Wer soll bei nationalen Wahlen mitbestimmen dürfen?

Die Fra­ge, wer zum Stimm­volk gehö­ren soll, bringt ganz unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen in euro­päi­schen Län­dern zum Vor­schein: Emigrant:innen? Immigrant:innen? Bei­de? Oder weder noch? Wir zei­gen im Fol­gen­den die Erkennt­nis­se aus einer ver­glei­chen­den Befra­gung im Detail auf. 

Erneut heftige politische Auseinandersetzungen um die Ausweitung des Stimm- bzw. Wahlvolkes

In den letz­ten Jahr­zehn­ten unter­nah­men vie­le Demo­kra­tien Schrit­te zur Aus­wei­tung des Wahl- und Stimm­rech­tes auf wei­te­re Bevöl­ke­rungs­grup­pen. Dabei ging es nicht um die Über­win­dung von Klas­sen- und Geschlech­ter­gren­zen, son­dern um die Fra­ge, ob und wo Migran­ten mit­stim­men dür­fen. In der west­li­chen Welt zeigt sich ein gesetz­li­cher Trend zur Inklu­si­on von Emigrant:innen (Auslandsbürger:innen) auf der natio­na­len Ebe­ne und von Immigrant:innen (aus­län­di­sche Bewohner:innen) auf der loka­len Ebe­ne (Arrighi und Bau­böck 2017). Aller­dings sind die­se Aus­wei­tun­gen des Stimm­vol­kes poli­tisch genau­so hef­tig umstrit­ten wie die frü­he­ren Inklusionsschritte.

Fast immer wird die Ent­schei­dung, wer mit­stim­men darf, von Par­la­men­ten getrof­fen – die aktu­ell Gewähl­ten ent­schei­den also über die zukünf­ti­ge Zusam­men­set­zung des Stimm­vol­kes – wodurch sich nicht nur in den USA die gefähr­li­che Ver­su­chung ergibt, dass sich die Regie­ren­den ihr Volk wäh­len und nicht umge­kehrt. In den weni­gen Fäl­len, in denen das Volk gefragt wur­de (v.a. in der Schweiz und in Luxem­burg), zeig­te sich die «Ingroup» kaum bereit, die­je­ni­gen, die auch den Geset­zen des Lan­des unter­wor­fen sind (die aus­län­di­sche Bevöl­ke­rung) in der Form eines Ausländer:innenstimmrechts mit­be­stim­men zu las­sen. Die Ver­ga­be des Wahl­rechts an Auslandsbürger:innen erfolg­te immer ohne direk­te Zustim­mung des Vol­kes. Dort, wo das Volk dies in einer Volks­ab­stim­mung abge­lehnt hat (in Ungarn), wur­de es von der Regie­rung Orban trotz­dem ein­ge­führt. U.a. die­se exter­nen Wähler:innen ver­hal­fen ihm dann zu einer so gros­sen Mehr­heit, dass er das Land zu einer «illi­be­ra­len Demo­kra­tie» umbau­en konnte.

Europaweiter Survey beginnt Wissenslücken zu schliessen und notwendige Verbindungen herzustellen

Ins­ge­samt wis­sen wir aber sehr wenig dar­über, was die Bevöl­ke­rung dar­über denkt, ob und wo Migrant:innen oder eth­ni­sche Min­der­hei­ten in Nach­bars­län­dern mit­stim­men dür­fen. Aus­ser­dem wird sehr oft die Fra­ge der Inklu­si­on von Immigrant:innen (aus­län­di­schen Bewohner:innen) völ­lig unab­hän­gig von der Fra­ge der Inklu­si­on der Emigrant:innen (Auslandsbürger:innen) dis­ku­tiert, obwohl Migrant:innen immer gleich­zei­tig Emigrant:innen und Immigrant:innen sind. In einem vom Schwei­zer Natio­nal­fonds geför­der­ten For­schungs­pro­jekt (Pro­jekt­num­mer: 100027_172651/1) mit dem Titel «Towards Trans­na­tio­nal Voting in Euro­pe!?» haben wir begon­nen, die­se Wis­sens­lü­cken zu schlies­sen und dabei die not­wen­di­gen Ver­bin­dun­gen zwi­schen Emi­gra­ti­on und Immi­gra­ti­on herzustellen.

