Das innenpolitische Ringen um die Personenfreizügigkeit zum Schutz der bilateralen Beziehungen Schweiz-EU

In den letz­ten dreis­sig Jah­ren stimm­te die Schwei­zer Stimm­be­völ­ke­rung gan­ze sie­ben Mal über die Per­so­nen­frei­zü­gig­keit (PFZ) mit der EU ab. Zwei­mal unter­lag dabei das Lager der Befür­wor­ter und Befür­wor­te­rin­nen der PFZ – 1992 bei der Abstim­mung über den EWR-Bei­tritt und 2014 bei der Mas­sen­ein­wan­de­rungs­in­itia­ti­ve (MEI). Trotz die­ser Nie­der­la­gen und trotz einer grund­sätz­lich ein­wan­de­rungs­kri­ti­schen Ein­stel­lung der Bevöl­ke­rung ist die PFZ heu­te in Kraft. Das liegt nicht zuletzt an einer brei­ten pro-Bila­te­ra­len-Koali­ti­on. Die poli­ti­schen Akteu­re in die­ser Koali­ti­on waren wie­der­holt gewillt und in der Lage, die PFZ – und damit den bila­te­ra­len Weg – mit­tels unkon­ven­tio­nel­ler innen­po­li­ti­scher Mass­nah­men zu schützen. 

Einwanderungskritische Schweiz

Die Schwei­zer Stimm­be­völ­ke­rung tat sich seit jeher schwer mit der PFZ. So gehör­ten Ängs­te im Zusam­men­hang mit der Zuwan­de­rung zu den meist­ge­nann­ten Beweg­grün­den für ein ableh­nen­des Votum zum EWR. Und im Nach­gang zur Abstim­mung über die Mas­sen­ein­wan­de­rungs­in­itia­ti­ve gaben rund zwei Drit­tel der Befrag­ten – dar­un­ter auch 35 Pro­zent der Nein-Stim­men­den – an, die Schweiz müs­se ihre Zuwan­de­rung wie­der eigen­stän­dig steu­ern kön­nen. Damit die Stimm­be­völ­ke­rung in den ande­ren fünf die PFZ betref­fen­den Abstim­mun­gen mehr­heit­lich für die Ein­füh­rung (respek­ti­ve den Erhalt) der PFZ stimm­te, muss­ten die Befür­wor­ten­den sie dem­nach über­zeu­gen, dass die Nach­tei­le einer Abschaf­fung der PFZ die Vor­tei­le einer eigen­stän­di­gen Steue­rung der Zuwan­de­rung überwogen.

Die Verknüpfung der Bilateralen I durch die Guillotineklausel

Eine gros­se Rol­le spiel­te in die­sem Zusam­men­hang die Guil­lo­ti­ne­klau­sel, wel­che die ein­zel­nen Ver­trä­ge des Pakets der Bila­te­ra­len I mit­ein­an­der ver­knüpft. Die EU hat­te die­se Ver­knüp­fung gefor­dert – aus Angst, dass die Schweiz einen der Ver­trä­ge auf­kün­di­gen könn­te und das Paket dadurch unaus­ge­wo­gen sei. Da das PFZ als umstrit­tens­tes Dos­sier der Bila­te­ra­len I galt, wur­de sie für Befür­wor­te­rin­nen und Befür­wor­ter des bila­te­ra­len Weges zum zen­tra­len Ele­ment, das es zu schüt­zen galt, damit der bila­te­ra­le Weg wei­ter­ge­führt wer­den konn­te. Die­se Befür­wor­te­rin­nen und Befür­wor­ter schlos­sen sich ab der Abstim­mung über die Bila­te­ra­len I zu einer inof­fi­zi­el­len Pro-Bila­te­ra­le-Koali­ti­on zusam­men, wel­che die meis­ten gros­sen Par­tei­en – abge­se­hen von der SVP –, den Bun­des­rat sowie die Sozi­al­part­ner umfasste.

