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Direkte Demokratie in der Schweiz: Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung

Hans-Peter Schaub, Marc Bühlmann
23rd September 2022

Ist die direkte Demokratie in der Schweiz dysfunktional und anfällig für Manipulationen? Entfaltet sie eher spaltende oder integrierende Wirkungen? Und wird die Lösungsfindung für wichtige Probleme durch die direkte Demokratie eher blockiert oder gefördert? Zu diesen und vielen weiteren Fragen liefert unser neuer Sammelband vertiefte und innovative Einsichten. In der DeFacto-Serie «Direkte Demokratie in der Schweiz» geben die Autor:innen der einzelnen Kapitel einen Überblick über ihre wichtigsten Befunde.

Die direkte Demokratie stösst an ihre Grenzen: Die Menge und Komplexität der Vorlagen überfordert die Stimmberechtigten, Mehrheitsentscheide fördern Spaltung und Ausschluss statt Integration, und die aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden Spielregeln behindern die Lösung dringlicher Probleme! Solche und ähnliche Kassandrarufe erschallten in den letzten Jahren oft. Sie stützen sich auf Beispiele, die in der Tat Unbehagen wecken: Ist eine seriöse Meinungsbildung möglich, wenn gleichzeitig über mehrere hochkomplexe Vorlagen abgestimmt werden muss und das «Abstimmungsbüchlein» wie im Juni 2021 über 140 Seiten umfasst? Hat das damalige Nein zum CO2-Gesetz nicht auch gezeigt, dass die Kombination mit anderen Themen (Trinkwasser- und Pestizidinitiative) Abstimmungsresultate beeinflusst? Und vertiefte ebendiese Abstimmung nicht auf bedrohliche Weise den Stadt-Land-Graben? Und mehr noch: Ist dieses Nein zu einer Klimaschutzvorlage nicht ein Zeichen dafür, dass die direkte Demokratie bei dringenden Problemen viel zu langsam ist und Lösungen blockiert?

Der kürzlich erschienene und Open Access verfügbare Sammelband «Direkte Demokratie in der Schweiz» nimmt solche Bedenken auf. Neun Beiträge konfrontieren die aus anekdotischer Evidenz genährte Kritik an der direkten Demokratie mit wissenschaftlich-analytischen Betrachtungen und werten die Volksabstimmungen der letzten Jahrzehnte systematisch aus. Sie untersuchen unter anderem drei grosse Fragen zur direkten Demokratie in der Schweiz:

  • Ist sie anfällig für Manipulationen?
  • Entfaltet sie eher spaltende oder integrierende Wirkungen?
  • Bremst oder fördert sie die Lösungsfindung für wichtige Probleme?

Die Beiträge helfen nicht nur, den Blick von prominenten und extremen Einzelfällen zu lösen und auf das grosse Ganze zu richten, sondern mit ihren innovativen Herangehensweisen liefern sie auch neue Erkenntnisse für die Abstimmungsforschung.

Differenzierte Erkenntnisse

Freilich können die Beiträge – trotz oder gerade wegen ihrer umfassenden Untersuchung der politischen Realität – keine abschliessenden Urteile über Manipulierbarkeit, Integrationskraft und Problemlösungsfähigkeit der direkten Demokratie abgeben. Es finden sich etwa durchaus Hinweise dafür, dass eine grosse Zahl von (nationalen und kommunalen) Vorlagen am gleichen Abstimmungssonntag zu einer oberflächlicheren und weniger reflektierten Meinungsbildung führt, dass es für eine erfolgreiche Lancierung von Initiativen und insbesondere Referenden Ressourcen und politische Expertise etablierter Akteur:innen braucht, dass sprachliche Minderheiten auch an der Urne häufiger in der Minderheit bleiben, dass es Anliegen von nicht integrierten Minderheiten schwer haben, Gehör zu finden, oder dass die direkte Demokratie oft bremsende Wirkung entfaltet.

Insgesamt legt der Sammelband aber nahe, dass es bei weitem nicht so schlecht bestellt ist um die direkte Demokratie, wie dies extreme Einzelbeispiele vermuten lassen. Die Beiträge zeigen vielmehr auch auf, dass die Anfälligkeit für Manipulationen höchstens moderat ist, dass die direkte Demokratie vor allem in sprachlicher und regionaler Hinsicht und über längere Zeit betrachtet einige Integrationskraft aufweist und dass von ihr durchaus auch wichtige Impulse für die politische Bearbeitung von Problemen ausgehen.

