Wahlentscheidung in der Echo-Kammer? Digitales politisches Engagement und Panaschieren bei der Schweizer Nationalratswahl 2019

Digi­ta­li­sie­rung ver­än­dert Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tu­ren, poli­ti­sche Teil­ha­be und poli­ti­sche Pro­zes­se. Wie sich die­se Trans­for­ma­tio­nen auf poli­ti­sches Ver­hal­ten aus­wir­ken, ist an vie­len Stel­len nach wie vor unklar. Eine neue Stu­die zeigt anhand von Umfra­ge­da­ten der Schwei­zer Wahl­stu­die Selects 2019, dass kein all­ge­mei­ner Zusam­men­hang zwi­schen digi­ta­lem poli­ti­schem Enga­ge­ment und Stim­men­split­ting besteht. Der Zusam­men­hang hängt indes davon ab, wie stark eine Per­son all­ge­mein poli­tisch inter­es­siert ist.

Die Digi­ta­li­sie­rung stellt eine der gros­sen Trans­for­ma­tio­nen und Her­aus­for­de­run­gen des 21. Jahr­hun­derts dar. Nicht erst durch die Coro­na-Kri­se ist offen­sicht­lich gewor­den, dass sich Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tu­ren, poli­ti­sche Teil­ha­be und poli­ti­sche Pro­zes­se durch die Digi­ta­li­sie­rung ver­än­dern. Auch Wahl­kämp­fe, poli­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen und poli­ti­sches Enga­ge­ment fin­den zuneh­mend im Netz statt. Gleich­wohl ist nach wie vor an vie­len Stel­len unklar, wie sich dies auf poli­ti­sche Ein­stel­lun­gen und poli­ti­sches Han­deln auswirkt.

Vor die­sem Hin­ter­grund unter­su­chen wir in unse­rer Stu­die den Zusam­men­hang zwi­schen poli­ti­schem Enga­ge­ment im Inter­net und dem Stim­men­split­ting (Pana­schie­ren) bei den Schwei­zer Natio­nals­rats­wah­len 2019. Wir unter­schei­den dabei zwi­schen Per­so­nen, die im Inter­net poli­tisch aktiv sind und dort z.B. poli­ti­sche Infor­ma­tio­nen lesen und wei­ter­ver­brei­ten oder eige­ne poli­ti­sche Über­le­gun­gen pos­ten, und jenen, die kein sol­ches Enga­ge­ment aufweisen.

Digitales politisches Engagement und Stimmensplitting

Wahl­kam­pa­gnen haben immer min­des­tens zwei Zie­le, unab­hän­gig davon, ob sie haupt­säch­lich in der digi­ta­len Sphä­re geführt wer­den oder nicht: Über­zeu­gung und Mobi­li­sie­rung. Es geht also dar­um, sowohl neue Wäh­ler­grup­pen vom eige­nen Pro­gramm zu über­zeu­gen als auch die eige­ne Anhän­ger­schaft zur Stimm­ab­ga­be zu moti­vie­ren. Den­noch unter­schei­det sich der Wahl­kampf im Inter­net von her­kömm­li­chen Kam­pa­gnen, die gröss­ten­teils off­line statt­fan­den. Der Wahl­kampf im Netz bie­tet Par­tei­en und Kan­di­die­ren­den viel mehr Mög­lich­kei­ten, Men­schen gezielt und per­so­na­li­siert anzusprechen.

Ent­spre­chend lau­tet eine bekann­te Ver­mu­tung, dass Per­so­nen, die im Inter­net poli­tisch aktiv sind, eine höhe­re Wahr­schein­lich­keit haben, mit homo­ge­ne­ren Infor­ma­tio­nen in Kon­takt zu kom­men und kaum Infor­ma­tio­nen sehen, die ihren grund­le­gen­den poli­ti­schen Ein­stel­lun­gen zuwi­der­lau­fen. Dies führt zur Annah­me, dass sie weni­ger offen gegen­über poli­ti­schen Alter­na­ti­ven sind und folg­lich auch nicht bereit sind, ihre Stim­men zwi­schen ver­schie­de­nen Par­tei­en zu split­ten («Echo-Kammer»-Argument).

Aller­dings bie­tet das Inter­net den Per­so­nen, die dort poli­tisch beson­ders aktiv sind, auch die Mög­lich­keit, poli­ti­sche Infor­ma­tio­nen aus ver­schie­de­nen Quel­len zu bezie­hen. Des­halb kann eben­so die Erwar­tung for­mu­liert wer­den, dass poli­ti­sches Enga­ge­ment im Inter­net die Chan­ce erhöht, dass Men­schen mit unter­schied­li­chen poli­ti­schen Stand­punk­ten in Kon­takt kom­men. Dar­aus kann wie­der­um die Annah­me abge­lei­tet wer­den, dass gera­de die­je­ni­gen, die im Netz poli­tisch aktiv sind, eher dazu bereit sind, ihre Stim­men auf ver­schie­de­ne Par­tei­en auf­zu­tei­len («Deliberations»-Argument).

