Schweiz — EU: Sonderwege, Holzwege, Königswege. Die vielfältigen Beziehungen seit dem EWR-Nein

Der neue Sam­mel­band aus der Küche von Année Poli­tique Suis­se beschreibt die Bezie­hun­gen zwi­schen der Schweiz und der Euro­päi­schen Uni­on seit 1993. Der Plu­ral ist dabei ganz bewusst gewählt, zei­gen sich doch je nach unter­such­tem Poli­tik­feld unter­schied­li­che innen­po­li­ti­sche Akteurs­kon­stel­la­tio­nen, varia­ble Ver­hält­nis­se mit der supra­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on und ganz ver­schie­de­ne Ent­wick­lun­gen seit dem EWR-Nein vor 30 Jah­ren. In der DeFac­to-Serie «Schweiz – EU: Son­der­we­ge, Holz­we­ge, Königs­we­ge» ver­schaf­fen die Autor:innen für jeweils ein Poli­tik­feld einen Über­blick über die Viel­falt der Beziehungen.

Vielfältige Beziehungen – die Idee des Sammelbands

Das Nein zum Euro­päi­schen Wirt­schafts­raum (EWR) vor 30 Jah­ren darf als zen­tra­ler Schei­de­weg in der damals noch eher jun­gen Geschich­te der schwei­ze­ri­schen Euro­pa­po­li­tik ver­stan­den wer­den. Auf­grund zäher Ver­hand­lun­gen ent­stan­den die Bila­te­ra­len Bezie­hun­gen – ein Kon­glo­me­rat aus ganz unter­schied­li­chen Ver­trä­gen in ver­schie­de­nen Poli­tik­fel­dern. Die Auf­tren­nung in ver­schie­de­ne Dos­siers war wohl zen­tra­ler Grund dafür, dass sich für das über­ge­ord­ne­te Ziel – mög­lichst viel Inte­gra­ti­on unter Wah­rung grösst­mög­li­cher Auto­no­mie – innen­po­li­tisch eine Mehr­heit fin­den liess. Unter­schied­li­che Abkom­men in ver­schie­de­nen Poli­tik­fel­dern sorg­ten dafür, dass (fast) alle Akteu­re einen Vor­teil der Ver­trä­ge aus­ma­chen konn­ten, wobei sie den grund­sätz­lich pro­eu­ro­päi­schen Akteu­ren gleich­zei­tig fall­wei­se Oppo­si­ti­on gegen Aspek­te der Inte­gra­ti­on ermög­lich­ten, die ihren Inter­es­sen zuwi­der­lie­fen. Mit ande­ren Wor­ten: Wo für die einen der Schwei­zer Son­der­weg ein Königs­weg war, konn­ten ihn ande­re als Holz­weg kritisieren.

Die Bei­trä­ge im Sam­mel­band beschrei­ben die ver­schie­de­nen Sonder‑, Holz- und Königs­we­ge der Bezie­hun­gen Schweiz–EU in unter­schied­li­chen Poli­tik­fel­dern. Die Autorin­nen und Autoren machen dabei deut­lich, wie viel­fäl­tig die­se Bezie­hun­gen und die Inter­ak­tio­nen der Akteu­re in der Tat sind, wie unter­schied­lich sich ver­schie­de­ne Akteu­re ver­hal­ten, wie sehr die Stär­ke der Ver­hand­lungs­po­si­tio­nen der Schweiz und der EU jeweils vari­iert und wie sich all dies seit dem EWR-Nein ent­wi­ckelt hat (vgl. unten­ste­hen­de Tabel­le für einen Überblick).

