Alles über die Wahlen 2019

Die natio­na­len Wah­len 2019 in der Schweiz gehen als «grü­ne Wel­le» und «Frau­en­wahl» in die Geschichts­bü­cher ein. Die Grü­nen und Grün­li­be­ra­len leg­ten stark an Stim­men zu und gin­gen als kla­re Sie­ge­rin­nen aus den Wah­len her­vor. Die Grü­ne Par­tei lös­te nicht nur die Christ­de­mo­kra­ten (CVP) als viert­gröss­te Par­tei ab, son­dern rea­li­sier­te auch den gröss­ten Sitz­ge­winn einer Par­tei im Natio­nal­rat (+17 Sit­ze) seit Ein­füh­rung des Pro­porz­wahl­rechts im Jahr 1918. Der Frau­en­an­teil im Natio­nal­rat erreich­te mit 42 Pro­zent einen his­to­ri­schen Wert, der deut­lich über dem euro­päi­schen Durch­schnitt liegt. Unter den Neu­ge­wähl­ten stell­ten die Frau­en sogar eine Mehrheit.

Die im Som­mer erschie­ne­ne Son­der­num­mer der Schwei­ze­ri­schen Zeit­schrift für Poli­tik­wis­sen­schaft zu den Wah­len 2019 ver­sam­melt elf inno­va­ti­ve Arti­kel, wel­che die Natio­nal- und Stän­de­rats­wah­len basie­rend auf Daten aus der Schwei­zer Wahl­stu­die Selects aus ver­schie­de­nen Blick­win­keln beleuch­ten. Zu den meis­ten Bei­trä­gen lie­gen Kurz­fas­sun­gen vor, wel­che auf DeFac­to ver­öf­fent­licht werden.

Drei Themenblöcke

Die Bei­trä­ge decken drei gros­se The­men­be­rei­che ab. Ers­tens befasst sich eine Rei­he von Arti­keln mit der Rol­le von poli­ti­schen The­men, ins­be­son­de­re des The­men­be­sit­zes (Issue Owners­hip) und der The­men­kom­pe­tenz. Aus Sicht der Par­tei­en zei­gen Lüth und Schaf­fer (2022) auf, dass Umwelt­the­men einer­seits pola­ri­sier­ter wur­den und sie ande­rer­seits für Par­tei­en aus dem rech­ten Spek­trum an Bedeu­tung gewannen.

Gilar­di et al. (2022) legen dar, dass die The­me­na­gen­den der Par­tei­en in den sozia­len Medi­en nur schwach mit der The­men­set­zung in den tra­di­tio­nel­len Medi­en zusam­men­hängt, wäh­rend Bor­geat (2022) zum Schluss kommt, dass Par­tei­en ihre The­me­nagen­da nach den Prä­fe­ren­zen ihrer poten­ti­el­len Wähler·innen aus­rich­ten, um ihre Wäh­ler­schaft auszuweiten.

Aus Sicht der Wäh­len­den argu­men­tie­ren Petit­pas und Scia­ri­ni (2022), dass die wahr­ge­nom­me­ne The­men­kom­pe­tenz der Par­tei­en einen grös­se­ren Ein­fluss auf die Wahl­ent­schei­dung zwi­schen zwei ideo­lo­gisch nahe­ste­hen­den Par­tei­en wie den Sozi­al­de­mo­kra­ten und den Grü­nen aus­übt als die ideo­lo­gi­schen Posi­tio­nen der Par­tei­en. Mar­quis und Tresch (2022) zei­gen auf, dass die The­men­kom­pe­tenz den Wahl­ent­scheid vor allem dann beein­flusst, wenn die­se Kom­pe­tenz­zu­schrei­bun­gen schnell erfol­gen, d.h. wenn sie zugäng­lich sind.

