Der Einfluss von Multipack-Abstimmungen auf die Entscheidungsqualität

Stimm­be­rech­tig­te befin­den immer häu­fi­ger über meh­re­re Geschäf­te an einem Abstim­mungs­sonn­tag. Dabei ist es aber meist eine ein­zel­ne Vor­la­ge, die das Stimm­volk an die Urne lockt. Wel­chen Ein­fluss hat dies auf die Entscheidungsqualität?

Das Schwei­zer Stimm­volk hat regel­mäs­sig über Sach­fra­gen zu befin­den. Indes, sel­ten ein­mal gelan­gen die­se Sach­fra­gen ein­zeln zur Abstim­mung. Viel­mehr wer­den an einem Abstim­mungs­wo­chen­en­de oft­mals meh­re­re Geschäf­te gleich­zei­tig vor­ge­legt. Die Betei­li­gungs­quo­ten der ein­zel­nen Vor­la­gen eines sol­chen «Mul­ti­packs» unter­schei­den sich hin­ge­gen nur sehr geringfügig.

Anders gesagt: Wer teil­nimmt, füllt meist alle Stimm­zet­tel des Abstim­mungs­wo­chen­en­des aus. Anzu­neh­men ist jedoch, dass nicht alle Vor­la­gen eines Abstim­mungs­wo­chen­en­des in glei­chem Aus­mass inter­es­sie­ren. Häu­fig dürf­te es eine, ganz bestimm­te Vor­la­ge sein, wel­che das Stimm­volk an die Urne lockt. Mit die­ser «Loko­mo­tiv­vor­la­ge» — der Begriff «Loko­mo­ti­ve» wur­de gewählt, weil es die Vor­la­ge ist, wel­che zur Urne treibt und wel­che gleich­zei­tig die rest­li­chen Vor­la­gen mit schwa­chem Betei­li­gungs­mo­tor gleich­sam hin­ter sich her­zieht – set­zen sich die Stim­men­den ver­mut­lich inten­siv aus­ein­an­der. Mit den rest­li­chen Vor­la­gen beschäf­tigt man sich indes­sen nur flüchtig.

Wenn die­se Annah­me stimmt, dann hat die (oft­mals) zufäl­li­ge, abstim­mungs­ter­min­be­ding­te Kom­bi­na­ti­on von Vor­la­gen mög­li­cher­wei­se einen Effekt auf das Abstim­mungs­er­geb­nis. Die­se Ver­mu­tung ist weder neu noch beson­ders ori­gi­nell. Gera­de erst kürz­lich, bei der Abstim­mung über das CO2-Gesetz, wur­de just die­se Ver­mu­tung von vie­len poli­ti­schen Beob­ach­tern geäus­sert: Weil die Geset­zes­re­vi­si­on zusam­men mit zwei, die Land­be­völ­ke­rung stark mobi­li­sie­ren­den Agrar­in­itia­ti­ven vor­ge­legt wur­de, sei sie knapp gescheitert.

Haben Mul­ti­pack-Abstim­mun­gen einen Ein­fluss auf das Ergeb­nis an der Urne? Im Bei­trag geht es nicht um das Ergeb­nis als sol­ches – dazu wären kon­tra­fak­ti­sche Simu­la­tio­nen nötig – son­dern um die Ent­schei­dungs­qua­li­tät. Die Ent­schei­dungs­qua­li­tät wird vom Mei­nungs­bil­dungs­pro­zess bestimmt, wel­cher dem Ent­scheid vor­ge­la­gert ist. Sie schlägt sich in diver­sen, auch mess­ba­ren Eigen­schaf­ten nieder:

  • Das Aus­mass des Vorlagenwissens
  • Die Fähig­keit, den Ent­scheid auch inhalts­be­zo­gen begrün­den zu können
  • Die Fähig­keit, sei­ne sach­po­li­ti­schen Prä­fe­ren­zen auch in einen ent­spre­chen­den Ent­scheid umzu­set­zen («Cor­rect Voting»)
  • Das Aus­mass der Entscheidambivalenz

Die­se vier Teil­in­di­ka­to­ren wur­den sodann zu einem Index der Ent­schei­dungs­qua­li­tät zusam­men­ge­fasst. Zunächst wur­de mit deskrip­ti­ven Sta­tis­ti­ken (Kas­ten­dia­gram­me) über­prüft, ob sich die Ent­schei­dungs­qua­li­tät zwi­schen «Loko­mo­tiv­vor­la­gen» und Vor­la­gen, die zusam­men mit einer Loko­mo­tiv­vor­la­ge abge­stimmt wur­den, unterscheidet.