Die Stu­die
In Zusam­men­ar­beit mit DEMO­Scope und sei­nen euro­päi­schen Part­ner­in­sti­tu­tio­nen führ­ten wir im Mai 2019 in 26 euro­päi­schen Län­dern (25 EU Län­dern und der Schweiz) eine reprä­sen­ta­ti­ve Umfra­ge durch. Ins­ge­samt nah­men 16,555 Per­so­nen an der Umfra­ge teil (unge­fähr 1000 Per­so­nen in grös­se­ren Län­dern und unge­fähr 500 Per­so­nen in klei­ne­ren Län­dern, wobei sicher­ge­stellt wur­de, dass nur Per­so­nen teil­nah­men, die in dem Land stimm­be­rech­tigt sind; d.h. unse­rer Umfra­ge bil­det die Mei­nung der unum­strit­te­nen «Ingroup» ab). Die Umfra­ge­er­geb­nis­se haben wir bei FORS depo­niert und für die wei­te­re Ver­wen­dung zugäng­lich gemacht (Michel und Blat­ter 2021)..
Empirische Ergebnisse

Die Umfra­ge erbrach­te die fol­gen­den ers­ten Erkennt­nis­se (vgl. Abbil­dung 1):

  • Eine rela­ti­ve Mehr­heit der Europäer:innen wol­len alle Staatsbürger:innen mit­wäh­len las­sen, unab­hän­gig davon, wo sie woh­nen (39,1%), aber ein erheb­li­cher Anteil will das natio­na­le Wahl­recht auf die Bürger:innen beschrän­ken, die auch im Land woh­nen (27,9%).
  • Von den­je­ni­gen, die für ein Aus­län­der- bzw. Bewohner:innen-Wahlrecht sind (ins­ge­samt 33%) möch­te ein grös­se­rer Anteil die­se Aus­wei­tung nicht auf die Immigrant:innen beschrän­ken (14,4%), son­dern son­dern die Emigrant:innen gleich­zei­tig inklu­die­ren (18,6%).
Abbildung 1: Zustimmung zu verschieden Möglichkeiten der elektoralen Inklusion in Europa

Dar­über hin­aus wur­de deut­lich, wie stark sich die Ansich­ten der «Ingroups» in den ver­schie­de­nen Län­dern Euro­pas unter­schei­den (vgl. Abbil­dung 2):

  • Wäh­rend über zwei Drit­tel der Rumän:innen die Inklu­si­on der Auslandsrumän:innen (nicht aber der aus­län­di­schen Bewohner:innen) befür­wor­ten, sind dies in Kroa­ti­en gera­de ein­mal 12%. Dies ist ins­be­son­de­re des­we­gen bemer­kens­wert, weil in Rumä­ni­en die Auslandsbürger:innen auf­grund ihrer Anzahl einen noch grös­se­ren Ein­fluss auf die Wahl­er­geb­nis­se haben als in Kroatien.
  • In Irland und Ita­li­en (zwei tra­di­tio­nel­le Aus­wan­de­rungs­län­der) wür­de ein rela­tiv gros­ser Anteil der Befrag­ten zwar den aus­län­di­schen Bewohner:innen das natio­na­le Wahl­recht geben aber nicht den Auslandsbürger:innen (Ita­li­en prak­ti­ziert Letz­te­res seit lan­gem, in Irland sind dage­gen alle Vor­stös­se in die­se Rich­tung im Par­la­ment abge­lehnt wor­den). In vie­len ost­eu­ro­päi­schen Län­dern gibt es dage­gen nur ganz mini­ma­le Zustim­mung für ein sol­che «ter­ri­to­ri­al defi­nier­tes» Stimmvolk.
  • Eine beson­ders hohe Vari­anz zwi­schen den Län­dern zeigt sich auch bei der Zustim­mung für eine exklu­si­ve Rege­lung, in der nur die Staats­an­ge­hö­ri­gen wäh­len dür­fen, die auch im Land woh­nen. In Ungarn fin­det eine solch exklu­si­ve Rege­lung des Stimm­volks eine abso­lu­te Mehr­heit, wäh­rend sie ins­be­son­de­re in den süd­eu­ro­päi­schen Län­dern kaum Unter­stüt­zung findet.
  • Vor allem bei den Südeuropäer:innen fin­det dage­gen eine gene­rell inklu­si­ve Regu­lie­rung rela­tiv gros­se Unter­stüt­zung, wäh­rend sie in Ost­eu­ro­pa, aber z.B. auch in Deutsch­land oder Däne­mark kaum Unter­stüt­zung findet.
Abbildung 2: Zustimmungsanteile zu verschieden Wahlrechtsverteilungen in europäischen Ländern (in Prozent)

