Demokratie in einer globalisierten Gesellschaft

Der fol­gen­de Text ist die Zusam­men­fas­sung des Eröff­nungs­re­fe­rats der 8. Aar­au­er Demo­kra­tietage vom 17. und 18. März 2016. 

Aarauer Demokratietage

Man wan­dert in der Regel nicht aus, um anders­wo abseits zu ste­hen, son­dern um sich dort ein neu­es Leben auf­zu­bau­en. Dazu gehört die gesell­schaft­li­che Teil­ha­be, die aus vie­len Facet­ten, auch einer poli­ti­schen, besteht. Im Fran­zö­si­schen gibt es den Aus­druck citoy­enne­té für die­se Art von Teil­ha­be. Ein citoy­en ist nicht jemand, der ein­fach Bür­ger eines Lan­des ist, son­dern sich aktiv ein­bringt, der mit sei­ner Hal­tung und sei­nem Enga­ge­ment die Gesell­schaft und den Staat erst aus­macht. Citoy­enne­té ist eine Form der Par­ti­zi­pa­ti­on, die nicht an einen beson­de­ren lega­len Sta­tus gebun­den sein muss und die heu­te durch zuneh­men­de Mobi­li­tät und mul­ti­ple Zuge­hö­rig­kei­ten immer häu­fi­ger staa­ten­über­grei­fend existiert.

Gene­rell ist eine Trans­na­tio­na­li­sie­rung des Lebens­stils fest­zu­stel­len, eine Ver­bun­den­heit mit zwei und mehr Län­dern, aus denen Tei­le der Fami­lie stam­men, mit denen man sozia­le oder wirt­schaft­li­che Bezie­hun­gen pflegt, in denen man sich kul­tu­rell ver­an­kert fühlt. Die Men­schen wer­den „mul­ti­lo­kal“ oder „orts­po­ly­gam“, bau­en sich sozia­le Net­ze auf, die sich über die Staa­ten hin­weg auf­span­nen. In der Regel domi­niert daher auch ein prag­ma­ti­sches Ver­hält­nis zu Staatsbürgerschaften.

«Die Men­schen, die hier leben, sind immer häu­fi­ger auch Bür­ger oder Betei­lig­te ande­rer staat­li­cher Sys­te­me, wäh­rend vie­le Men­schen mit Schwei­zer Pass nicht hier leben und eben­falls Teil ande­rer Sys­te­me sind.»

Wal­ter Leimgruber 

Dop­pel­te Staats­bür­ger­schaf­ten erfah­ren poli­tisch zuneh­mend Aner­ken­nung. Vor allem Aus­wan­de­rungs­län­der för­dern sie, weil sie befürch­ten, sonst die Ver­bin­dung zu ihren aus­ge­wan­der­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­gern zu ver­lie­ren. Was bedeu­ten zuneh­men­de Mobi­li­tät, trans­na­tio­na­le Netz­wer­ke und mehr­fa­che Staats­bür­ger­schaf­ten für das poli­ti­sche Sys­tem, das bis­her auf den ein­zel­nen Staat aus­ge­rich­tet gewe­sen ist, und was heisst das ins­be­son­de­re für die Demo­kra­tie als das zen­tra­le poli­ti­sche Ele­ment unse­res poli­ti­schen Systems?

Die Men­schen, die hier leben, sind immer häu­fi­ger auch Bür­ger oder Betei­lig­te ande­rer staat­li­cher Sys­te­me, wäh­rend vie­le Men­schen mit Schwei­zer Pass nicht hier leben und eben­falls Teil ande­rer Sys­te­me sind. Die­se ver­schie­de­nen Sys­te­me wir­ken auf­ein­an­der ein.

Daher ist es nötig, poli­ti­sche Teil­ha­be offe­ner und brei­ter zu den­ken. Die Gesell­schaft bie­tet grund­sätz­lich vie­le Mög­lich­kei­ten, sich unab­hän­gig von der Staats­zu­ge­hö­rig­keit poli­tisch ein­zu­brin­gen: Man wird Mit­glied in Ver­ei­nen, arbei­tet frei­wil­lig in Insti­tu­tio­nen, man tut mit in Schul- oder Gemein­de­kom­mis­sio­nen. All dies geschieht auch, doch in viel zu klei­nem Aus­mass. Die Grün­de dafür sind das Unwis­sen der Einen und das Untä­tig­sein der Ande­ren: Vie­le, die in die Schweiz ein­wan­dern, ken­nen die Mecha­nis­men der Gesell­schaft zu wenig, weil es in ihren Her­kunfts­län­dern anders läuft.