Eine zwei­te Grup­pe von Bei­trä­gen setzt sich mit Fra­gen der inter­na­tio­na­len Zusam­men­ar­beit und Migra­ti­on aus­ein­an­der. Laue­ner et al. (2022) unter­su­chen dabei die Prä­fe­ren­zen der Wäh­len­den im Span­nungs­feld zwi­schen wei­te­ren euro­päi­schen Inte­gra­ti­ons­schrit­ten und der Kon­trol­le des Arbeits­mark­tes bzw. der Beschrän­kung der Ein­wan­de­rung, wäh­rend Laue­ner (2022) ana­ly­siert, inwie­fern die Ein­stel­lun­gen der Kan­di­die­ren­den ver­schie­de­ner Par­tei­en zu ver­schie­de­nen Aspek­ten der Euro­pa­po­li­tik mit den Prä­fe­ren­zen ihrer jewei­li­gen Par­tei­wäh­ler­schaf­ten über­ein­stim­men. Cama­tar­ri et al. (2022) fra­gen, ob die Wahl­ent­schei­dung von Wäh­len­den mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund und von Ein­hei­mi­schen von unter­schied­li­chen Fak­to­ren geprägt wird.

Die drit­te Grup­pe von Bei­trä­gen unter­sucht ande­re, nicht the­men­be­zo­ge­ne Aspek­te des Wahl­kamp­fes und Wahl­ver­hal­tens. Nai et al. (2022) gehen dabei der Fra­ge nach, ob Wahlkampfberater·innen nega­ti­ve Wahl­kam­pa­gnen auf die Per­sön­lich­keit ihrer Kan­di­der­en­den zuschnei­den und ob die­ser indi­vi­du­el­le «Zuschnitt» den Wahl­er­folg beeinflusst.

Giger et al. (2022) unter­su­chen die Rol­le von ver­schie­de­nen Erklä­rungs­fak­to­ren für den Wahl­er­folg der Frau­en bei den Wah­len 2019 und kom­men zum Schluss, dass es sich dabei um ein Zusam­men­spiel von Fak­to­ren auf der Ange­bots­sei­te (mehr Frau­en auf guten Lis­ten­po­si­tio­nen, Wahl­er­folg lin­ker Par­tei­en) und der Nach­fra­ge­sei­te (gestie­ge­ne Bereit­schaft der Wäh­len­den, bei glei­cher Kom­pe­tenz eine Frau zu wäh­len) handelt.

Acker­mann und Sta­del­mann-Stef­fen (2022) unter­su­chen schliess­lich, ob online aus­ge­üb­te poli­ti­sche Akti­vi­tä­ten dazu füh­ren, dass Men­schen weni­ger offen für ande­re Mei­nun­gen sind und daher weni­ger von der Mög­lich­keit des Stim­men­split­tings (d.h. Kan­di­die­ren­de ver­schie­de­ner Par­tei­en auf einen Wahl­zet­tel zu schrei­ben) Gebrauch machen.

25 Jahre universitäre Wahlforschung in der Schweiz

Die Diver­si­tät der theo­re­ti­schen Ansät­ze in den Bei­trä­gen zu den Wah­len 2019 ist kenn­zeich­nend für die letz­ten 25 Jah­re der Schwei­zer Wahl­for­schung. Die uni­ver­si­tä­re Wahl­for­schung in der Schweiz hat 1995 mit der Grün­dung der Schwei­zer Wahl­stu­die Selects Schwung auf­ge­nom­men. Seit 2008 ist Selects Teil der For­schungs­in­fra­struk­tur am Schwei­zer Kom­pe­tenz­zen­trum Sozi­al­wis­sen­schaf­ten (FORS) in Lau­sanne. Zur klas­si­schen Nach­wahl­be­fra­gung der Wäh­len­den kamen mit der Zeit auch eine Panel­be­fra­gung der Wäh­len­den, eine Kan­di­die­ren­den­be­fra­gung sowie eine Medi­en­stu­die hinzu.