Die Wissenschaft kann und soll keine Fakten schaffen, mit denen aus anekdotischen Beispielen genährte Bedenken oder Idealisierungen ein für allemal entkräftet werden könnten. Wissenschaftliche Forschung ermöglicht es aber – auch das illustrieren die Beiträge in diesem Sammelband –, sich auf die Schultern von Ries:innen zu stellen. Von dort aus gelingt es besser, den ganzen Wald zu überblicken und sich den Blick nicht von einzelnen Bäumen verstellen zu lassen. Im Fall der direkten Demokratie in der Schweiz ist dieser Wald farbenreich, vielschichtig und – allerdings mit Abstrichen – ziemlich gesund.


Fragestellungen, Beiträge und Befunde in der Übersicht

Fragen zur Manipulierbarkeit: Sind die direktdemokratischen Institutionen anfällig für Missbrauch? Begünstigen sie eine einseitige Einflussnahme mächtiger und ressourcenstarker Akteur:innen? Oder funktionieren sie blind gegenüber Themen, Kontext und Urheber:innen und sind darum ein vertrauenswürdiges Vehikel für politischen Dialog und für wohlinformierte, breit abgestützte Entscheide? Entfalten Abstimmungen eher manipulative oder aufklärende Wirkung?

Beitrag von Kritische Befunde Positive Befunde
Martina Flick Witzig und Adrian Vatter • Durch (Nicht-)Zusammenlegung kommunaler Abstimmungstermine mit nationalen Vorlagen können Gemeindebehörden die Beteiligung und potenziell den Ausgang von Abstimmungen beeinflussen • Eine themenspezifische Mobilisierung kann nicht festgestellt werden; nicht abstrakte politische Themen mobilisieren, sondern konkrete Vorlagen
Thomas Milic • Multipack-Abstimmungen gehen mit Qualitätseinbussen bei der Meinungsbildung einher • Qualität des Stimmentscheides bleibt auch bei hoher Beteiligung sowie bei zahlreichen und komplexen Vorlagen am gleichen Urnengang insgesamt hoch
Philippe Rochat, Thomas Milic und Nadja Braun Binder • In 2/3 aller Komitees, die Initiativen lancieren, sitzt mindestens 1 Parlamentsmitglied

• Initiativkomitees ohne Parlamentsmitglieder scheitern weit häufiger an den Unterschriftenhürden

• Parlamentsmitglieder sitzen nicht nur in Parteikomitees, sondern helfen mit ihrer Expertise auch Verbänden und Bürgergruppen, Initiativen erfolgreich zu lancieren

• Auch nicht parteilich oder verbandlich organisierte Gruppen nutzen direkte Demokratie erfolgreich

Hans-Peter Schaub und Karin Frick • Bei Referenden sagt die Unterschriftensammlung nichts darüber aus, welche politische Relevanz eine Vorlage hat; dies stellt die Eignung der Unterschriftensammlung als Filter in Frage

• Ressourcen sind möglicherweise entscheidender als Inhalte, um erfolgreich ein Referendum zu ergreifen

• Unterschriftensammlung bei Volksinitiativen ist verlässlicher Indikator für politische Relevanz einer Forderung

• Sammelerfolg bei Initiativen (im Gegensatz zu Referenden) scheint somit weniger stark von Organisationsfähigkeit der Komitees und stärker von Inhalten abhängig

Wolf Linder • Digitalisierung kann zu Überlastung des politischen Systems führen    
   

 

Fragen zur Integrationskraft: Wie steht es um die Integrationskraft direktdemokratischer Institutionen? Haben Abstimmungen eher einen spaltenden oder einen einenden Effekt auf die Gesellschaft?