Die demo­kra­ti­schen Mit­spra­che- und Mit­ge­stal­tungs­rech­te sind zudem oft nicht mar­kiert als offen für alle. Die Ein­hei­mi­schen ihrer­seits tun wenig, um das Wis­sen um das Funk­tio­nie­ren die­ser Gesell­schaft zu ver­mit­teln. Einer­seits ist es ihnen so ver­traut, dass sie gar nicht mer­ken, dass es ande­ren unver­traut ist, ande­rer­seits gehen sie von einer Hol‑, nicht von einer Bring­schuld aus. Citoy­enne­té wäre daher zuerst ein­mal die Ein­füh­rung in das poli­ti­sche Sys­tem der Schweiz, um dann mit die­sem Wis­sen Mit­spra­che- und Mit­ent­schei­dungs­mög­lich­kei­ten zu erschliessen.

Der ers­te Grund, war­um eine brei­te poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on sinn­voll erscheint, ist ein prak­ti­scher: Denn ohne die­ses Ein­bin­den mög­lichst vie­ler Bewoh­ner wird das Sys­tem Scha­den neh­men. Wenn immer mehr abseits ste­hen, wenn immer mehr Men­schen sich nicht für die all­ge­mei­nen Belan­ge inter­es­sie­ren und enga­gie­ren, ist ein poli­ti­sches Sys­tem, das der­art föde­ra­lis­tisch, par­ti­zi­pa­tiv und sub­si­di­är wie das schwei­ze­ri­sche auf­ge­baut ist, immer weni­ger funk­ti­ons­fä­hig. Wir brau­chen die Köp­fe und Ideen von mög­lichst vie­len Bewoh­ne­rin­nen und Bewohnern.

Neben die­sem eher prag­ma­ti­schen Grund für eine poli­ti­sche Ein­bin­dung der Migran­tin­nen und Migran­ten gibt es aber auch einen theo­re­ti­schen. Es stellt sich die Fra­ge, ob ein poli­ti­sches Sys­tem, in dem gros­se Tei­le der Bevöl­ke­rung von der Mit­spra­che aus­ge­schlos­sen sind, als Demo­kra­tie bezeich­net wer­den kann. Gibt es eine Gren­ze, ab der eine Gesell­schaft nicht mehr als demo­kra­tisch ange­se­hen wer­den kann? Demo­kra­tie­theo­re­tisch lässt sich kaum begrün­den, dass wesent­li­chen Antei­len der Bevöl­ke­rung ent­spre­chen­de Rech­te vor­ent­hal­ten wer­den. Demo­kra­tie basiert auf einer uni­ver­sa­lis­ti­schen Logik der Par­ti­zi­pa­ti­on, natio­nal­staat­li­che Zuge­hö­rig­keit hin­ge­gen folgt einer exklu­die­ren­den Logik. Hier liegt ein wesent­li­cher Wider­spruch natio­nal­staat­li­cher Demo­kra­tie, der sich mit zuneh­men­der Mobi­li­tät immer grös­se­rer Grup­pen stär­ker akzentuiert.

«Poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on mög­lichst aller, die von Ent­schei­dun­gen betrof­fen sind, ist kein Gna­den­akt für die­je­ni­gen, denen die Mit­spra­che gewährt wird, son­dern von direk­tem Inter­es­se für das Staats­we­sen und die Gesellschaft.»

Wal­ter Leimgruber 

Ein wei­te­res Argu­ment für ein brei­tes Stimm­recht liegt in der Erfah­rung, dass eine breit abge­stütz­te Ent­schei­dungs­fin­dung eine Gesell­schaft frik­ti­ons­lo­ser funk­tio­nie­ren lässt. Feh­len­de Par­ti­zi­pa­ti­on von immer grös­se­ren Grup­pen wird die Demo­kra­tie mit der Zeit beein­träch­ti­gen, weil die­se Grup­pen anfan­gen, ihre Inter­es­sen auf ande­re Art durch­zu­set­zen und weil inner­halb des Sys­tems Par­ti­ku­lär­in­ter­es­sen die Ober­hand gewin­nen. Im Extrem­fall ent­ste­hen Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten. Poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on mög­lichst aller, die von Ent­schei­dun­gen betrof­fen sind, ist also kein Gna­den­akt für die­je­ni­gen, denen die Mit­spra­che gewährt wird, son­dern von direk­tem Inter­es­se für das Staats­we­sen und die Gesellschaft.

