Muss, soll oder will die Schweiz mit der EU zusammenarbeiten? Ja! Die Rechtsbeziehungen der Schweiz zur EU sind nicht nur thematisch vielfältig, sondern auch in der Art und Weise der Zusammenarbeit. Dabei prägen die drei Beziehungsmodi «Müssen», «Sollen» und «Wollen» verschiedene Themenbereiche in unterschiedlichem Ausmass. Auch über die Zeit haben sich die Gewichte verschoben. Im Vergleich zu den 1990er-Jahren muss die Schweiz heute mehr, soll weniger und will etwa gleich viel mit der EU zusammenarbeiten.
Im Bereich Rechtsordnung, Polizei und Justiz unterhält die Schweiz viele und vielfältige Beziehungen zur EU. Diese schweizerisch-europäische Zusammenarbeit kann dabei ganz unterschiedlich ausgestaltet sein. Drei mögliche Betrachtungsweisen sind die Zusammenarbeit als Müssen, als Sollen und als Wollen.
Zusammenarbeit als Müssen: «unfreiwillige» Reaktion der Schweiz
Es gibt Bereiche oder Situationen, in denen die Schweiz unter Androhung konkreter Konsequenzen verpflichtet ist, von der EU erlassene Regeln ins eigene Recht zu übernehmen. Diese Verpflichtung ist in völkerrechtlichen Verträgen festgehalten, die die Schweiz und die EU abgeschlossen haben – und die von den Vertragsparteien natürlich auch wieder gekündigt werden können.
Prominentestes Beispiel hierfür ist wohl das Schengen-Assoziierungsabkommen, mit dem sich die Schweiz verpflichtet hat, alle Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstandes ins Schweizer Recht zu übernehmen. Bei jeder Schengen-relevanten Neuerung steht sie also vor der Wahl, diese zu übernehmen oder die Schengen/Dublin-Zusammenarbeit zu beenden. Die Zusammenarbeit als Müssen ist in diesem Sinne eine «unfreiwillige Reaktion» der Schweiz auf eine Regeländerung der EU.
Zusammenarbeit als Sollen: «freiwillige Reaktion» der Schweiz
Die Zusammenarbeit als Sollen kann demgegenüber als «freiwillige Reaktion» der Schweiz auf eine Anpassung im EU-Recht angesehen werden. Damit ist gemeint, dass sich die Schweiz bei der eigenen Rechtsetzung an der Rechtsentwicklung in Europa orientiert und gegebenenfalls darauf achtet, ihr eigenes Recht europakompatibel auszugestalten. Sie tut dies in erster Linie, um ein Inseldasein innerhalb des europäischen Wirtschafts- und Rechtsraums und die damit verbundenen, meist wirtschaftlichen Nachteile zu vermeiden, wäre aber nicht dazu verpflichtet.
Zusammenarbeit als Wollen: «Aktion» der Schweiz
Im Gegensatz zu dieser einseitigen Anpassung kann von Zusammenarbeit als Wollen gesprochen werden, wenn die Schweiz aktiv Schritte unternimmt, um mit der EU zu einer gemeinsamen Lösung zu gelangen. Dabei reagiert sie nicht auf eine europäische Entwicklung, sondern agiert von sich aus. Weil sie sich davon einen Vorteil erhofft, ergreift die Schweiz die Initiative für eine direkte, bilaterale oder indirekte, multilaterale Zusammenarbeit mit der EU oder deren Mitgliedstaaten.
Abbildung 1. Die Beziehungsformen Müssen, Sollen und Wollen (eigene Darstellung)
Beziehung zur EU = | ||
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Müssen | Sollen | Wollen |
EU beschliesst Regeln Schweiz muss reagieren Sonst: Vertragsbruch | EU beschliesst Regeln Schweiz soll reagieren Sonst: Inseldasein | Schweiz will Zusammenarbeit Schweiz wird von sich aus aktiv Sonst: Status quo |
Ausgehend von diesen drei Beziehungsformen geht der Beitrag zwei Fragen nach: Wie häufig kommen die drei Beziehungsformen in den verschiedenen Themen von Rechtsordnung, Polizei und Justiz vor? Und wie verändert sich ihre Häufigkeit über die Zeit? Dazu werden 114 parlamentarisch behandelte Geschäfte aus dem Bereich Rechtsordnung, Polizei und Justiz untersucht, die zwischen 1990 und 2020 eingereicht wurden und die einen Bezug zur EU bzw. EG aufweisen.