Tat­säch­lich ist ein signi­fi­kan­ter Unter­schied zu erken­nen. Die inhalt­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit Loko­mo­tiv­vor­la­gen ist in aller Regel höher als jene mit «Zugwagen»-Vorlagen. Inter­es­sant ist über­dies, dass die Ent­schei­dungs­qua­li­tät der Zug­wa­gen-Vor­la­gen nicht von der Vor­la­gen­an­zahl abhän­gig zu sein scheint. Stimm­mü­dig­keit, in der eng­lisch­spra­chi­gen Fach­li­te­ra­tur als «voter fati­gue» bezeich­net, ist offen­bar nicht das zen­tra­le Pro­blem von Mul­ti­pack-Abstim­mun­gen: Die inhalt­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit Vor­la­gen nimmt nicht auto­ma­tisch ab, je höher die Zahl der Vor­la­gen an einem Abstim­mungs­wo­chen­en­de. Rele­vant ist indes­sen, ob eine Vor­la­ge hohe Rei­zwir­kung hat­te, also eine der Betei­li­gungs­lo­ko­mo­ti­ven war, oder ob sie im Schlepp­tau der Loko­mo­tiv­vor­la­ge hin­ter­her­ge­zo­gen wurde.

Die Schät­zung eines Mul­ti­le­vel-Modells bestä­tigt die deskrip­ti­ven Befun­de. Die Ent­schei­dungs­qua­li­tät lei­det unter der Teil­nah­me von Gele­gen­heits­stim­men­den. Ahnungs­lo­sig­keit betref­fend Inhalt der Vor­la­ge, direk­te Umset­zung von Emp­feh­lun­gen und Ent­schei­de, die mit den eigent­li­chen Sach­fra­gen­prä­fe­ren­zen nicht über­ein­stim­men, neh­men zu.

Aber: Die Zunah­me ist nicht dra­ma­tisch und eines der über­ra­schen­den Resul­ta­te die­ser Unter­su­chung besteht dar­in, dass vie­le Stimm­be­rech­tig­te selbst bei ungüns­ti­gen Bedin­gun­gen (vie­le, zum Teil kom­ple­xe und unver­trau­te Sach­fra­gen an einem Urnen­gang) nach wie vor imstan­de sind, einen zumin­dest halb­wegs infor­mier­ten und inter­es­sen­ge­lei­te­ten Stimm­ent­scheid zu fäl­len. Aber auch wenn sich die Qua­li­täts­ein­bus­sen beim Stimm­ent­scheid im Rah­men hal­ten, so sind sol­che doch erkenn­bar. Und sie haben mög­li­cher­wei­se Aus­wir­kun­gen auf das Ergeb­nis einer Volks­ab­stim­mung. So steigt bei grös­se­ren Mul­ti­packs die Gefahr, dass es bei ins­ge­samt knap­pen Mehr­heits­ver­hält­nis­sen die Schlecht­in­for­mier­ten sind, die den Aus­schlag für die eine oder die ande­re Sei­te geben.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des Buch­ka­pi­tels «Der Ein­fluss von «Mul­ti­pack-Abstim­mun­gen» auf die Ent­schei­dungs­qua­li­tät», in: Schaub Hans-Peter/­Bühl­mann Marc (Hrsg.). Direk­te Demo­kra­tie in der Schweiz, Neue Erkennt­nis­se aus der Abstim­mungs­for­schung. Zürich 2022, S. 97 – 116.

Bild: wiki­me­dia commons

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