Die bür­ger­li­chen Rech­te, die poli­ti­schen Rech­te und die sozia­len Rech­te bil­de­ten seit dem Beginn des Sozi­al­staa­tes die Tri­as der staat­li­chen Zuge­hö­rig­keit, erklär­te Tho­mas H. Mar­shall in sei­nem berühm­ten, 1950 publi­zier­ten Essay. Doch heu­te ver­lau­fen die Trenn­li­ni­en ganz anders: Die poli­ti­schen Rech­te gehö­ren den Staats­bür­gern, die bür­ger­li­chen, die immer mehr zu uni­ver­sell geschütz­ten Men­schen­rech­ten gewor­den sind, gehö­ren allen, egal, wel­chen Sta­tus sie in einem Land haben, denn Rede‑, Ver­samm­lungs- und Mei­nungs­frei­heit sind nicht an einen bestimm­ten lega­len Sta­tus gebun­den. Vie­le grund­le­gen­de Rech­te wer­den daher heu­te nicht mehr durch das Staats­bür­ger­recht bestimmt, son­dern durch Men­schen­rechts­ver­ein­ba­run­gen. Die sozia­len Rech­te aber gehö­ren der Grup­pe, die einen bestimm­ten Auf­ent­halts­sta­tus besitzt, wel­cher aber nicht von der staat­li­chen Zuge­hö­rig­keit abhän­gig ist.

Der wesent­li­che Unter­schied besteht heu­te nicht mehr zwi­schen den Staats­bür­gern und den Aus­län­dern, son­dern zwi­schen denen, die ein siche­res und sta­bi­les Auf­ent­halts­recht haben, und denen, die das nicht haben. Der Zugang zu die­sem Auf­ent­halts­sta­tus ist also das Ent­schei­den­de, nicht die Staats­bür­ger­schaft. Es ent­stand daher ein Zwi­schen­sta­tus zwi­schen Staats- und Welt­bür­ger, etwa deni­zen oder Wohn­bür­ger genannt. Unter die­sen Begrif­fen wird ein auto­ma­ti­scher Zugang zu die­sen Rech­ten auch für Nicht-Staats­bür­ger nach einer bestimm­ten Auf­ent­halts­dau­er ver­stan­den. Gleich­zei­tig wer­den aber die ent­schei­den­den Wei­chen­stel­lun­gen gera­de in der Sozi­al­po­li­tik von den Staats­bür­gern getrof­fen, wesent­li­che Tei­le der Betrof­fe­nen also aus­ge­schlos­sen. Das kann lang­fris­tig nicht funk­tio­nie­ren. Die Sozi­al­wer­ke sehen sich ange­sichts der Glo­ba­li­sie­rung vor enor­men Her­aus­for­de­run­gen, die nur gelöst wer­den kön­nen, wenn Lösun­gen auf der Ebe­ne aller Betrof­fe­nen gesucht werden.

«Der wesent­li­che Unter­schied besteht heu­te nicht mehr zwi­schen den Staats­bür­gern und den Aus­län­dern, son­dern zwi­schen denen, die ein siche­res und sta­bi­les Auf­ent­halts­recht haben, und denen, die das nicht haben. Der Zugang zu die­sem Auf­ent­halts­sta­tus ist also das Ent­schei­den­de, nicht die Staatsbürgerschaft.»

Wal­ter Leimgruber 

Wir sind heu­te als Bür­ger und Bewoh­ner eines Staa­tes auf den unter­schied­lichs­ten Ebe­nen mit Rech­ten aus­ge­stat­tet, die nicht mehr als Ein­heit gedacht wer­den kön­nen. Wir beto­nen die staats­bür­ger­li­che Ebe­ne der Zuge­hö­rig­keit über­aus stark, neh­men die glo­ba­le Ebe­ne der bür­ger­li­chen Frei­hei­ten als selbst­ver­ständ­lich und ver­nach­läs­si­gen die Ebe­ne der sozia­len Rechte.

Eine unmit­tel­ba­re und voll­stän­di­ge Gleich­stel­lung aller Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner hat poli­tisch kei­ne Chan­cen, wie ver­schie­de­ne Abstim­mun­gen gezeigt haben, dürf­te auch gar nicht sinn­voll sein, da neu ankom­men­de und nur zeit­lich begrenzt hier leben­de Men­schen weder das glei­che Inter­es­se an der loka­len Gemein­schaft haben noch die glei­che Ver­ant­wor­tung tra­gen müs­sen. Sinn­voll wäre eine Abstu­fung, so dass die Men­schen nach einem bestimm­ten Zeit­raum bei loka­len Belan­gen, in die man sich am schnells­ten ein­lebt, mit­be­stim­men kön­nen, in einem wei­te­ren Schritt bei kan­to­na­len und in einem drit­ten bei natio­na­len. Das wür­de dem Staats­auf­bau ent­spre­chen, aber auch eine sinn­vol­le Ent­wick­lungs­li­nie vom kon­kre­ten Umfeld zu zuneh­mend abs­trak­te­ren Ebe­nen der Poli­tik und der Gesell­schaft defi­nie­ren, was man zugleich als Lern­pro­zess ver­ste­hen und för­dern könnte.

