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Alles über die Wahlen 2019

Nathalie Giger, Denise Traber, Anke Tresch
23rd August 2022

Die nationalen Wahlen 2019 in der Schweiz gehen als «grüne Welle» und «Frauenwahl» in die Geschichtsbücher ein. Die Grünen und Grünliberalen legten stark an Stimmen zu und gingen als klare Siegerinnen aus den Wahlen hervor. Die Grüne Partei löste nicht nur die Christdemokraten (CVP) als viertgrösste Partei ab, sondern realisierte auch den grössten Sitzgewinn einer Partei im Nationalrat (+17 Sitze) seit Einführung des Proporzwahlrechts im Jahr 1918. Der Frauenanteil im Nationalrat erreichte mit 42 Prozent einen historischen Wert, der deutlich über dem europäischen Durchschnitt liegt. Unter den Neugewählten stellten die Frauen sogar eine Mehrheit.

Die im Sommer erschienene Sondernummer der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft zu den Wahlen 2019 versammelt elf innovative Artikel, welche die National- und Ständeratswahlen basierend auf Daten aus der Schweizer Wahlstudie Selects aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Zu den meisten Beiträgen liegen Kurzfassungen vor, welche auf DeFacto veröffentlicht werden.

Drei Themenblöcke

Die Beiträge decken drei grosse Themenbereiche ab. Erstens befasst sich eine Reihe von Artikeln mit der Rolle von politischen Themen, insbesondere des Themenbesitzes (Issue Ownership) und der Themenkompetenz. Aus Sicht der Parteien zeigen Lüth und Schaffer (2022) auf, dass Umweltthemen einerseits polarisierter wurden und sie andererseits für Parteien aus dem rechten Spektrum an Bedeutung gewannen.

Gilardi et al. (2022) legen dar, dass die Themenagenden der Parteien in den sozialen Medien nur schwach mit der Themensetzung in den traditionellen Medien zusammenhängt, während Borgeat (2022) zum Schluss kommt, dass Parteien ihre Themenagenda nach den Präferenzen ihrer potentiellen Wähler·innen ausrichten, um ihre Wählerschaft auszuweiten.

Aus Sicht der Wählenden argumentieren Petitpas und Sciarini (2022), dass die wahrgenommene Themenkompetenz der Parteien einen grösseren Einfluss auf die Wahlentscheidung zwischen zwei ideologisch nahestehenden Parteien wie den Sozialdemokraten und den Grünen ausübt als die ideologischen Positionen der Parteien. Marquis und Tresch (2022) zeigen auf, dass die Themenkompetenz den Wahlentscheid vor allem dann beeinflusst, wenn diese Kompetenzzuschreibungen schnell erfolgen, d.h. wenn sie zugänglich sind.

Eine zweite Gruppe von Beiträgen setzt sich mit Fragen der internationalen Zusammenarbeit und Migration auseinander. Lauener et al. (2022) untersuchen dabei die Präferenzen der Wählenden im Spannungsfeld zwischen weiteren europäischen Integrationsschritten und der Kontrolle des Arbeitsmarktes bzw. der Beschränkung der Einwanderung, während Lauener (2022) analysiert, inwiefern die Einstellungen der Kandidierenden verschiedener Parteien zu verschiedenen Aspekten der Europapolitik mit den Präferenzen ihrer jeweiligen Parteiwählerschaften übereinstimmen. Camatarri et al. (2022) fragen, ob die Wahlentscheidung von Wählenden mit Migrationshintergrund und von Einheimischen von unterschiedlichen Faktoren geprägt wird.

Die dritte Gruppe von Beiträgen untersucht andere, nicht themenbezogene Aspekte des Wahlkampfes und Wahlverhaltens. Nai et al. (2022) gehen dabei der Frage nach, ob Wahlkampfberater·innen negative Wahlkampagnen auf die Persönlichkeit ihrer Kandiderenden zuschneiden und ob dieser individuelle «Zuschnitt» den Wahlerfolg beeinflusst.