Weitergehende Analysen

In zwei wis­sen­schaft­li­chen Auf­sät­zen haben wir die­se empi­ri­schen Erkennt­nis­se ein­ge­ord­net und ers­te wei­ter­ge­hen­de Ana­ly­sen geliefert:

  • Im Auf­satz «Enfra­chise­ment regimes bey­ond de-ter­ri­to­ria­liz­a­ti­on and post-natio­na­lism» (2022) haben wir auf die inhä­ren­ten Impli­ka­tio­nen einer unko­or­di­nier­ten Aus­wei­tung des Wahl- und Stimm­rech­tes über die Gren­zen des Staats­ter­ri­to­ri­ums und der Staats­bür­ger­schaft hin­aus hin­ge­wie­sen. Die­se Ent­wick­lung geht mit einem welt­wei­ten Trend zur Aner­ken­nung und Ver­brei­tung der Dop­pel­ten Staats­bür­ger­schaft ein­her (jede/r vier­te Schweizer:in ist bereits Mehrfachbürger:in, vgl. Blat­ter, Sochin D’Elia, und Bue­ss 2018). Gemein­sam unter­mi­nie­ren bzw. über­win­den (je nach Stand­punkt) die­se Ent­wick­lun­gen das soge­nann­te West­phä­li­schen Sys­tem der Inter­na­tio­na­len Ord­nung, in dem es eine Über­ein­stim­mung zwi­schen Staats­ter­ri­to­ri­um, dem Staats­volk, und der staat­li­chen Gewalt gab. Wir argu­men­tie­ren, dass bei einer bewuss­ten und gemein­sa­men Gestal­tung die­ser Ent­wick­lun­gen die Demo­kra­tien (ins­be­son­de­re) in Euro­pa die Vor­tei­le die­ser Ent­wick­lung nut­zen kön­nen, denn auch die Staats­ge­walt hat sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten gewan­delt. Staat­li­che Herr­schaft wird nicht mehr in einer recht­lich auto­no­men Wei­se auf einem klar ein­ge­grenz­ten Ter­ri­to­ri­um über ein Volk aus­ge­übt, bei dem alle Bewohner:innen auch gleich­zei­tig Bürger:innen sind. Statt­des­sen kenn­zeich­net sich staat­li­che Herr­schaft auch durch viel­fäl­ti­ge grenz­über­schrei­ten­de Ver­flech­tun­gen, Wett­be­werb und Koope­ra­ti­on aus. Durch eine bewuss­te und gemein­sa­me Gestal­tung des Sys­tems von sich über­lap­pen­den Wahl­völ­kern könn­te die Form des «demos» wie­der der aktu­el­len Form des «kra­tos» ange­gli­chen wer­den. In der aktu­el­len unge­re­gel­ten Form ist aller­dings zu erwar­ten, dass eine der ganz gros­sen Errun­gen­schaf­ten der natio­nal­staat­li­chen Demo­kra­tie (die for­ma­le poli­ti­sche Gleich­heit, die sich durch den slo­gan «one per­son, one vote» aus­drückt) in Gefahr. Wäh­rend eini­ge mobi­le Men­schen damit kon­fron­tiert sind, dass sie weder im Her­kunfts- noch im Auf­ent­halts­land mit­stim­men kön­nen, kann eine zuneh­men­de Anzahl von Doppelbürger:innen und mobi­len Men­schen in meh­re­ren Län­dern mit­stim­men. Damit dies nicht zu wei­te­rem Res­sen­ti­ment der sess­haf­ten Einfachbürger:innen führt, plä­die­ren wir dafür, dass Demo­kra­tien einen kon­sti­tu­tio­nel­len Pro­zess begin­nen, in dem sie allen ihren Bürger:innen gegen­sei­tig das Recht ein­räu­men, bei den natio­na­len Wah­len des ande­ren Lan­des eine beschränk­te Anzahl von Reprä­sen­tan­ten zu wäh­len (wie dies in Län­dern wie Ita­li­en für die Auslandsbürger:innen der Fall ist) – vgl. DeFac­to-Bei­trag: Neu­er Vor­schlag zur Demo­kra­ti­sie­rung der EU.

