Die Schweizer Verkehrspolitik: der letzte europapolitische Trumpf?

In ihrer Ver­kehrs­po­li­tik der 1990er Jah­re ver­such­te die Schweiz, die For­de­rung der EG/EU nach einer Erhö­hung des LKW-Tran­sit­ver­kehrs mit der innen­po­li­ti­schen For­de­rung nach mehr Alpen­schutz in Ein­klang zu brin­gen. Dabei brach­ten sich die Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger regel­mäs­sig mit Urnen­ent­schei­den in die Dis­kus­sio­nen ein und stell­ten die Schwei­zer Ver­kehrs­po­li­tik mehr­mals vor grös­se­re Her­aus­for­de­run­gen. Gleich­zei­tig erach­te­ten Bun­des­rat und Par­la­ment den Ver­kehrs­be­reich – v.a. die 28-Ton­nen-Limi­te und die NEAT – als einen Trumpf in ihren euro­pa­po­li­ti­schen Verhandlungen.

Konkurrenz durch die Strassen-Transporte

Lan­ge Zeit spiel­te der alpen­que­ren­de Güter­ver­kehr auf der Schie­ne in der Schweiz eine zen­tra­le Rol­le (Lit­ra 2017). Mit dem Bau des Gott­hard-Stras­sen­tun­nels (1970–1980) stieg jedoch der Anteil des Güter­ver­kehrs auf der Stras­se am Gesamt­gü­ter­ver­kehr an und begann den­je­ni­gen auf der Schie­ne zu kon­kur­ren­zie­ren (Alpen­tran­sit­por­tal 2022).

Dass der Anteil des Stras­sen­gü­ter­ver­kehrs nicht noch stär­ker anstieg, war auf die 28-Ton­nen-Limi­te für Last­wa­gen und auf das Nacht- und Sonn­tags­fahr­ver­bot in der Schweiz zurück­zu­füh­ren (BBl, 1990, II, S. 1102). Wäh­rend die umlie­gen­den Staa­ten das Maxi­mal­ge­wicht für Last­wa­gen kon­ti­nu­ier­lich erhöh­ten, begrenz­te die tie­fe­re Limi­te in der Schweiz den Anstieg des Tran­sit­gü­ter­ver­kehrs zulas­ten der Nach­bar­län­der Öster­reich und Frankreich.

Die­ses Vor­ge­hen führ­te jedoch bald zu Wider­stand in der EG, die sich an den Ein­schrän­kun­gen des frei­en Waren­ver­kehrs zwi­schen ihren Mit­glie­dern störte.

Das Transitabkommen

Ab 1989 ver­han­del­ten die EG und die Schweiz über ein Tran­sit­ab­kom­men. Die EG ver­lang­te einen Stras­sen­kor­ri­dor für 40-Ton­nen-Last­wa­gen, die Schweiz schlug statt­des­sen eine Ver­la­ge­rung des Stras­sen­gü­ter­trans­ports auf die Schie­ne vor. Beim für die Ver­la­ge­rung nöti­gen Aus­bau der Schie­nen-Trans­port­ka­pa­zi­tä­ten setz­te der Bun­des­rat auf die bereits geplan­te NEAT.

Die Schweiz und die EU einig­ten sich dar­auf, dass die Schweiz ihre 28-Ton­nen-Limi­te für Last­wa­gen sowie das Nacht- und Sonn­tags­fahr­ver­bot bei­be­hält, aber neben einer Kapa­zi­täts­er­hö­hung beim Schie­nen­trans­port je 50 Hin- und Rück­fahr­ten von 40-Ton­nen-Last­wa­gen täg­lich erlaubt. Zudem wur­de eine Aus­deh­nung des Zugangs der Schwei­zer Trans­port­un­ter­neh­men zum EG-Ver­kehrs­markt im gleich­zei­tig aus­ge­han­del­ten EWR-Ver­trag gere­gelt. Die­se Aus­deh­nung ent­fiel jedoch mit der Ableh­nung des EWR-Bei­tritts am 6. Dezem­ber 1992.