Autor:innenPoli­tik­feld / ThemaInhalt
Aman­do AmmannAus­sen­po­li­tikChro­nik der wich­tigs­ten Etap­pen in der Schwei­zer Euro­pa­po­li­tik: EWR-Nein, Bila­te­ra­le I, Bila­te­ra­le II, Kohä­si­ons­bei­trä­ge, Rah­men­ab­kom­men. Je nach The­ma erscheint die EU als gedul­di­ge und ent­ge­gen­kom­men­de Part­ne­rin oder aber als unnach­gie­bi­ge, am län­ge­ren Hebel sit­zen­de Grossmacht.
Elia HeerPer­so­nen­frei­zü­gig­keitGewerk­schaf­ten und Lin­ke wer­den durch die flan­kie­ren­den Mass­nah­men bei der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit an Bord geholt. Die so gebil­de­te brei­te Koali­ti­on ver­tei­digt die Per­so­nen­frei­zü­gig­keit – und damit den bila­te­ra­len Weg – in zahl­rei­chen Abstimmungen.
Guil­laume ZumofenWirt­schafts­po­li­tikDie Wirt­schafts­be­zie­hun­gen als zen­tra­ler Angel­punkt funk­tio­nie­ren recht pro­blem­los. Die wirt­schaft­li­chen Bezie­hun­gen sind bedeut­sa­me Basis für die direkt­de­mo­kra­ti­sche Legi­ti­mie­rung der Bila­te­ra­len Verträge.
Yves Bru­chez, Lukas Stie­fel und Fre­drik WallinFinanz­markt­po­li­tikBei der Ver­tei­di­gung des Bank­ge­heim­nis­ses kann die Schweiz lan­ge auf Ver­bün­de­te inner­halb der EU-Mit­glied­staa­ten zäh­len, die ähn­li­che Inter­es­sen haben. Mit der Finanz­kri­se erhöht sich jedoch der inter­na­tio­na­le Druck, wel­cher die FDP und die CVP zu einem Mei­nungs­wan­del bewegt.
Marc Bühl­mannPar­tei­po­si­tio­nenDie Regie­rungs­par­tei­en haben Mühe, eine eige­ne kohä­ren­te Posi­ti­on in der Euro­pa­po­li­tik zu fin­den, weil sie mit der Aus­sen­po­li­tik diver­gie­ren­de innen­po­li­ti­sche Inter­es­sen meist für wich­ti­ger halten.
Ber­na­det­te FlückigerUmwelt­po­li­tikDie EU holt die Schweiz bezüg­lich Umwelt­schutz­stan­dards in den letz­ten 30 Jah­ren ein. Die Grü­ne Par­tei und Umwelt­schutz­or­ga­ni­sa­tio­nen wei­chen unter ande­rem des­halb ihre euro­skep­ti­sche Posi­ti­on in die­sem Bereich auf.
Karel Zieh­liLand­wirt­schafts­po­li­tikIn der Land­wirt­schafts­po­li­tik kommt es zu einer euro­pa­skep­ti­schen Alli­anz zwi­schen SVP und Grü­nen. Weil es hier zudem Vetos mäch­ti­ger innen­po­li­ti­scher Inter­es­sen­or­ga­ni­sa­tio­nen gibt, kommt es ein­zig im Käse­markt zu einer Liberalisierung.
Mar­lè­ne Ger­ber und Isa­bel­le BieriMigra­ti­ons­po­li­tikDie Schweiz wünscht sich einen Bei­tritt zum Dub­lin-Abkom­men, die EU ver­wei­gert ihr die­sen aber lan­ge Zeit. In der Fol­ge ver­schärft die Schweiz ihre Asyl­po­li­tik, stellt aber sicher, dass ihre Rege­lun­gen für einen spä­te­ren Bei­tritt Dub­lin-kom­pa­ti­bel blieben.
Karin FrickRechts­po­li­tikDie Rechts­be­zie­hun­gen ent­wi­ckeln sich haupt­säch­lich durch frei­wil­li­ge Über­nah­me von Rege­lun­gen durch die Schweiz sowie durch auto­no­men Nach­voll­zug wei­ter. Aller­dings muss die Schweiz seit Schengen/Dublin auch immer öfter zwin­gend EU-Recht übernehmen.
Anja Hei­del­ber­gerVer­kehrs­po­li­tikDie Ver­kehrs­po­li­tik ist vor allem für die Bila­te­ra­len I wich­ti­ger Ver­hand­lungs­trumpf, wobei der Bun­des­rat ver­su­chen muss, einen Mit­tel­weg zwi­schen den weit aus­ein­an­der­lie­gen­den innen­po­li­ti­schen For­de­run­gen und den For­de­run­gen der EU zu finden.
Lino Hei­ni­gerFor­schungs­po­li­tikDie Schweiz ist in der For­schungs­po­li­tik in einer äus­serst schwa­chen Posi­ti­on. Auch weil die­ses Dos­sier nicht der Guil­lo­ti­ne-Klau­sel unter­stellt ist, nutzt es die EU als Druck­mit­tel. Als Fol­ge kann sich die Schweiz nur in 14 von 30 mög­li­chen Jah­ren als voll­wer­ti­ges Mit­glied an den Euro­päi­schen For­schungs­rah­men­pro­gram­men beteiligen.
Mar­co AckermannEner­gie­po­li­tikDie Schweiz hat ihre Stel­lung als ein zen­tra­ler inter­na­tio­na­ler Play­er im Strom­markt ver­lo­ren und es droht ein Aus­schluss aus zen­tra­len euro­päi­schen Gre­mi­en. Abhil­fe soll ein Strom­ab­kom­men mit der EU schaf­fen, das jedoch in wei­te Fer­ne gerückt zu sein scheint.
Zentrale Befunde

