Der Doppelproporz als Frischzellenkur fürs Parlament

Wie wür­de sich die Ein­füh­rung des Dop­pel­pro­por­zes bei den Natio­nal­rats­wah­len inhalt­lich aus­wir­ken? Eine Unter­su­chung anhand der smart­vo­te-Daten von 2015 offen­bart eine erheb­li­che Alters­kluft und zeigt auf, wel­che Aus­wir­kun­gen der Dop­pel­pro­porz auf die Pola­ri­sie­rung der gros­sen Kam­mer hätte.

Die Prä­fe­ren­zen jün­ge­rer Men­schen fin­den schlech­ter Ein­gang in die Poli­tik als die­je­ni­gen der älte­rern Bür­ge­rin­nen und Bür­ger. Dar­an sind die Jun­gen aber nicht nur ein­fach selbst schuld, weil sie sich gene­rell weni­ger poli­tisch betei­li­gen1 — denn das ist noch­mals eine ande­re Geschich­te.

Viel­mehr ist es so, dass das heu­ti­ge Ver­fah­ren zur Wahl des Natio­nal­ra­tes die Posi­tio­nen älte­rer Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker im Ver­hält­nis zu ihrem tat­säch­li­chen Wäh­ler­an­teil stär­ker gewich­tet als die­je­ni­gen ihrer jün­ge­ren Kon­kur­renz – wel­che mit­un­ter deut­lich anders ent­schei­den wür­de. Das­sel­be gilt auch für die Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker gros­ser Par­tei­en gegen­über den­je­ni­gen klei­ner Par­tei­en. Doch von Anfang an.

Die Krux des Wahlsystems

In demo­kra­ti­schen Wah­len gilt all­ge­mein das one (wo)man one vote-Prin­zip, also der Grund­satz, dass die Stim­me jeder Bür­ge­rin und jedes Bür­gers gleich viel zählt2. Wie nahe ein Wahl­sys­tem die­sem – von Mathe­ma­ti­kern als Erfolgs­wert­gleich­heit aller Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler bezeich­ne­ten – Ide­al kommt, lässt sich berech­nen. Der Sta­tus Quo in der Schweiz lässt dies­be­züg­lich deut­lich zu wün­schen übrig3.

Das Grund­pro­blem besteht dar­in, dass die Wahl­re­sul­ta­te heu­te für jeden Wahl­kreis iso­liert ermit­telt wer­den. Denn wie etwa Clau­dio Kus­ter zurecht bemerkt, gibt es gegen­wär­tig die Schwei­zer Natio­nal­rats­wah­len eigent­lich gar nicht. Statt­des­sen fin­den streng genom­men 26 ver­schie­de­ne Natio­nal­rats­wah­len statt – in jedem Wahl­kreis bzw. Kan­ton eine. Die Orga­ni­sie­rung des Wahl­rechts ist ein alter Zopf und auch im Fal­le der gros­sen Par­la­ments­kam­mer weit­ge­hend kan­to­na­lem Recht unterstellt.

Die Auf­tei­lung in 26 Wahl­krei­se sorgt dafür, dass unnö­tig hohe Wahl­hür­den für klei­ne­re Par­tei­en ent­ste­hen und somit ein gewis­ser Teil der Stim­men schlicht ver­lo­ren geht oder bes­ten­falls nur indi­rekt über Lis­ten­ver­bin­dun­gen – auf ziem­lich obsku­re, zumal für die Wäh­ler­schaft schlecht nach­voll­zieh­ba­re Wei­se4 – Ein­gang ins Wahl­re­sul­tat findet.

In einem klei­nen Kan­ton wie Appen­zell Aus­ser­rho­den kann es so durch­aus pas­sie­ren, dass sage und schrei­be 64 % der Stim­men unbe­rück­sich­tigt blei­ben. Da der Kan­ton nur über einen Natio­nal­rats­sitz ver­fügt, reich­te 2015 die rela­ti­ve Mehr­heit von rund einem Drit­tel der Stim­men für den Wahl­ge­win­ner David Zuber­büh­ler aus, um ins Par­la­ment ein­zu­zie­hen. Alle ande­ren Stim­men fan­den auf­grund der Wahl­kreis­schran­ken des aktu­el­len Sys­tems kei­ne demo­kra­ti­sche Repräsentation.

Alles unter einen Hut bringen

Eine nahe­lie­gen­de, wenn auch kaum mehr­heits­fä­hi­ge Lösung des Pro­blems wäre, die Wahl­krei­se ein­fach auf­zu­he­ben – oder zumin­dest mas­siv zu ver­grös­sern, wie etwa von Peter Moser vor­ge­schla­gen. Deut­lich weni­ger radi­kal gestal­tet sich dem­ge­gen­über die Ein­füh­rung des Dop­pel­pro­por­zes – gemein­hin als Dop­pel­ter Pukels­heim bezeich­net, wel­cher auf kan­to­na­ler Ebe­ne – etwa in Zürich – bereits über zehn Jah­re gute Diens­te leis­tet und rich­tig ange­wen­det zu genau­so hoher Erfolgs­wert­gleich­heit wie die Auf­he­bung der Wahl­krei­se führt5.