Letz­te­re wur­de 2019 erst­mals um eine Ana­ly­se der Wahl­kampf­kom­mu­ni­ka­ti­on der Kan­di­die­ren­den und Par­tei­en in den sozia­len Medi­en ergänzt. Die­se breit ange­leg­te Daten­er­he­bung erlaubt den For­schen­den eine umfas­sen­de Sicht auf die natio­na­len Wah­len. Stu­di­en stüt­zen sich häu­fig nicht mehr nur auf Wäh­ler­be­fra­gun­gen, son­dern begrei­fen die Wah­len zuneh­mend als ein Zusam­men­spiel von Wäh­len­den, Par­tei­en, Kan­di­die­ren­den und Medi­en. So ver­knüp­fen denn auch in die­ser Son­der­num­mer ver­schie­de­ne Autoren meh­re­re Selects-Daten­sät­ze, so bei­spiels­wei­se Laue­ner (2022), um die Kon­gru­enz der poli­ti­schen Ein­stel­lun­gen von Kan­di­die­ren­den und Par­tei­wäh­ler­schaf­ten zu ermit­teln oder Gilar­di et al. (2022), um den Zusam­men­hang zwi­schen den The­men­set­zun­gen der Par­tei­en und Medi­en zu unter­su­chen. Ande­re wie­der­um kom­bi­nie­ren die Daten­sät­ze von Selects mit ande­ren Daten­quel­len, wie offi­zi­el­len Sta­tis­ti­ken (Giger et al., 2022), Par­tei­pro­gram­men (Lüth und Schaf­fer, 2022) oder Zei­tungs­in­se­ra­ten (Bor­geat, 2022)).

Die Daten der Schwei­zer Wahl­stu­die Selects erlau­ben sowohl die Unter­su­chung lang­fris­ti­ger Trends des Wahl­ver­hal­tens wie die wan­deln­de Bedeu­tung sozia­ler Kon­flikt­li­ni­en (z.B. Gold­berg, 2017; Renn­wald, 2015), als auch kurz­fris­ti­ger Dyna­mi­ken wäh­rend der Wahl­kam­pa­gne (in die­ser Son­der­num­mer, z.B. Petit­pas und Scia­ri­ni, 2022). Aus­ser­dem wer­den seit je her auch idio­syn­kra­ti­sche Ele­men­te spe­zi­fi­scher Wah­len unter­sucht. Dies ist auch in die­ser Son­der­num­mer der Fall, wie z.B. der Bei­trag von Giger et al., 2022 zur Frau­en­wahl zeigt.

Dabei muss auch der inter­na­tio­na­le Cha­rak­ter der Schwei­zer Wahl­for­schung her­vor­ge­ho­ben wer­den. Schwei­zer For­schen­de arbei­ten nicht iso­liert, son­dern grei­fen wich­ti­ge inhalt­li­che und metho­di­sche Debat­ten aus der inter­na­tio­na­len Lite­ra­tur auf. In der aktu­el­len Son­der­aus­ga­be fin­den sich zum Bei­spiel Arbei­ten, die Ant­wort­zei­ten von Umfra­gen als Mass für die Zugäng­lich­keit poli­ti­scher Ein­stel­lun­gen ein­be­zie­hen, im vor­lie­gen­den Fall die wahr­ge­nom­me­ne The­men­füh­rer­schaft der Par­tei­en (Mar­quis und Tresch, 2022), oder Stu­di­en, die sich mit poli­ti­schen Akti­vi­tä­ten in sozia­len Medi­en befas­sen (Acker­mann und Sta­del­mann-Stef­fen, 2022).

Selects hat sich im letz­ten Vier­tel­jahr­hun­dert lau­fend neu­en Trends ange­passt und ist durch die Betei­li­gung an inter­na­tio­na­len For­schungs­ko­ope­ra­tio­nen wie der Com­pa­ra­ti­ve Stu­dy of Elec­to­ral Sys­tems oder der Com­pa­ra­ti­ve Can­di­da­te Sur­vey auch for­mell an die inter­na­tio­na­le For­schung ange­bun­den. Dank der lang­fris­ti­gen Ein­bin­dung in die For­schungs­in­fra­struk­tur von FORS dürf­te es der Schwei­zer Wahl­stu­die gelin­gen, ihre Inno­va­ti­ons­kraft zu behal­ten und wei­ter­hin qua­li­ta­tiv hoch­ste­hen­de Daten zu erhe­ben, wel­che es erlau­ben, den Ein­fluss neu­er Her­aus­for­de­run­gen (wie die Digi­ta­li­sie­rung von Kam­pa­gnen oder der stei­gen­de Online-Nach­rich­ten­kon­sum) auf das Wahl­ver­hal­ten zu untersuchen.