Die ver­schie­de­nen Bei­trä­ge zeich­nen ein bun­tes Bild unter­schied­li­cher Bezie­hun­gen. Die Schweiz spricht dabei kaum je mit einer Stim­me. Selbst der Bun­des­rat ist sich intern manch­mal alles ande­re als einig über die Stoss­rich­tung bei den Ver­hand­lun­gen. Das ist aber eigent­lich nur ein Spie­gel des viel­stim­mi­gen innen­po­li­ti­schen Chors, den er zu diri­gie­ren hat, bestehend aus Par­tei­en, Ver­bän­den und der durch die direk­te Demo­kra­tie mit­ein­be­zo­ge­nen Bevöl­ke­rung. So legi­ti­mie­ren die Urnen­ent­schei­de zwar die bun­des­rät­li­che Euro­pa­po­li­tik mehr­heit­lich, ange­droh­te oder tat­säch­li­che Refe­ren­den bil­den aber stets eine zusätz­li­che Ver­hand­lungs­hür­de und einen Unsicherheitsfaktor.

Ein Ver­gleich der Bei­trä­ge zeigt, dass auch die Inter­ak­tio­nen zwi­schen der EU und der Schweiz viel­fäl­tig sind. Die Schweiz ist als wesent­lich klei­ne­re Ver­hand­lungs­part­ne­rin mit­nich­ten stets in einer Posi­ti­on der Schwä­che, son­dern kann je nach Dos­sier spe­zi­fi­sche Vor­tei­le in die Waag­scha­le wer­fen. Frei­lich war es häu­fig die EU, wel­che die Ver­hand­lungs­gren­zen setz­te und die Schweiz in ein­zel­nen Dos­siers durch­aus auch unter gros­sen Ver­hand­lungs­druck setz­ten konnte. 

Schliess­lich zeigt auch der Blick auf die Ent­wick­lun­gen in den ver­schie­de­nen Poli­tik­fel­dern Unter­schie­de auf. Ers­tens ver­än­dern die innen­po­li­ti­schen Akteu­re teil­wei­se ihre Posi­tio­nen, pas­sen sich inter­na­tio­na­len Ent­wick­lun­gen an und jus­tie­ren ihre jewei­li­gen roten Lini­en immer wie­der neu, was mit­un­ter gar zu neu­en Koali­tio­nen führt. Zwei­tens scheint die Ver­bind­lich­keit der Über­nah­me von EU-Regeln durch die Schweiz in eini­gen Poli­tik­fel­dern und seit Schengen/Dublin zuge­nom­men zu haben. Und drit­tens scheint die Schweiz in eini­gen Berei­chen ihre euro­päi­sche Vor­rei­ter­rol­le ver­lo­ren zu haben, was zu einer Ver­schie­bung der Macht­ver­hält­nis­se eher zu Unguns­ten der Schweiz geführt hat. 

Es ist kompliziert. Und wird es wohl auch bleiben

Der aus der «Face­book-Welt» über­nom­me­ne Bezie­hungs­sta­tus «Es ist kom­pli­ziert» erweist sich für die Bezie­hung zwi­schen der EU und der Schweiz in den ver­schie­de­nen Bei­trä­gen und in deren Ver­gleich als pas­send. Die Kom­ple­xi­tät der Bezie­hun­gen ermög­licht einer­seits sehr fle­xi­ble Lösun­gen, unter­schied­li­che Mehr­hei­ten und eine innen­po­li­tisch recht breit abge­stütz­te Legi­ti­ma­ti­on des bila­te­ra­len Weges. Auf der ande­ren Sei­te ver­un­mög­licht sie wohl eine ein­heit­li­che, schwei­ze­ri­sche Euro­pa­po­li­tik und eine kla­re Ver­hand­lungs­po­si­ti­on. Die Bezie­hun­gen zwi­schen der Schweiz und der EU wer­den wohl auch wei­ter­hin kom­pli­ziert blei­ben und es wer­den wohl auch noch eini­ge Son­der­we­ge, Holz­we­ge und Königs­we­ge beschrit­ten werden.


Refe­renz: Elia Heer, Anja Hei­del­ber­ger und Marc Bühl­mann (Hrsg.) 2022. Schweiz – EU: Son­der­we­ge, Holz­we­ge, Königs­we­ge. Die viel­fäl­ti­gen Bezie­hun­gen seit dem EWR-Nein. Zürich: NZZ Libro.

Bild: flickr.com

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