Das Landverkehrsabkommen

In der Fol­ge wünsch­te der Bun­des­rat neue Ver­hand­lun­gen mit der EU unter ande­rem zum Markt­zu­gang der Trans­port­un­ter­neh­men, wäh­rend sich die EU – trotz Rege­lung im Tran­sit­ab­kom­men – wei­ter­hin an der 28-Ton­nen-Limi­te und am Sonn­tags- und Nacht­fahr­ver­bot stör­te. 1994 stan­den somit die Ver­hand­lun­gen zum Land­ver­kehrs­ab­kom­men – als Teil der Bila­te­ra­len I – an. Die 28-Ton­nen-Limi­te half somit qua­si als Trumpf mit, die EU nach dem Schwei­zer EWR-Nein wie­der an den Ver­hand­lungs­tisch zu bringen.

Doch bevor die Ver­hand­lun­gen begin­nen konn­ten, nah­men die Schwei­zer Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger im Febru­ar 1994 die soge­nann­te Alpen­in­itia­ti­ve an. Die­se ver­lang­te unter ande­rem einen Ver­zicht auf Kapa­zi­täts­aus­bau auf den Tran­sit­ach­sen und eine voll­stän­di­ge Ver­la­ge­rung des Tran­sit­gü­ter­ver­kehrs von der Stras­se auf die Schiene.

Da die EG-Staa­ten eine ent­spre­chen­de Rege­lung als Ver­stoss gegen die Grund­sät­ze der Nicht­dis­kri­mi­nie­rung erach­te­ten, konn­ten die Ver­hand­lun­gen zum Land­ver­kehrs­ab­kom­men erst auf­ge­nom­men wer­den, nach­dem der Bun­des­rat einen dis­kri­mi­nie­rungs­frei­en Umset­zungs­ent­wurf prä­sen­tiert hat­te: Im Rah­men der neu zu schaf­fen­den LSVA soll­ten alle LKW Gebüh­ren für die Benut­zung der Tran­sit­ach­sen bezah­len müs­sen, auch Fahr­zeu­ge im Binnenverkehr.

Nach lang­wie­ri­gen Ver­hand­lun­gen einig­ten sich die Schweiz und die EU auf eine schritt­wei­se anstei­gen­de Gewichts­li­mi­te für LKW bis auf 40 Ton­nen und auf eine im Gleich­schritt mit der Gewichts­li­mi­te anstei­gen­de LSVA-Abga­be. Die Schweiz ver­tei­dig­te hin­ge­gen das Nacht- und Sonn­tags­fahr­ver­bot und erhielt die Mög­lich­keit, bei einem zu star­ken Anstieg der Ver­kehrs­zah­len Son­der­mass­nah­men zu erlassen.

Mit die­sem Kom­pro­miss beim Land­ver­kehrs­ab­kom­men konn­te sich die Schweiz schliess­lich die Bila­te­ra­len I ins­ge­samt sichern – ohne die­ses letz­te noch offe­ne Dos­sier wären auch die übri­gen Über­ein­kom­men mit der EU Maku­la­tur gewe­sen. Zur Mehr­heits­fä­hig­keit die­ses Kom­pro­mis­ses in der EU tru­gen zwei Schwei­zer Urnen­ent­schei­de bei, bei denen die Stimm­be­völ­ke­rung 1998 die Ein­füh­rung der LSVA und die Finan­zie­rung von ÖV-Pro­jek­ten (FinÖV) gut­hiess und somit den recht­li­chen Rah­men und die Finan­zie­rung der Ver­kehrs­ver­la­ge­rung sicherte.