   
Beitrag von   
Kritische Befunde Positive Befunde
Sean Mueller und Anja Heidelberger • Abstimmungen machen Sprachgräben deutlich

• Auch nach Jahrzehnten in einem gemeinsamen Bundesstaat tut sich der Röstigraben regelmässig auf

• Durch Abstimmungen sichtbar gemachte Unterschiede können diskutiert werden

• Sämtliche Kantone sind meistens im Lager der Gewinner

• Nur bei 5 von über 650 Abstimmungen kommt es zu einem «perfekten» Sprachgraben (alle Kantone der Romandie gegen alle Kantone der Deutschschweiz)

• In Brückenkantonen sind lokale Sprachdifferenzen geringer

Julien Jaquet und Pascal Sciarini • Französischsprachige Kantone und der Kanton Tessin sind häufiger in der Minderheit als Deutschschweizer Kantone • Sämtliche Kantone sind meistens im Lager der Gewinner
Wolf Linder • Abstimmungskämpfe mobilisieren stets auch Interessengegensätze zwischen unterschiedlichen Gruppen; Digitalisierung kann für zunehmende Emotionalisierung sorgen

• Dialog kann durch Filterblasen sozialer Medien erschwert werden

• Geschwindigkeit digitalisierter Kommunikation kann negative Auswirkungen auf Diskursqualität haben

• Digitalisierung der Demokratie hilft bereits überrepräsentierten Gruppen

   
   
Isabelle Stadelmann-Steffen und Sophie Ruprecht    
   

• Gesellschaftliche Veränderungen können nachhaltiger sein und höhere Legitimation haben, wenn sie häufig direktdemokratisch diskutiert werden müssen; fortdauernder direktdemokratischer Dialog kann zu Integration führen

Anja Heidelberger und Marlène Gerber • Integration setzt politische Rechte voraus; wer nicht über solche verfügt (z.B. Frauenstimmrecht), wird vom Dialog ausgeschlossen   
   

 

 

Fragen zur Problemlösungsfähigkeit: Behindert die direkte Demokratie die Lösung wichtiger Probleme, oder bietet sie im Gegenteil geeignete Instrumente, um die heutigen Herausforderungen anzugehen? Braucht es dafür Anpassungen der aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden Spielregeln?

   
Beitrag von   
Kritische Befunde Positive Befunde
Anja Heidelberger und Marlène Gerber • Direkte Demokratie erlaubt lediglich kleine Schritte: Zahlreiche Reformen hin zu mehr Gleichstellung wurden durch die direkte Demokratie verhindert oder verzögert

• Integration setzt politische Rechte voraus; wer nicht über solche verfügt (z.B. Frauenstimmrecht), wird vom Dialog ausgeschlossen

• Direkte Demokratie kann den steten Tropfen begünstigen, der letztlich den Stein höhlt; die Bedeutung eines Themas kann mit direktdemokratischen Instrumenten verdeutlicht und auf der Agenda gehalten werden

• Direkte Demokratie diente auch zur Verteidigung einmal errungener Erfolge

• Wichtige gleichstellungspolitische Reformen des Parlaments wurden durch Volksinitiativen angestossen

Isabelle Stadelmann-Steffen und Sophie Ruprecht • Direkte Demokratie erlaubt lediglich kleine Schritte: Rasche und wirksame Problemlösungen in Umwelt- und Klimapolitik werden in der Regel erschwert

• Vorlagen für konkrete Verhaltensänderungen und Abgabenerhöhungen scheitern öfter als allgemeine Strategien und Subventionserhöhungen

• Direkte Demokratie hat umweltpolitische Debatten auch dynamisiert, unter anderem mit erfolgreichen Volksinitiativen

• Vernachlässigte Themen haben dank direkter Demokratie eine Chance, in die politische Arena zu gelangen


Referenz:

Schaub, Hans-Peter und Marc Bühlmann (2022). Direkte Demokratie in der Schweiz. Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung. Zürich: Seismo.

Sammelband mit Beiträgen von Nadja Braun Binder, Marc Bühlmann, Martina Flick Witzig, Karin Frick, Marlène Gerber, Anja Heidelberger, Julien Jaquet, Bruno Kaufmann, Wolf Linder, Thomas Milic, Sean Mueller, Philippe E. Rochat, Sophie Ruprecht, Hans-Peter Schaub, Adrian Schmid, Pascal Sciarini, Isabelle Stadelmann-Steffen, Adrian Vatter.