Für ein Stimm- und Wahlrecht für alle Einwohner*innen der Schweiz

Von der Ein­füh­rung des Frau­en­stimm­rechts 1971 pro­fi­tier­ten nur drei Vier­tel aller Frau­en in der Schweiz, näm­lich jene mit schwei­ze­ri­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit. Dass poli­ti­sche Teil­ha­be in der Schweiz in der Regel an die Staats­an­ge­hö­rig­keit gebun­den ist, schafft ein Demo­kra­tie­de­fi­zit. An der dies­jäh­ri­gen Frau­en­ses­si­on setz­te sich die Kom­mis­si­on für Einwohner*innenstimmrecht des­halb für eine Aus­wei­tung der poli­ti­schen Rech­te unge­ach­tet der Staats­bür­ger­schaft ein.

Da der­zeit staats­bür­ger­li­che Rech­te in der Schweiz in der Regel an die schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit gebun­den sind, hat­te 2020 ein Vier­tel der stän­di­gen Wohn­be­völ­ke­rung der Schweiz auf natio­na­ler Ebe­ne kei­ne poli­ti­schen Mitspracherechte.

Ande­rer­seits exis­tiert in der  Schweiz man­cher­orts seit 1849 das kom­mu­na­le und seit 1979 das kan­to­na­le Stimm- und Wahl­recht für Einwohner*innen ohne schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit – jedoch mit sehr unter­schied­li­chen Bestim­mun­gen bezüg­lich Auf­ent­halts­sta­tus und Wohn­sitz­dau­er. Auf kan­to­na­ler Ebe­ne ist dies in den Kan­to­nen Neu­en­burg und Jura der Fall. Auf kom­mu­na­ler Ebe­ne ist es zudem in den Kan­to­nen Jura, Neu­en­burg, Frei­burg, Waadt, Genf, Basel-Stadt, Appen­zell Aus­ser­rho­den und Grau­bün­den zuge­las­sen oder vor­ge­schrie­ben. Das pas­si­ve Wahl­recht (die Mög­lich­keit, sich selbst zur Wahl zu stel­len) besteht in allen Gemein­den der genann­ten West­schwei­zer Kan­to­ne, wäh­rend die betref­fen­den Deutsch­schwei­zer Kan­to­ne des­sen Gewäh­rung ihren Gemein­den über­las­sen. In rund 600 Gemein­den kön­nen Men­schen ohne schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit so wäh­len und abstim­men und 2015 waren gesamt­schwei­ze­risch 148 von ihnen in Gemein­de­le­gis­la­ti­ven aktiv.

Keine Mitsprache trotz Repräsentation

Auf Bun­des­ebe­ne sowie in den meis­ten deutsch­spra­chi­gen Kan­to­nen haben Einwohner*innen ohne schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit also kein poli­ti­sches Mit­spra­che­recht – obwohl sie im Pro­porz­sys­tem der Schweiz reprä­sen­tiert wer­den. Die einem Kan­ton zuste­hen­den Sit­ze im Natio­nal­rat wer­den näm­lich von der gesam­ten stän­di­gen Wohn­be­völ­ke­rung abge­lei­tet, wel­che aus­län­di­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge mit einer Anwe­sen­heits­be­wil­li­gung für min­des­tens 12 Mona­te ein­schliesst.

Ledig­lich zah­len­mäs­sig reprä­sen­tiert zu wer­den, genügt jedoch nicht, denn die Erfah­run­gen und Per­spek­ti­ven von Men­schen ohne schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit wer­den damit nicht ein­be­zo­gen. Die­ses Demo­kra­tie­de­fi­zit (Blat­ter et al. 2016) wird nur beho­ben, wenn die Einwohner*innen, deren All­tag von poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen beein­flusst wird, ein poli­ti­sches Mit­spra­che­recht haben (Abi­zadeh 2008; Bau­böck 2005). Auch im NCCR Poli­cy Brief kurz und bün­dig #20 zu inklu­si­ve­ren Wahl­rech­ten wird deut­lich, dass Men­schen dort wäh­len möch­ten, wo sie leben.