Schutz durch unkonventionelle innenpolitische Massnahmen

Um die PFZ in den zahl­rei­chen sie betref­fen­den Abstim­mun­gen zu ver­tei­di­gen, tra­ten die Akteu­re die­ser Koali­ti­on geschlos­sen auf und grif­fen zudem wie­der­holt zu unkon­ven­tio­nel­len innen­po­li­ti­schen Mass­nah­men. Um die Gewerk­schaf­ten und die lin­ken Par­tei­en an Bord zu holen, erar­bei­te­ten die Sozi­al­part­ner ein Paket an flan­kie­ren­den Mass­nah­men (FlaM), wel­che für Schwei­zer Ver­hält­nis­se unge­wöhn­lich stark in den Arbeits­markt ein­griff. Der Bun­des­rat sei­ner­seits ver­such­te im Vor­feld der ver­schie­de­nen Abstim­mun­gen den Argu­men­ten der PFZ-Geg­ner­schaft den Wind aus den Segeln zu neh­men. So rief er bei­spiels­wei­se vor der Abstim­mung über die MEI die Ven­til­klau­sel – also eine tem­po­rä­re Wie­der­ein­füh­rung von Zuwan­de­rungs­kon­tin­gen­ten – an, obwohl er dies noch weni­ge Jah­re zuvor klar abge­lehnt hat­te. Und im Vor­feld der Abstim­mung über die Begren­zungs­in­itia­ti­ve der SVP leg­te der Bun­des­rat dem Par­la­ment ein Gesetz über Über­brü­ckungs­leis­tun­gen für älte­re Arbeits­lo­se (ÜLG) vor, womit mut­mass­lich Ängs­te vor Arbeits­lo­sig­keit abge­baut wer­den soll­ten. Das Par­la­ment trug das ÜLG mit und ver­ab­schie­de­te es in einem raschen Ver­fah­ren noch vor dem Urnen­gang über die Begren­zungs­in­itia­ti­ve. Auch bereits zuvor hat­te das Par­la­ment die PFZ gestützt. So ent­schied es bei­spiels­wei­se 2008, die Vor­la­ge über die Wei­ter­füh­rung der PFZ mit der Aus­deh­nung der PFZ auf die neu­en EU-Mit­glied­staa­ten Bul­ga­ri­en und Rumä­ni­en zu ver­knüp­fen. Eine Mehr­heit des Par­la­ments war über­zeugt, dass eine Ableh­nung der Aus­deh­nung zu gros­sen Pro­ble­men mit der EU füh­ren wür­de. Die Geg­ner­schaft erwar­te­te davon hin­ge­gen nur gerin­ge Aus­wir­kun­gen auf die Bezie­hun­gen zur EU. Durch die Ver­knüp­fung stell­te sich die­se Fra­ge nun gar nicht erst, da eine Ableh­nung nun auto­ma­tisch zu einer Kün­di­gung der PFZ geführt hät­te. Und nicht zuletzt beschloss das Par­la­ment 2016 in einem euro­pa­po­li­tisch kri­ti­schen Moment mit dem soge­nann­ten «Inlän­der­vor­rang light» eine Per­so­nen­frei­zü­gig­keits-kon­for­me Umset­zung der MEI.

Der Bruch der Koalition

Die Pro-Bila­te­ra­le-Koali­ti­on hat lan­ge gut gehal­ten und die PFZ und damit den bila­te­ra­len Weg in zahl­rei­chen Abstim­mun­gen ver­tei­digt. Der sozi­al­part­ner­schaft­li­che Kom­pro­miss zu den FlaM bil­de­te dabei den Grund­stein für den Zusam­men­halt. Das zeig­te sich auch bei den Ver­hand­lun­gen um ein Rah­men­ab­kom­men mit der EU (Ins­tA). Die­se wur­den schliess­lich abge­bro­chen – nicht zuletzt weil die Sozi­al­part­ner den mit den FlaM erreich­ten Kom­pro­miss beim Lohn­schutz im vom Bun­des­rat aus­ge­han­del­ten Ins­tA-Ent­wurf als zu stark beein­träch­tigt erach­te­ten und das Rah­men­ab­kom­men des­halb nicht unter­stüt­zen woll­ten.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des Buch­ka­pi­tels «Angst vor der Guil­lo­ti­ne: innen­po­li­ti­sche Mass­nah­men zur Siche­rung der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit in der Schweiz», in: Heer Elia, Hei­del­ber­ger Anja, Bühl­mann Marc (Hrsg.). Schweiz – EU: Son­der­we­ge, Holz­we­ge, Königs­we­ge. Die viel­fäl­ti­gen Bezie­hun­gen seit dem EWR-Nein. Zürich: NZZ Libro. S. 55 – 86.

Bild: unsplash.com

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