Die Schwei­zer Wahl­stu­die Selects

Seit 1995 unter­sucht die Schwei­zer Wahl­stu­die Selects die Grün­de für die Wahl­teil­nah­me und den Wahl­ent­scheid an eid­ge­nös­si­schen Wah­len. Im Rah­men von Selects 2019 wur­den ver­schie­de­ne Erhe­bun­gen durch­ge­führt, wel­che die Daten­grund­la­ge der Arti­kel in der Son­der­num­mer bilden:

  • In einer Nach­wahl­be­fra­gung wur­den ins­ge­samt 6’664 Wahl­be­rech­tig­te per Inter­net oder Papier­fra­ge­bo­gen befragt. Es han­delt sich um eine kan­to­nal geschich­te­te Stich­pro­be, in der die klei­nen Kan­to­ne über­re­prä­sen­tiert sind, sowie drei Kan­to­ne (Genf, Tes­sin, Zürich) zusätz­lich auf­ge­stockt wurden.
  • In einer Panel­be­fra­gung basie­rend auf einer gesamt­schwei­ze­ri­schen Zufalls­stich­pro­be wur­den im Wahl­jahr 2019 die­sel­ben Wahl­be­rech­tig­ten drei­mal befragt (Vor­kam­pa­gnen-Wel­le mit 7’939 befrag­ten Per­so­nen im Mai/Juni 2019; Kam­pa­gnen-Wel­le mit 5’577 befrag­ten Per­so­nen im September/Oktober 2019; Nach­wahl-Wel­le mit 5’125 befrag­ten Per­so­nen im Oktober/November 2019). Die Panel­stu­die wird seit­her mit jähr­li­chen Befra­gun­gen im Herbst fortgeführt.
  • Eine (sozia­le) Medi­en­ana­ly­se von 93 ver­schie­de­nen (print und online) Zei­tun­gen und News­sei­ten sowie von Twit­ter- und Face­book-Accounts der Kan­di­die­ren­den und Par­tei­en. Die­se Ana­ly­se wur­de im Autrag von Selects durch das Digi­tal Demo­cra­cy Lab der Uni­ver­si­tät Zürich durch­ge­führt. Sie erlaubt es, die wich­tigs­ten The­men und Akteu­re in der Wahl­kam­pa­gne zu identifizieren.
  • Eine Kan­di­die­ren­den­be­fra­gung per Inter­net oder Papier­fra­ge­bo­gen unter allen Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten für den Natio­nal- und Stän­de­rat, von denen 2’158 an der Umfra­ge teil­ge­nom­men haben. Die­se Befra­gung wur­de im Auf­trag von Selects durch polittools.net durchgeführt.

Die Schwei­zer Wahl­stu­die Selects wird vom Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds finan­ziert und ist am Schwei­zer Kom­pe­tenz­zen­trum für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten FORS beher­bergt. Alle Daten sind für wis­sen­schaft­li­che Zwe­cke auf der Platt­form SWIS­SUb­a­se frei zugäng­lich. Aus­ser­dem steht für fast alle Bei­trä­ge Repli­ka­ti­ons­ma­te­ri­al zur Verfügung.


Der Bei­trag basiert auf einem Son­der­heft der Schwei­ze­ri­schen Zeit­schrift für Poli­tik­wis­sen­schaft (Heft 28(2), 2022) mit fol­gen­dem Inhalt:

Refe­ren­zen:

  • Gold­berg, Andre­as (2017). The impact of clea­va­ges on Swiss voting beha­vi­or. A modern rese­arch approach. Cham: Sprin­ger.
  • Renn­wald, Line (2015). Par­tis socia­lis­tes et clas­se ouvriè­re. Rup­tures et con­ti­nui­tés du lien elec­to­ral en Suis­se, en Autri­che, en Allema­gne, en Gran­de-Bre­ta­gne et en Fran­ce (1970–2008). Neu­châ­tel : Alphil.
 
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