Wer sind die Einwohner*innen der Schweiz?

Der Begriff «Einwohner*innen der Schweiz» bezieht sich auf die stän­di­ge Wohn­be­völ­ke­rung, die per 31. Dezem­ber 2020 8’670’300 Men­schen umfass­te. 75% davon besas­sen die schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit und die rest­li­chen 25% wer­den übli­cher­wei­se als «stän­di­ge aus­län­di­sche Wohn­be­völ­ke­rung» bezeichnet.

Die die­sem Begriff zugrun­de lie­gen­de Unter­schei­dung zwi­schen Schweizer*in und Ausländer*in signa­li­siert Abgren­zung oder Zuge­hö­rig­keit ohne indi­vi­du­el­le Lebens­we­ge oder Selbst­iden­ti­fi­ka­ti­on mit­ein­zu­be­zie­hen (Yuval-Davis 2006; Glick Schil­ler & Sala­zar 2013). Dabei wur­de jede*r fünf­te Einwohner*in ohne schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit in der Schweiz gebo­ren. Von jenen, die nicht in der Schweiz gebo­ren wur­den, woh­nen 24% bereits seit 20 oder mehr Jah­ren, 23% seit zehn bis neun­zehn Jah­ren, wei­te­re 24% seit fünf bis neun Jah­ren und 29% bis zu vier Jah­re in der Schweiz.

«Einwohner*innen ohne schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit» ersetzt des­halb in die­sem Blog­bei­trag den Begriff «aus­län­di­sche Wohn­be­völ­ke­rung». Die­se For­mu­lie­rung wur­de von der Kom­mis­si­on für Einwohner*innenstimmrecht der dies­jäh­ri­gen Frau­en­ses­si­on bewusst gewählt, um sicht­bar zu machen, dass sich in der Schweiz gebo­re­ne und auf­ge­wach­se­ne Men­schen oft nicht als Ausländer*in wahr­neh­men. Dies betrifft ins­be­son­de­re Jugend­li­che, denen ein Migra­ti­ons­hin­ter­grund zuge­schrie­ben wird.

Zugehörigkeit und Inklusion durch politische Rechte

Die Kom­mis­si­on setzt sich dafür ein, dass ana­log zur poli­ti­schen Inklu­si­on der Frau­en mit schwei­ze­ri­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit im Jahr 1971 nun auch Men­schen ohne schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit zu Demo­kra­tie­be­tei­lig­ten (Leim­gru­ber 2016) wer­den. Sie for­dert das akti­ve sowie pas­si­ve Wahl- und Stimm­recht auf Bun­des­ebe­ne für alle Einwohner*innen der Schweiz, die seit min­des­tens fünf Jah­ren in der Schweiz leben.

Indem mög­lichst alle betrof­fe­nen Per­so­nen das Recht zur poli­ti­schen Teil­ha­be erhal­ten, wird nicht nur das oben erwähn­te Demo­kra­tie­de­fi­zit beho­ben, son­dern ihre Per­spek­ti­ven kön­nen ein­be­zo­gen (Perez 2019) und poli­ti­sche Ent­schei­de und deren Umset­zung brei­ter abge­stützt wer­den. Durch die Ein­bin­dung mög­lichst vie­ler Einwohner*innen wür­den deren Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl und die Funk­ti­ons­fä­hig­keit des föde­ra­lis­ti­schen, par­ti­zi­pa­ti­ven und sub­si­diä­ren Sys­tems der Schweiz gestärkt.

Was wäre wenn?

Wie eine Unter­su­chung zeigt, wür­de sich ten­den­zi­ell kaum etwas an Abstim­mungs­re­sul­ta­ten ändern, wenn poli­ti­sche Rech­te inklu­si­ver gestal­tet wer­den wür­den. Und dort, wo dies mög­lich ist, stim­men Einwohner*innen ohne Schwei­zer Staats­an­ge­hö­rig­keit weni­ger oft ab als sol­che mit Schwei­zer Staats­an­ge­hö­rig­keit (Rue­din 2018).

