Ach, Europa: Entstehung und Wandel parteipolitischer Positionen zur Beziehung Schweiz — EU

In den letz­ten 50 Jah­ren such­ten die vier gros­sen Schwei­zer Par­tei­en – CVP, FDP, SP und SVP – nach einer kohä­ren­ten Posi­ti­on in ihrer Euro­pa­po­li­tik und ori­en­tier­ten sich dabei auch an den Prä­fe­ren­zen ihrer Wähler:innenschaft. Alle vier Par­tei­en star­te­ten mit einem euro­pa­freund­li­chen Kurs, um auf mehr oder weni­ger lan­gen Umwe­gen ihre eige­ne Posi­ti­on zu fin­den, die von Ableh­nung der Inte­gra­ti­on (SVP), über Bevor­zu­gung bila­te­ra­ler Bezie­hun­gen (CVP, FDP) bis hin zu mode­rat inte­gra­ti­ons­freund­li­chem Kurs (SP) rei­chen. Die Bedeu­tung, die die Par­tei­en der Euro­pa­po­li­tik zumes­sen, vari­iert aller­dings stark.

Die gesellschaftliche Bedeutung der Europapolitik als Kontext

Par­tei­en basie­ren ihre Posi­tio­nen auf ideo­lo­gi­schen Über­le­gun­gen, gesell­schaft­li­chem Dis­kurs und der ver­mu­te­ten Hal­tung ihrer Wähler:innen. Dies trifft auch für die Euro­pa­po­li­tik zu, die in der Schweiz erst­mals mit der Abstim­mung über das Frei­han­dels­ab­kom­men mit der EWG (1972) in ein brei­te­res gesell­schaft­li­ches Bewusst­sein gerät und mit der Dis­kus­si­on um den Bei­tritt zum EWR an Viru­lenz gewinnt. «Euro­pa» bleibt in den 1990er Jah­ren laut Sor­gen­ba­ro­me­ter ein drän­gen­des Pro­blem, das aber nach der erfolg­rei­chen Eta­blie­rung der Bila­te­ra­len Abkom­men wie­der an Bedeu­tung ver­liert. Die Par­tei­en begin­nen in den 1990er Jah­ren ihre Suche nach einer eigen­stän­di­gen Posi­ti­on in der Euro­pa­po­li­tik zu ver­stär­ken. Als Ori­en­tie­rungs­hil­fe für die­se Suche die­nen ihnen auch die elf euro­pa­po­li­ti­schen Abstim­mun­gen, weil dar­aus auch ables­bar ist, ob die Prä­fe­ren­zen der eige­nen Kli­en­tel der aktu­el­len Par­tei­po­si­ti­on entsprechen.

Tabelle: Parteiparolen, abweichende Kantonalsektionen und Parolentreue der Anhängerschaft bei elf europapolitischen Abstimmungen

 CVPFDPSPSVP
PaaKPTPaaKPTPaaKPTPaaKPT
1979Frei­han­dels­ab­kom­men*ja0 ja0 ja1 ja1 
1992EWR-Bei­trittja253ja262ja069ne368
1997«EU-Bei­tritts­ver­hand­lun­gen vors Volk!»ne093ne092ne082ne158
2000Bila­te­ra­le Abkom­men mit der EUja069ja083ja093ja1424
2001Initia­ti­ve «Ja zu Europa!»ja1816ne482ja058ne084
2005Abkom­men Schen­gen und Dublinja072ja079ja086ne292
2005Aus­deh­nung FZA auf neue EU-Staatenja081ja074ja089ne587
2006Zusam­men­ar­beit mit Staa­ten Osteuropasja065ja071ja086ne190
2009Wei­ter­füh­rung FZA/Ausdehnungja075ja077ja080ne194
2014Mas­sen­ein­wan­de­rungs­in­itia­ti­vene066ne060ne084ja095
2020Begren­zungs­in­itia­ti­vene067ne072ne086ja087
Ringen um Positionen