Giger et al. (2022) untersuchen die Rolle von verschiedenen Erklärungsfaktoren für den Wahlerfolg der Frauen bei den Wahlen 2019 und kommen zum Schluss, dass es sich dabei um ein Zusammenspiel von Faktoren auf der Angebotsseite (mehr Frauen auf guten Listenpositionen, Wahlerfolg linker Parteien) und der Nachfrageseite (gestiegene Bereitschaft der Wählenden, bei gleicher Kompetenz eine Frau zu wählen) handelt.

Ackermann und Stadelmann-Steffen (2022) untersuchen schliesslich, ob online ausgeübte politische Aktivitäten dazu führen, dass Menschen weniger offen für andere Meinungen sind und daher weniger von der Möglichkeit des Stimmensplittings (d.h. Kandidierende verschiedener Parteien auf einen Wahlzettel zu schreiben) Gebrauch machen.

25 Jahre universitäre Wahlforschung in der Schweiz

Die Diversität der theoretischen Ansätze in den Beiträgen zu den Wahlen 2019 ist kennzeichnend für die letzten 25 Jahre der Schweizer Wahlforschung. Die universitäre Wahlforschung in der Schweiz hat 1995 mit der Gründung der Schweizer Wahlstudie Selects Schwung aufgenommen. Seit 2008 ist Selects Teil der Forschungsinfrastruktur am Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften (FORS) in Lausanne. Zur klassischen Nachwahlbefragung der Wählenden kamen mit der Zeit auch eine Panelbefragung der Wählenden, eine Kandidierendenbefragung sowie eine Medienstudie hinzu.

Letztere wurde 2019 erstmals um eine Analyse der Wahlkampfkommunikation der Kandidierenden und Parteien in den sozialen Medien ergänzt. Diese breit angelegte Datenerhebung erlaubt den Forschenden eine umfassende Sicht auf die nationalen Wahlen. Studien stützen sich häufig nicht mehr nur auf Wählerbefragungen, sondern begreifen die Wahlen zunehmend als ein Zusammenspiel von Wählenden, Parteien, Kandidierenden und Medien. So verknüpfen denn auch in dieser Sondernummer verschiedene Autoren mehrere Selects-Datensätze, so beispielsweise Lauener (2022), um die Kongruenz der politischen Einstellungen von Kandidierenden und Parteiwählerschaften zu ermitteln oder Gilardi et al. (2022), um den Zusammenhang zwischen den Themensetzungen der Parteien und Medien zu untersuchen. Andere wiederum kombinieren die Datensätze von Selects mit anderen Datenquellen, wie offiziellen Statistiken (Giger et al., 2022), Parteiprogrammen (Lüth und Schaffer, 2022) oder Zeitungsinseraten (Borgeat, 2022)).

Die Daten der Schweizer Wahlstudie Selects erlauben sowohl die Untersuchung langfristiger Trends des Wahlverhaltens wie die wandelnde Bedeutung sozialer Konfliktlinien (z.B. Goldberg, 2017; Rennwald, 2015), als auch kurzfristiger Dynamiken während der Wahlkampagne (in dieser Sondernummer, z.B. Petitpas und Sciarini, 2022). Ausserdem werden seit je her auch idiosynkratische Elemente spezifischer Wahlen untersucht. Dies ist auch in dieser Sondernummer der Fall, wie z.B. der Beitrag von Giger et al., 2022 zur Frauenwahl zeigt.

Dabei muss auch der internationale Charakter der Schweizer Wahlforschung hervorgehoben werden. Schweizer Forschende arbeiten nicht isoliert, sondern greifen wichtige inhaltliche und methodische Debatten aus der internationalen Literatur auf. In der aktuellen Sonderausgabe finden sich zum Beispiel Arbeiten, die Antwortzeiten von Umfragen als Mass für die Zugänglichkeit politischer Einstellungen einbeziehen, im vorliegenden Fall die wahrgenommene Themenführerschaft der Parteien (Marquis und Tresch, 2022), oder Studien, die sich mit politischen Aktivitäten in sozialen Medien befassen (Ackermann und Stadelmann-Steffen, 2022).