Digitales politisches Engagement führt nicht zwingend in die Echo-Kammer

Um den Zusam­men­hang zwi­schen digi­ta­lem poli­ti­schem Enga­ge­ment und Stim­men­split­ting zu ergrün­den, wer­ten wir Umfra­ge­da­ten der Schwei­zer Wahl­stu­die Selects 2019 aus (sie­he Info­box). Die­se empi­ri­schen Ana­ly­sen zei­gen, dass es kei­nen all­ge­mei­nen Zusam­men­hang zwi­schen digi­ta­lem Enga­ge­ment und Stim­men­split­ting gibt (sie­he Abbil­dung 1).

Wenn Men­schen online mit ande­ren über Poli­tik dis­ku­tie­ren, einen Nach­rich­ten­ar­ti­kel kom­men­tie­ren oder tei­len oder ihre eige­ne Mei­nung in den sozia­len Medi­en pos­ten, sind sie nicht auto­ma­tisch mehr oder weni­ger dazu bereit, ihre Stim­men auf ver­schie­de­ne Par­tei­en zu ver­tei­len als Men­schen, die online nicht aktiv sind. Auch wenn man berück­sich­tigt, ob die Stim­men inner­halb oder über die Gren­zen von Par­tei­fa­mi­li­en hin­weg gesplit­tet wer­den, zeigt sich kein gene­rel­ler Zusam­men­hang mit digi­ta­ler Partizipation.

Abbildung 1: Digitales politisches Engagement und Stimmensplitting

Anmerkungen: Dargestellt sind die durchschnittlichen Wahrscheinlichkeitseffekte (Punkte) und das 95%-Konfidenzintervall (waagrechte Linien) basierend auf einem hierarchischen logistischen Regressionsmodell zur Erklärung des Stimmensplitting. Schneidet das Konfidenzintervall die rote Null-Linie nicht, ist der Effekt statistisch signifikant. Bei den kategorialen Kontrollvariablen dienen folgende Kategorien als Referenzkategorie: nicht politische interessiert, diskutiert nie über Politik.
Lesebeispiel: Das Modell zeigt, dass kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen digitaler Partizipation und Stimmensplitting besteht.
Quelle: Darstellung auf Basis von Ackermann und Stadelmann-Steffen (2022); Daten: Schweizer Wahlstudie Selects 2019 (Panelmodul)
Politisches Interesse ist entscheidend

Wei­ter­füh­ren­de Ana­ly­sen zei­gen jedoch, dass sich eine fein­glied­ri­ge­re Betrach­tung lohnt. Ins­be­son­de­re das poli­ti­sche Inter­es­se einer Per­son scheint für den Zusam­men­hang zwi­schen digi­ta­lem Enga­ge­ment und Stim­men­split­ting ent­schei­dend zu sein.

Eine Per­son, die digi­tal poli­tisch enga­giert ist und gleich­zei­tig wenig all­ge­mei­nes poli­ti­sches Inter­es­se hat, split­tet ihre Stim­men nur mit einer Wahr­schein­lich­keit von 25 Pro­zent. Die­ser Anteil ist signi­fi­kant gerin­ger als bei Per­so­nen mit ähn­lich nied­ri­gem poli­ti­schem Inter­es­se, die kein online Enga­ge­ment aufweisen.

Aller­dings beträgt die Wahr­schein­lich­keit des Stim­men­split­tings für eine Per­son, die sich digi­tal poli­tisch enga­giert und gleich­zei­tig hohes poli­ti­sches Inter­es­se hat, 45 Pro­zent. Wenn Per­so­nen, die digi­tal poli­tisch par­ti­zi­pie­ren, also auch all­ge­mein poli­tisch inter­es­siert sind und nicht nur punk­tu­ell wäh­rend einer Kam­pa­gne oder auf­grund eines bestimm­ten The­mas aktiv wer­den, schei­nen sie auch offe­ner für alter­na­ti­ve Stand­punk­te und eher zum Stim­men­split­ting bereit zu sein.

Betrach­tet man nur die Grup­pe der poli­tisch Inter­es­sier­ten, fällt die Wahr­schein­lich­keit des Stim­men­split­tings bei den poli­tisch online Enga­gier­ten etwas höher aus als bei Per­so­nen, die online nicht in die­ser Wei­se aktiv sind. Wäh­rend also die Befun­de bei poli­tisch Inter­es­sier­ten eher die The­se der grös­se­ren Offen­heit unter­stüt­zen, fin­den wir für die Grup­pe der poli­tisch wenig Inter­es­sier­ten Hin­wei­se dafür, dass online Enga­ge­ment eher zu einer stär­ke­ren Fokus­sie­rung auf nur eine Par­tei führt.