Inter­es­san­ter­wei­se zeich­nen sich alle vier Par­tei­en in den 1970er Jah­ren noch durch einen euro­pa­freund­li­chen Moder­ni­sie­rungs­kurs aus. Sogar die SVP zeigt sich bei der Fra­ge der Inten­si­tät der Bezie­hun­gen zur EU lan­ge intern gespal­ten. Letzt­lich ist es der Zür­cher Flü­gel, der die Par­tei im Zuge der EWR-Abstim­mung auf eine kon­ser­va­ti­ve Posi­ti­on und auf eine expli­zit ableh­nen­de Hal­tung ein­zu­schwö­ren beginnt. Spä­tes­tens nach der Ja-Emp­feh­lung für die Bila­te­ra­len Abkom­men I (2000), bei der sich der gemäs­sig­te Flü­gel der SVP letzt­mals durch­setzt, wird deut­lich, dass die Mehr­heit der Kli­en­tel der SVP nur noch eine kon­se­quen­te Nein-Linie akzep­tiert. Seit­her ver­tritt die SVP eine Anti-EU-Posi­ti­on. Als ein­zi­ge Par­tei bewirbt sie die­se auch bei den eid­ge­nös­si­schen Wah­len, was durch­aus mit ein Grund für ihre Erfol­ge sein dürfte.

Eigent­lich hät­te in den 1970er Jah­ren erwar­tet wer­den kön­nen, dass nicht die SVP, son­dern die damals stark kon­ser­va­tiv aus­ge­rich­te­te CVP den anti-euro­päi­schen Pol ein­nimmt, der sich ja ideo­lo­gisch auf die Kon­ser­vie­rung einer schwei­ze­ri­schen Eigen­stän­dig­keit beruft. Die CVP schlägt aller­dings einen ganz ande­ren Weg ein: Die Par­tei­lei­tung will nicht nur in der Sozi­al- son­dern auch in der Aus­sen­po­li­tik einen Moder­ni­sie­rungs- und Öff­nungs­kurs. Wie wenig die­ser in euro­pa­po­li­ti­schen Fra­gen aller­dings von der eige­nen Anhänger:innenschaft gut­ge­heis­sen wird, zeigt sich bereits bei der höchs­tens lau­en Paro­len­treue beim (abge­lehn­ten) Bei­tritt zum EWR und dann vor allem in der veri­ta­blen Ohr­fei­ge, die der Par­tei bei der Abstim­mung zur Initia­ti­ve «Ja zu Euro­pa» ver­passt wird: Nur gera­de 16 Pro­zent paro­len­treue Anhänger:innen tra­gen hier die Öff­nungs­stra­te­gie mit. Die bila­te­ra­len Bezie­hun­gen erlau­ben es der CVP dann aber, eine Mit­te­po­si­ti­on zwi­schen dem von der Basis nicht unter­stütz­ten EU-Bei­tritt und kon­ser­va­ti­ver EU-Skep­sis ein­zu­neh­men. Euro­pa spielt in den Wahl­pro­gram­men der CVP aller­dings nie eine pro­mi­nen­te Rolle.

Auch für die FDP wer­den die Bila­te­ra­len sozu­sa­gen zum Königs(aus)weg, denn der Frei­sinn lieb­äu­gelt anfäng­lich eben­falls mit einem euro­pa­freund­li­chen Kurs. Die 1995 als stra­te­gi­sches Ziel fest­ge­leg­te Bei­tritts­idee wird aller­dings rela­tiv rasch wie­der beer­digt und erhält auch in der Par­tei­spit­ze nie die­sel­be Bedeu­tung wie bei der CVP. Die Unter­stüt­zung für die bila­te­ra­len Bezie­hun­gen, die heu­te nicht nur von der FDP als «Königs­weg» bezeich­net wer­den, ist inner­halb des Frei­sinns zu Beginn aller­dings eben­falls nur lau – ins­be­son­de­re dann, wenn es bei den Bezie­hun­gen nicht pri­mär um Wirtschafts‑, son­dern um Ein­wan­de­rungs­fra­gen geht. Erst nach der Mas­sen­ein­wan­de­rungs­in­itia­ti­ve nimmt die FDP eine kon­sis­ten­te­re Hal­tung «Pro Bila­te­ra­le» ein, die sie in der Fol­ge gar bei den eid­ge­nös­si­schen Wah­len 2015 recht vehe­ment bewirbt.