In einer Welt, die immer stär­ker von Mobi­li­tät geprägt ist, wird man sich aber auch Gedan­ken dar­über machen müs­sen, ob der Natio­nal­staat als Akti­ons­ra­di­us von Demo­kra­tie genügt.

Das Ver­spre­chen des Natio­nal­staats ist die exklu­si­ve Deckungs­gleich­heit von Gesell­schaft, Poli­tik und Ter­ri­to­ri­um, also von sozia­lem, poli­ti­schem und geo­gra­fi­schem Raum. Nun erle­ben wir spä­tes­tens seit dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs bei einer zuneh­men­den Anzahl grenz­über­schrei­ten­der wirt­schaft­li­cher, sozia­ler und poli­ti­scher Pro­zes­se eine Eman­zi­pa­ti­on des sozia­len vom geo­gra­fi­schen Raum. Sozi­al­räu­me und geo­gra­phi­sche Räu­me stim­men daher immer weni­ger über­ein. Die Grün­de für die­se Ent­wick­lung sieht Lud­ger Pries im „Zusam­men­schrump­fen“ des Flä­chen­raums bei gleich­zei­ti­ger „Auf­sta­pe­lung“ und „Aus­deh­nung“ sozia­ler Räu­me. In der Fol­ge ver­liert der Natio­nal­staat als Refe­renz­rah­men für wirt­schaft­li­che, sozia­le und poli­ti­sche Pro­zes­se an Bedeu­tung. Es wäre daher zu über­le­gen, wie staats­bür­ger­schaft­li­che Model­le jen­seits des räum­lich gedach­ten Natio­nal­staa­tes funk­tio­nie­ren könnten.

Wäre es also denk­bar, sich die Aus­übung demo­kra­ti­scher Rech­te in Zukunft neu vor­zu­stel­len? Einer­seits wür­de es selbst­ver­ständ­li­cher, dass Men­schen in zwei oder sogar mehr Staa­ten mit­be­stim­men dür­fen, weil eben immer mehr Men­schen zwei oder mehr Päs­se besit­zen. Das exis­tiert als Mög­lich­keit heu­te schon, wäre also ledig­lich eine quan­ti­ta­ti­ve Aus­wei­tung bereits bestehen­der demo­kra­ti­scher Rechte.

Zwei­tens wür­den Men­schen ver­mehrt Mit­spra­che­rech­te bekom­men, die nicht Bür­ger, aber Bewoh­ner eines bestimm­ten Ter­ri­to­ri­ums sind. Dies hin­ge­gen wäre eine qua­li­ta­ti­ve Aus­wei­te­rung, da an vie­len Orten noch nicht vor­han­den. Eine sol­che Aus­wei­tung der Zivil­ge­sell­schaft könn­te ange­sichts der grenz­über­schrei­ten­den Akti­vi­tä­ten ein drin­gend benö­tig­tes Gegen­ge­wicht demo­kra­ti­scher Kon­trol­le schaf­fen, wel­ches das heu­ti­ge Ungleich­ge­wicht zwi­schen fak­ti­scher Glo­ba­li­sie­rung fast aller Lebens­be­rei­che einer­seits und staat­li­cher Begren­zung der Ent­schei­dungs­me­cha­nis­men ande­rer­seits kor­ri­gie­ren und demo­kra­tisch ver­fass­ten Gre­mi­en wie­der mehr Macht ein­räu­men würde.

Doch um die­ses besag­te Ungleich­ge­wicht wirk­lich behe­ben oder zumin­dest ver­klei­nern zu kön­nen, wären wohl noch radi­ka­le­re Schrit­te der Demo­kra­ti­sie­rung not­wen­dig, näm­lich die Aus­wei­tung demo­kra­ti­scher Ent­schei­de über ein­zel­ne Staa­ten hin­aus, also die gemein­sa­me demo­kra­ti­sche Ein­fluss­nah­me von Men­schen, die in meh­re­ren Staa­ten leben.


Foto: Zen­trum für Demo­kra­tie Aar­au (ZDA)

Lay­out: Pas­cal Burkhard

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