Die zen­tra­le Fra­ge ist jedoch nicht, ob sich die poli­ti­sche Land­schaft ver­än­dern wür­de. Viel­mehr müss­te gefragt wer­den, ob es denn legi­tim war, dass vor 1971 nur schwei­ze­ri­sche Män­ner poli­ti­sche Ent­schei­de tra­fen und heu­te nur drei Vier­tel der stän­di­gen Wohn­be­völ­ke­rung für alle bestimmen.

Da bis 1971 auch schwei­ze­ri­sche Frau­en von der poli­ti­schen Teil­ha­be aus­ge­schlos­sen waren, ist die umfas­sen­de Asso­zia­ti­on zwi­schen Staats­an­ge­hö­rig­keit und poli­ti­scher Mit­spra­che durch das Frau­en­stimm­recht in der Schweiz erst 50 Jah­re jung. Aus­ser­dem haben Men­schen ohne schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit auf kom­mu­na­ler sowie kan­to­na­ler Ebe­ne bereits ver­schie­dent­lich Mit­spra­che­rech­te. Im Kan­ton Neu­en­burg konn­ten Män­ner ohne schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit gar frü­her kom­mu­nal mit­be­stim­men  als Schwei­ze­rin­nen. Poli­ti­sche Rech­te wer­den in der Schweiz also seit jeher nicht zwin­gend zusam­men mit der Staats­an­ge­hö­rig­keit gedacht und es wäre nun an der Zeit, wie von der Kom­mis­si­on für Einwohner*innenstimmrecht gefor­dert, die­se inklu­si­ver aus­zu­ge­stal­ten und auf alle Einwohner*innen auszudehnen.

Zur Frau­en­ses­si­on
1991 fand die ers­te Frau­en­ses­si­on statt und am 28. und 29. Okto­ber 2021 die zwei­te. 246 Frau­en* aus allen Regio­nen der Schweiz dis­ku­tier­ten ihre dring­lichs­ten Anlie­gen in ver­schie­de­nen Kom­mis­sio­nen und unter­brei­te­ten Par­la­ment und Bun­des­rat kon­kre­te Forderungen.

Hin­weis: Die­ser Bei­trag wur­de am 11.11.21 auf dem Blog des NCCR on the move erstpubliziert.


 

Refe­ren­zen

  •  Abi­zadeh, A. (2008). Demo­cra­tic Theo­ry and Bor­der Coer­ci­on. Poli­ti­cal Theo­ry 36(1), 37–65.
  • Bau­böck, R. (2005). Expan­si­ve Citizenship—Voting Bey­ond Ter­ri­to­ry and Mem­bers­hip, PS: Poli­ti­cal Sci­ence & Poli­tics 38(4), 683–687.
  • Blat­ter, J., Schmid, S. D. & Blätt­ler, A. C. (2017). Demo­cra­tic Defi­ci­ts in Euro­pe: The Over­loo­ked Exclu­si­ve­ness of Nation-States and the Posi­ti­ve Role of the Euro­pean Uni­on, JCMS: Jour­nal of Com­mon Mar­ket Stu­dies55(3), 449–467.
  • Rue­din, D. (2018). Par­ti­ci­pa­ti­on in Local Elec­tions: Why Don’t Immi­grants Vote More? Par­lia­men­ta­ry Affairs 71(2), 243–262.
  • Glick Schil­ler, N. & Sala­zar, N. B. (2013). Regimes of Mobi­li­ty Across the Glo­be, Jour­nal of Eth­nic and Migra­ti­on Stu­dies 39(2), 183–200.
  • Leim­gru­ber, Wal­ter (2016). Demo­kra­ti­sche Rech­te auf Nicht-Staats­bür­ger aus­wei­ten. In: Chris­ti­ne Abbt & Johan Rochel (Hrsg.) Migra­ti­ons­land Schweiz. Hier und Jetzt, 21–37.
  • Perez, C. C. (2019). Invi­si­ble Women: Expo­sing Data Bias in a World Desi­gned for Men. Ran­dom House.
  • Yuval-Davis, N. (2006). Belon­ging and the poli­tics of belon­ging. Pat­terns of Pre­ju­di­ce 40(3), 197–214.

Bild: unsplash.com

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