In einem eigent­li­chen Dilem­ma befin­det sich die SP. Als Moder­ni­sie­rungs­par­tei, die auch sie in den 1970er Jah­ren wer­den will, schreibt sie sich früh die Öff­nung der Schweiz und den EU-Bei­tritt auf die Fah­ne. Als ein­zi­ge der vier Bun­des­rats­par­tei­en bleibt sie durch­gän­gig bei die­ser Hal­tung. Die­ser Kurs wird von ihrer ursprüng­li­chen Arbeiter:innen-Klientel aller­dings nur sehr bedingt mit­ge­tra­gen. Die SP ver­sucht zwei unter­schied­li­che Aus­we­ge aus die­sem Dilem­ma: Auf der einen Sei­te wird das im Par­tei­pro­gramm ver­an­ker­te Bei­tritts­ziel zwar immer wie­der erwähnt – spo­ra­disch wer­den vom Bun­des­rat auch Bei­tritts­ver­hand­lun­gen gefor­dert –, die Inte­gra­ti­on in die Euro­päi­sche Uni­on wird aber sel­ten mit letz­ter Vehe­menz ver­foch­ten. Das The­ma ist denn auch kaum Gegen­stand von Kam­pa­gnen bei eid­ge­nös­si­schen Wah­len. Auf der ande­ren Sei­te wird ver­sucht, den Gewerk­schafts­flü­gel und die tra­di­tio­nel­le Kli­en­tel ein­zu­bin­den, indem die EU-freund­li­che Hal­tung mit innen­po­li­ti­schen For­de­run­gen ver­knüpft wird.

Ausblick

In der ver­hält­nis­mäs­sig gerin­gen Bedeu­tung, die drei der vier Par­tei­en der Euro­pa­po­li­tik lan­ge Zeit zumes­sen, wider­spie­gelt sich auch der Burg­frie­den, den die CVP, die FDP und die SP im Rah­men der Bila­te­ra­len Abkom­men geschmie­det haben und der lan­ge Zeit auch von der Stimm­be­völ­ke­rung mit­ge­tra­gen und an der Abstim­mungs­ur­ne legi­ti­miert wird. Die knap­pe Annah­me der Mas­sen­ein­wan­de­rungs­in­itia­ti­ve und die Reak­ti­on der EU, die auf eine Dyna­mi­sie­rung der bila­te­ra­len Bezie­hun­gen und für eine Ver­fes­ti­gung der Bezie­hun­gen pocht, machen die­sen Burg­frie­den aller­dings brü­chig. Ob die Koali­ti­on «Pro Bila­te­ra­le» hält und für ein neu­es insti­tu­tio­nel­les Rah­men­ab­kom­men aus­reicht, scheint alles ande­re als sicher – auch weil CVP, FDP und SP ganz unter­schied­li­che For­de­run­gen für Neu­ver­hand­lun­gen stel­len und die SVP auf­grund ihrer euro­pa­skep­ti­schen Posi­ti­on die­se wohl auch wei­ter­hin eher ableh­nen wird.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist die schrift­li­che Kurz­fas­sung des Buch­ka­pi­tels «Ach, Euro­pa: Ent­ste­hung und Wan­del par­tei­po­li­ti­scher Posi­tio­nen zur Bezie­hung Schweiz–Europa», in: Heer Elia, Hei­del­ber­ger Anja, Bühl­mann Marc (Hrsg.). Schweiz – EU: Son­der­we­ge, Holz­we­ge, Königs­we­ge. Die viel­fäl­ti­gen Bezie­hun­gen seit dem EWR-Nein. Zürich: NZZ Libro. S. 147 – 184.

Bild: Wiki­me­dia Commons

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