 

  • Im Auf­satz «Enfran­chi­sing immi­grants and/or emi­grants?» (2021) haben wir unter­sucht, wel­che indi­vi­du­el­len Fak­to­ren mit einer höhe­ren Unter­stüt­zung der Inklu­si­on von aus­län­di­schen Bewohner:innen und wel­che mit einer höhe­ren Unter­stüt­zung für Stimm­recht von Auslandsbürger:innen ver­bun­den sind. Wäh­rend sich bei der Unter­stüt­zung der Inklu­si­on von aus­län­di­schen Bewohner:innen ein erwart­ba­res Bild zeigt (Frau­en, Doppelbürger:innen, jün­ge­re Men­schen und links-ori­en­tier­te Wähler:innen sind eher dafür als Män­ner, Einfachbürger:innen, älte­re Men­schen und rechts-ori­en­tier­te Wähler:innen), gibt es auf der indi­viuel­len Ebe­ne kaum Fak­to­ren, wel­che einen Ein­fluss auf die Unter­stüt­zung der Inklu­si­on der Auslandsbürger:innen haben (Aus­nah­me: älte­re Men­schen sind eher dafür als jün­ge­re). Dar­über hin­aus gab es wei­te­re über­ra­schen­de Erkennt­nis­se, die z.B. bis­he­ri­gen Ana­ly­sen wider­spre­chen. So sind die­je­ni­gen Europäer:innen, die sich aus­schliess­lich mit ihrer Nati­on iden­ti­fi­zie­ren, nicht etwa nur stär­ker gegen die Inklu­si­on von aus­län­di­schen Bewohner:innen als die­je­ni­gen, die sich ent­we­der aus­schliess­lich mit Euro­pa oder gleich­zei­tig mit Euro­pa und ihrer Nati­on iden­ti­fi­zie­ren, son­dern auch stär­ker gegen die Inklu­si­on von Staatsbürger:innen, die sich im Aus­land auf­hal­ten. Im Gegen­satz zu ande­ren Stu­di­en fin­den wir in unse­rer Erhe­bung einen posi­ti­ven Zusam­men­hang zwi­schen der rela­ti­ven Grös­se der Immi­gra­ti­ons­grup­pe und der Bereit­schaft, die­ser Grup­pe ein Stimm­recht zu geben.

Um noch kla­rer zu eru­ie­ren, war­um die Haupt­er­klä­run­gen für die unter­schied­li­che Ein­stel­lung der Europäer:innen zu den «Gren­zen des demos» auf natio­nal­staat­li­che Fak­to­ren statt indi­vi­du­el­le Merk­ma­le zurück­zu­füh­ren sind, füh­ren wir wei­te­re ver­schie­de­ne inno­va­ti­ve Fall­stu­di­en durch. Die­se wer­den uns hel­fen zu ver­ste­hen, wel­che Fak­to­ren in wel­cher Wei­se dazu bei­tra­gen, dass Migran­ten das Stimm­recht erhal­ten (oder nicht) und wie sich die­se ver­schie­de­nen «Erwei­te­run­gen des Vol­kes» auf gegen­wär­ti­ge Demo­kra­tien und deren Funk­ti­ons­wei­se auswirken.


Quel­len:

Refe­ren­zen:

  • Arrighi, Jean-Tho­mas und Rai­ner Bau­böck. ‘A Mul­ti­le­vel Puz­zle: Migrants’ Voting Rights in Natio­nal and Local Elec­tions’. Euro­pean Jour­nal of Poli­ti­cal Rese­arch 56, no. 3 (2017): 619–39.
  • Blat­ter, Joa­chim, Mar­ti­na Sochin D’Elia und Miche­al Bue­ss (2018): Bür­ger­schaft und Demo­kra­tie in Zei­ten trans­na­tio­na­ler Migra­ti­on: Hin­ter­grün­de, Chan­cen und Risi­ken der Dop­pel­bür­ger­schaft. Stu­die im Auf­trag der Eid­ge­nös­si­schen Migra­ti­ons­kom­mis­si­on (Her­aus­ge­ber­schaft).

 

Bild: Unsplash

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