Beziehungsform und Thema
Insgesamt entfallen je rund ein Drittel der 114 untersuchten Geschäfte auf die drei Beziehungsformen Müssen (38), Sollen (44) und Wollen (32). In den verschiedenen Themen zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2. Anzahl Geschäfte nach Thema und Beziehungsform (114 zwischen 1990 und 2020 eingereichte Geschäfte mit EG/EU-Bezug; eigene Darstellung)
Die Sicherheit und der Datenschutz sind die Themen, die am stärksten durch Müssen geprägt sind. Im Strafrecht und im Zivilrecht dominiert klar das Sollen, das auch im Bereich Bürgerrechte/Menschenrechte/Völkerrecht stark vertreten ist. Das Wollen, die insgesamt seltenste Form, kommt anteilsmässig in der Rechtshilfe am häufigsten vor, gefolgt von den Themen Bürgerrechte/Menschenrechte/Völkerrecht und Sicherheit. Gliedert man die Sicherheitspolitik noch feiner in verschiedene Unterthemen, zeigt sich zudem, dass das Wollen hauptsächlich in der Polizeizusammenarbeit und beim Staatsschutz eine grosse Rolle spielt. Das Müssen ist demgegenüber beim Grenzschutz und im Waffenrecht dominant.
Beziehungsformen über die Zeit
In Abbildung 3 ist gut erkennbar, dass das Müssen nach der Unterzeichnung des Schengen-Assoziierungsabkommens am 26. Oktober 2004 aufkam. Bis 2003 dominierte klar das Sollen die schweizerisch-europäischen Beziehungen in Rechtsordnung, Polizei und Justiz. Ab 2004 macht das Müssen hingegen fast die Hälfte der untersuchten Geschäfte aus, während das Sollen sichtbar an Bedeutung verloren hat. Der Anteil der Sollen-Geschäfte hat von rund 70 Prozent vor 2004 auf etwa 30 Prozent nach 2004 deutlich abgenommen. Nur leicht abgenommen hat demgegenüber das Wollen: Fällt vor 2004 knapp jedes dritte Geschäft hierunter, ist es nach 2004 noch rund jedes vierte.
Abbildung 3. Anzahl Geschäfte nach Einreichungsjahr und Beziehungsform (114 zwischen 1990 und 2020 eingereichte Geschäfte mit EG/EU-Bezug; eigene Darstellung)
Fazit: Vom Sollen zum Müssen – aber nicht überall
In vielen Geschäften im Bereich Rechtsordnung, Polizei und Justiz ist die Beziehung der Schweiz zur EU ein Müssen: Sie haben die verpflichtende Übernahme von Schengen-relevantem EU-Recht zum Gegenstand. Allerdings sind längst nicht alle Themen davon durchdrungen. Darüber hinaus scheint das Aufkommen des Müssens nicht das Wollen verdrängt zu haben, sondern eher das Sollen. Durch die Schengen-Assoziierung wird das Schweizer Recht zwar nicht automatisch, aber eben «dynamisch» im Einklang mit dem EU-Recht gehalten. Die Schweiz sieht sich dadurch seltener in der Situation, ihr Recht an das europäische anpassen zu sollen, um ein Abseitsstehen zu verhindern. So gesehen wurden aus praktischen auch rechtliche Notwendigkeiten – und insofern hat die Schweiz wohl gar nicht so viel Spielraum verloren, wie es die aufgekommene Dominanz des Müssens vielleicht vermuten liesse.
Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Kurzfassung des Buchkapitels «Müssen, Sollen, Wollen: die Rechtsbeziehungen Schweiz–EU», in: Heer Elia, Heidelberger Anja, Bühlmann Marc (Hrsg.). Schweiz – EU: Sonderwege, Holzwege, Königswege. Die vielfältigen Beziehungen seit dem EWR-Nein. Zürich: NZZ Libro. S. 269 – 288.
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