Selects hat sich im letzten Vierteljahrhundert laufend neuen Trends angepasst und ist durch die Beteiligung an internationalen Forschungskooperationen wie der Comparative Study of Electoral Systems oder der Comparative Candidate Survey auch formell an die internationale Forschung angebunden. Dank der langfristigen Einbindung in die Forschungsinfrastruktur von FORS dürfte es der Schweizer Wahlstudie gelingen, ihre Innovationskraft zu behalten und weiterhin qualitativ hochstehende Daten zu erheben, welche es erlauben, den Einfluss neuer Herausforderungen (wie die Digitalisierung von Kampagnen oder der steigende Online-Nachrichtenkonsum) auf das Wahlverhalten zu untersuchen.

Die Schweizer Wahlstudie Selects

Seit 1995 untersucht die Schweizer Wahlstudie Selects die Gründe für die Wahlteilnahme und den Wahlentscheid an eidgenössischen Wahlen. Im Rahmen von Selects 2019 wurden verschiedene Erhebungen durchgeführt, welche die Datengrundlage der Artikel in der Sondernummer bilden:

  • In einer Nachwahlbefragung wurden insgesamt 6'664 Wahlberechtigte per Internet oder Papierfragebogen befragt. Es handelt sich um eine kantonal geschichtete Stichprobe, in der die kleinen Kantone überrepräsentiert sind, sowie drei Kantone (Genf, Tessin, Zürich) zusätzlich aufgestockt wurden.
  • In einer Panelbefragung basierend auf einer gesamtschweizerischen Zufallsstichprobe wurden im Wahljahr 2019 dieselben Wahlberechtigten dreimal befragt (Vorkampagnen-Welle mit 7’939 befragten Personen im Mai/Juni 2019; Kampagnen-Welle mit 5’577 befragten Personen im September/Oktober 2019; Nachwahl-Welle mit 5'125 befragten Personen im Oktober/November 2019). Die Panelstudie wird seither mit jährlichen Befragungen im Herbst fortgeführt.
  • Eine (soziale) Medienanalyse von 93 verschiedenen (print und online) Zeitungen und Newsseiten sowie von Twitter- und Facebook-Accounts der Kandidierenden und Parteien. Diese Analyse wurde im Autrag von Selects durch das Digital Democracy Lab der Universität Zürich durchgeführt. Sie erlaubt es, die wichtigsten Themen und Akteure in der Wahlkampagne zu identifizieren.
  • Eine Kandidierendenbefragung per Internet oder Papierfragebogen unter allen Kandidatinnen und Kandidaten für den National- und Ständerat, von denen 2’158 an der Umfrage teilgenommen haben. Diese Befragung wurde im Auftrag von Selects durch polittools.net durchgeführt.

Die Schweizer Wahlstudie Selects wird vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert und ist am Schweizer Kompetenzzentrum für Sozialwissenschaften FORS beherbergt. Alle Daten sind für wissenschaftliche Zwecke auf der Plattform SWISSUbase frei zugänglich. Ausserdem steht für fast alle Beiträge Replikationsmaterial zur Verfügung.


Der Beitrag basiert auf einem Sonderheft der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft (Heft 28(2), 2022) mit folgendem Inhalt:

Referenzen:

  • Goldberg, Andreas (2017). The impact of cleavages on Swiss voting behavior. A modern research approach. Cham: Springer.
  • Rennwald, Line (2015). Partis socialistes et classe ouvrière. Ruptures et continuités du lien electoral en Suisse, en Autriche, en Allemagne, en Grande-Bretagne et en France (1970-2008). Neuchâtel : Alphil.