, die der Demo­kra­tie ange­mes­sen wäre: die argu­men­ta­ti­ve und sach­be­zo­ge­ne Aus­ein­an­der­set­zung unter den Ver­tre­te­rin­nen der ver­schie­de­nen poli­ti­schen Posi­tio­nen und der lern­fä­hi­ge Dia­log auf der Suche nach prak­ti­schen Lösungen.

Wenig zur Kennt­nis genom­men wird sodann die Pro­ble­ma­tik all jener Platt­for­men poli­ti­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on, die kei­ne redak­tio­nel­le Ver­ant­wor­tung über­neh­men, son­dern sich nur noch als «Bro­ker» in der Ver­mitt­lung von Inhal­ten Drit­ter ver­ste­hen. Was dabei Teil der öffent­li­chen Mei­nung wird, bestimmt sich nicht mehr nach Kri­te­ri­en poli­ti­scher Rele­vanz. Viel­mehr geschieht die Nach­rich­ten­aus­wahl auf der Basis von Algo­rith­men mit dem kom­mer­zi­el­len Ziel, mög­lichst vie­le Nut­zer mög­lichst oft und mög­lichst lan­ge auf der ange­wähl­ten Platt­form zu halten.

Die Digi­ta­li­sie­rung der Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Ent­schei­dungs­pro­zes­se ist des­halb für die Demo­kra­tie von gros­ser Ambi­va­lenz. Unbe­streit­bar erbrin­gen vie­le digi­ta­le Platt­for­men mehr Infor­ma­tio­nen für die Wäh­ler­schaft, so wie z.B. «Smart­vo­te»: Der Vor­teil, über die Hoch­glanz­fo­tos der Kan­di­da­ten hin­aus auch deren poli­ti­schen Prä­fe­ren­zen zu erfah­ren und mit den eige­nen zu ver­glei­chen, liegt auf der Hand.

Was dage­gen E‑Voting und «rei­nes» E‑Collecting an Vor­tei­len für die direk­te Demo­kra­tie brin­gen, bleibt zwei­fel­haft. Gros­se Fra­gen stel­len sich mit Blick auf die der­zei­ti­gen Struk­tur­ver­än­de­run­gen öffent­li­cher Mei­nung. Zwar wäre es falsch, die Phä­no­me­ne des Popu­lis­mus oder der Pola­ri­sie­rung den Social Media anzu­hän­gen. Was aber bedeu­tet es, wenn die öffent­li­che Mei­nung in Bub­bles zer­fällt, in denen man sich nur die eige­ne Mei­nung bestä­tigt? Wie weit gefähr­den Social Media, mit ihren Anfäl­lig­kei­ten für fake news, Hass­re­den und Skan­da­li­sie­run­gen die Mei­nungs­bil­dung im öffent­li­chen Raum? Wie weit ver­drän­gen digi­ta­le Bub­bles jene Aus­ein­an­der­set­zung im öffent­li­chen Raum, in wel­chem die Stimm­bür­ger­schaft bis­lang ihr Wis­sen für die kom­ple­xen Fra­gen von wirt­schaft­li­chen und sozia­len Pro­ble­men erwer­ben und ver­bes­sern, prü­fen und schär­fen konnte?

Vier Thesen, damit direkte Demokratie funktioniert

Die Digi­ta­li­sie­rung wird durch die trans­na­tio­na­le Platt­form-Öko­no­mie von Gross­kon­zer­nen und Unter­neh­men vor­an­ge­trie­ben, die auf der Suche nach ren­ta­blen neu­en Geschäfts­fel­dern sind. Deren Inno­va­tio­nen unbe­se­hen auf die Demo­kra­tie über­tra­gen zu wol­len ist des­halb falsch und naiv. Wir müs­sen die Fra­ge umkeh­ren und auf den Kopf stel­len: Wel­che Digi­ta­li­sie­rung brau­chen wir, damit unse­re direk­te Demo­kra­tie wei­ter­hin funktioniert?

Dazu vier Thesen.

  1. «Bil­li­ger, schnel­ler und mehr» ist die Devi­se kom­mer­zi­el­ler Digi­ta­li­sie­rung, aber kein emp­feh­lens­wer­ter Leit­satz für bes­se­re Demo­kra­tie. Aus­ein­an­der­set­zung mit neu­en Ideen, Dia­log und Lern­be­reit­schaft in poli­ti­schen Streit­fra­gen brau­chen alle­samt Zeit. Die­se dür­fen nicht der Digi­ta­li­sie­rung geop­fert werden.
  2. «Mehr Par­ti­zi­pa­ti­on für alle» ist ein irre­füh­ren­der, weil ver­kürz­ter Leit­satz. Wah­len sind die ein­fachs­te und chan­cen­gleichs­te Form der Par­ti­zi­pa­ti­on. Kom­ple­xe­re For­men der Betei­li­gung, wie z. B. jene an Ver­bands- und Par­tei­gre­mi­en oder in Bür­ger­initia­ti­ven über­stei­gen jedoch die Bereit­schaft, oft auch die Fähig­kei­ten vie­ler Bür­ger und hän­gen von deren Res­sour­cen ab. Digi­ta­li­sie­rungs­pro­jek­te soll­ten des­halb nicht pri­mär auf «mehr», son­dern auf «bes­se­re» Par­ti­zi­pa­ti­on zie­len. Also z.B. die ein­sei­ti­ge Zusam­men­set­zung von Bür­ger­initia­ti­ven kor­ri­gie­ren, in denen die Mit­tel­schich­ten den Ton ange­ben, wäh­rend die Unter­schich­ten weit­ge­hend fehlen.
  3. Ein Teil der Sozia­len Medi­en wider­spricht den Anfor­de­run­gen des demo­kra­ti­schen Dia­logs. Mit Fake news, Hate spee­ches, der Bla­sen­bil­dung und der maschi­nel­len Nach­rich­ten­aus­wahl über Algo­rith­men spie­len Bro­ker-Platt­for­men eine zwie­späl­ti­ge Rol­le in der öffent­li­chen Mei­nungs­bil­dung. Redak­tio­nell ver­ant­wor­te­te Medi­en zu stär­ken, soll­te daher — unge­ach­tet ihrer klas­si­schen oder digi­ta­len Form der Ver­brei­tung — ein zen­tra­les Anlie­gen der Medi­en­po­li­tik werden.
  4. Sozia­le Medi­en erwei­tern die Mög­lich­kei­ten poli­ti­scher Mobi­li­sie­rung beträcht­lich, wäh­rend sie in heu­ti­ger Form die Dia­log­be­reit­schaft und ‑fähig­keit sen­ken. Dass unse­re Abstim­mungs­de­mo­kra­tie nicht zur Stim­mungs­de­mo­kra­tie miss­rät, ver­dan­ken wir einer poli­ti­schen Kul­tur aus dem vor-digi­ta­len Zeit­al­ter. Tra­gen wir Sor­ge zu ihr.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des Buch­ka­pi­tels «Zur Ambi­va­lenz der Digi­ta­li­sie­rung direk­ter Demo­kra­tie», in: Schaub Hans-Peter/­Bühl­mann Marc (Hrsg.). Direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz, Neue Erkennt­nis­se aus der Abstim­mungs­for­schung. Zürich: Seis­mo. S. 69 – 95.

Bild: unsplash.com

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