Unse­re Ana­ly­sen zei­gen, dass die Digi­ta­li­sie­rung sehr unter­schied­li­che Wir­kun­gen auf ver­schie­de­ne Grup­pen in der Bevöl­ke­rung ent­fal­ten kann und dass das Zusam­men­spiel mit ande­ren Fak­to­ren, bei­spiels­wei­se dem poli­ti­schen Inter­es­se, berück­sich­tigt wer­den sollte.

Abbildung 2: Digitale Partizipation, politisches Interesse und Stimmensplitting
Anmerkungen: Dargestellt sind die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten (Symbole) und das 95%-Konfidenzintervall (senkrechte Linien) basierend auf einem hierarchischen logistischen Regressionsmodell zur Erklärung des Stimmensplitting. Die Wahrscheinlichkeiten werden für unterschiedliche Niveaus des politischen Interesses abgetragen.
Lesebeispiel: Das Modell zeigt, dass eine Person, die digital partizipiert und gleichzeitig wenig allgemeines politisches Interesse hat, mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent ihre Stimmen splittet. Eine Person, die digital partizipiert und gleichzeitig hohes politisches Interesse hat, splittet ihrer Stimmen hingegen mit einer Wahrscheinlichkeit von 45 Prozent.
Quelle: Darstellung auf Basis von Ackermann und Stadelmann-Steffen (2022); Daten: Schweizer Wahlstudie Selects 2019 (Panelmodul)
Daten und Methoden
Für unse­re Stu­die haben wir Umfra­ge­da­ten der Schwei­zer Wahl­stu­die Selects 2019 ver­wen­det. Wir nut­zen die Daten des Panel­mo­duls, einer Online-Befra­gung mit drei Befra­gungs­wel­len zwi­schen Mai und Dezem­ber 2019. Die Befra­gung basiert auf einer Zufalls­stich­pro­be, die vom Bun­des­amt für Sta­tis­tik mit Hil­fe des Stich­pro­ben­rah­mens SRPH gezo­gen wur­de. In unse­re Ana­ly­sen wer­den nur Befrag­te ein­ge­schlos­sen, die an allen drei Befra­gungs­wel­len teil­ge­nom­men haben und in einem Kan­ton stimm­be­rech­tigt sind, in dem Stim­men­split­ting mög­lich ist. Ent­spre­chend wer­den Befrag­te aus Kan­to­nen mit nur einem Natio­nal­rats­sitz (Uri, Obwal­den, Nid­wal­den, Gla­rus, Appen­zell Aus­ser­rho­den und Appen­zell Inner­rho­den) nicht berück­sich­tigt. Ins­ge­samt umfasst unse­re Daten­grund­la­ge damit 2 948 Befragte.

Zur Ana­ly­se des Zusam­men­hangs zwi­schen digi­ta­ler Par­ti­zi­pa­ti­on und Stim­men­split­ting (Pana­schie­ren) schät­zen wir hier­ar­chi­sche logis­ti­sche Regres­si­ons­mo­del­le. Die abhän­gi­ge Varia­ble ist eine dicho­to­me Varia­ble, die angibt ob jemand bei der Wahl pana­schiert hat. Als zen­tra­le unab­hän­gi­ge Varia­blen ver­wen­den wir eine dicho­to­me Mes­sung für digi­ta­le Par­ti­zi­pa­ti­on. Die Varia­ble gibt an, ob eine Per­son im Ver­lauf der Wahl­kam­pa­gne eine der fol­gen­den Akti­vi­tä­ten aus­ge­übt hat: Dis­ku­tie­ren poli­ti­scher The­men mit ande­ren online, das Kom­men­tie­ren eines Online-Nach­rich­ten­ar­ti­kels oder Blog­bei­trags, das Wei­ter­lei­ten oder Tei­len von poli­ti­schen Inhal­ten oder das Pos­ten eige­ner Gedan­ken zu einem poli­ti­schen The­ma. Zusätz­lich wer­den Kon­troll­va­ria­blen (Alter, Geschlecht, Bil­dung, poli­ti­sche Dis­kus­sio­nen off­line, poli­ti­sches Inter­es­se, Nähe zu einer Par­tei, Ideo­lo­gie, extre­me Ideo­lo­gie, Anzahl der Natio­nal­rats­sit­ze des Kan­tons und Sprach­re­gi­on) im Modell berücksichtigt.


Refe­renz:

Bild: Wiki­me­dia Commons

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