Im Mai 2000 spra­chen sich die Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger für Annah­me der Bila­te­ra­len I aus, wobei dem Land­ver­kehrs­ab­kom­men gemäss Vox-Ana­ly­se nur eine gerin­ge Bedeu­tung für den Stimm­ent­scheid zukam – im Gegen­satz zu den meis­ten ande­ren Dos­siers (mit Aus­nah­me der sehr zen­tra­len Per­so­nen­frei­zü­gig­keit) wur­de es aber immer­hin ver­ein­zelt als Ent­schei­dungs­grund genannt (Hir­ter und Lin­der 2000).

Das Verkehrsverlagerungsziel

Zur Umset­zung der Alpen­in­itia­ti­ve defi­nier­ten Bun­des­rat und Par­la­ment ein bis 2009 zu errei­chen­des Ver­kehrs­ver­la­ge­rungs­ziel von maxi­mal 650’000 jähr­li­chen alpen­que­ren­den Güter­schwer­ver­kehrs­fahr­ten auf der Stras­se. In den fol­gen­den Jah­ren wur­den die Umset­zungs­frist für die­ses Ziel ver­län­gert und zusätz­li­che Mass­nah­men zur För­de­rung der Ver­kehrs­ver­la­ge­rung geschaffen.

Den­noch konn­te das Ziel bis ins Jahr 2021 nicht erreicht wer­den: Die Anzahl Fahr­ten sank von 1,4 Mio. (2000) bis 2021 auf 860’000 Fahr­ten jähr­lich (UVEK 2022). Ver­gli­chen mit Frank­reich (2019: 12%) und Öster­reich (2019: 25%) konn­te die Schweiz jedoch einen ver­gleichs­wei­se hohen Anteil des Schie­nen­trans­ports (2000: 70%; 2019: 72%) am gesam­ten alpen­que­ren­den Trans­port erhal­ten. Somit schei­nen LSVA, NEAT und die zusätz­li­chen erlas­se­nen Mass­nah­men zumin­dest die Auf­he­bung der 28-Ton­nen-Limi­te kom­pen­siert zu haben.

Abbildung 1: 

Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des Buch­ka­pi­tels «Die Schwei­zer Ver­kehrs­po­li­tik: der letz­te euro­pa­po­li­ti­sche Trumpf?», in: Heer Elia, Hei­del­ber­ger Anja, Bühl­mann Marc (Hrsg.). Schweiz – EU: Son­der­we­ge, Holz­we­ge, Königs­we­ge. Die viel­fäl­ti­gen Bezie­hun­gen seit dem EWR-Nein. Zürich: NZZ Libro. S. 289 – 326.

 

Refe­renz:

  • Alp­tran­sit­por­tal (2022). Schwei­ze­ri­sches Bun­des­ar­chiv BAR, online https://www.alptransit-portal.ch/de/ (Zugriff: 2.5.22).

  • BFS – Bun­des­amt für Sta­tis­tik (2022a). Alpen­que­ren­der Güter­ver­kehr (Gesamt­ver­kehr 1) ) nach Län­dern, online https://www.bfs.admin.ch/asset/de/18864258 (Zugriff: 2.5.22).

  • BFS – Bun­des­amt für Sta­tis­tik (2022b). Anzahl Fahr­ten im alpen­que­ren­den Stras­sen­gü­ter­ver­kehr (nur Schweiz), online https://www.bfs.admin.ch/asset/de/18864259 (Zugriff: 2.5.22).

  • Hir­ter, Hans; Lin­der, Wolf (2000). Ana­ly­se der eid­ge­nös­si­schen Abstim­mun­gen vom 21. Mai 1999, Vox Nr. 70, GfS und IPW, Bern.

  • Lit­ra (2017). Ver­kehrs­zah­len, online https://litra.ch/media/article_images/2019/02/Litra_Verkehrszahlen_2017.pdf (Zugriff: 2.5.22).

  • UVEK – Eid­ge­nös­si­sches Depar­te­ment für Wirt­schaft, Bil­dung und For­schung (2022). Ver­kehrs­ver­la­ge­rung, online https://www.uvek.admin.ch/uvek/de/home/verkehr/verkehrsverlagerung.html (Zugriff: 2.5.22).

 

Bild: unsplash.com

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