Das Dop­pel im Wort deu­tet bereits dar­auf­hin, was der ent­schei­den­de Gewinn die­ses Ver­fah­rens ist: Statt sich mit dem Dilem­ma auf­hal­ten zu müs­sen, sich für die Erfül­lung eines der bei­den Pro­por­tio­na­li­täts­kri­te­ri­en zu ent­schei­den (glei­che Ver­tre­tung aller Lan­des­tei­le in Form der Wahl­krei­se vs. glei­che Ver­tre­tung aller Wäh­le­rIn­nen), wer­den bei­de zugleich optimiert.

Mathe­ma­tisch ist dies nicht immer hun­dert­pro­zen­tig mög­lich, wes­halb dann die Erfolgs­wert­gleich­heit der Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler höher gewich­tet wird6. Den­noch ver­mag das Ver­fah­ren die gleich­mäs­si­ge Ver­tre­tung der Lan­des­tei­le in wei­ten Tei­len sicher­zu­stel­len, sodass die Eid­ge­nos­sen­schaft nicht in ihren Grund­wer­ten erschüt­tert wür­de7. Wie die Sitz­ver­tei­lung nach den Natio­nal­rats­wah­len 2015 unter dem Dop­pel­pro­porz aus­ge­fal­len wäre, zeigt die fol­gen­de Grafik:

Was ins Auge sticht: Sechs Jung­par­tei­en wür­den ihren jewei­li­gen Mut­ter­par­tei­en ins­ge­samt neun Sit­ze abluch­sen. Dies hät­te gehö­ri­ge Aus­wir­kun­gen auf die Alters­zu­sam­men­set­zung der gros­sen Par­la­ments­kam­mer, deren Durch­schnitts­al­ter dank des Wahl­er­folgs der Jung­par­tei­en um ein vol­les Jahr sänke:

Erklä­rung:
Die Punk­te reprä­sen­tie­ren die ein­zel­nen Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er. Der Kas­ten rechts davon – auch “Box­plot” genannt – ver­eint ver­schie­de­ne sta­tis­ti­sche Mas­se zur Alters­ver­tei­lung in sich. In obi­ger Gra­fik sind dies von zuoberst bis zuun­ters: Maxi­mum (Ältes­te), obe­res Quar­til (3/4 sind jün­ger oder gleich alt), Medi­an, arith­me­ti­sches Mit­tel, unte­res Quar­til (3/4 sind älter oder gleich alt) und Mini­mum (Jüngs­te).

Der hypo­the­thi­sche Doppelproporz

Grund­sätz­lich sind im Dop­pel­pro­porz kei­ne Lis­ten­ver­bin­dun­gen vor­ge­se­hen, da alle Stim­men einer Par­tei zuerst auf der Ebe­ne des gesam­ten Wahl­kör­pers zusam­men­ge­rech­net und erst danach wie­der auf die ein­zel­nen Wahl­krei­se her­un­ter­ge­bro­chen wer­den. Es erscheint des­halb äus­serst wahr­schein­lich, dass Par­tei­en, die im heu­ti­gen Sys­tem kaum einen eige­nen Sitz zu errei­chen ver­mö­gen und im Bewusst­sein des­sen Lis­ten­ver­bin­dun­gen ein­ge­hen, im Dop­pel­pro­porz auch ent­spre­chend ratio­nal agie­ren wür­den. Das heisst, sie wür­den wahr­schein­lich direkt auf den Lis­ten ihrer befreun­de­ten grös­se­ren Par­tei antre­ten oder sich ander­wei­tig zusam­men­schlies­sen. Dem­ge­gen­über ste­hen irra­tio­nal han­deln­de, bzw. prin­zi­pi­en­fes­te Par­tei­en, die bereits heu­te kei­ne Lis­ten­ver­bin­dun­gen ein­ge­hen (in den meis­ten Kan­to­nen bei­spiels­wei­se die Schwei­zer Demo­kra­ten oder die Inter­g­ra­le Politik).

Des­halb wur­den für die vor­lie­gen­de Ana­ly­se die Lis­ten­ver­bin­dun­gen einer Par­tei berück­sich­tigt, sobald es ihr nicht für einen eige­nen Sitz reich­te (so wur­de zum Bei­spiel in Bern die Lis­te „Alpen­par­la­ment“ der SVP zuge­rech­net, da sie nur mit ihr eine Lis­ten­ver­bin­dung ein­ge­gan­gen ist). Auf­grund von Mehr­deu­tig­kei­ten, d. h. Lis­ten­ver­bin­dun­gen mit meh­re­ren Par­tei­en, wel­che jeweils eige­ne Sit­ze erlang­ten, war dies aller­dings in eini­gen weni­gen Fäl­len nicht mög­lich. Die­se Stim­men muss­ten somit im hypo­the­ti­schen Dop­pel­pro­porz unbe­rück­sich­tigt bleiben.

Ins­ge­samt wür­den im Dop­pel­pro­porz 24 Natio­nal­rats­sit­ze anders besetzt. Zu erwäh­nen bleibt, dass die Resul­ta­te trotz aller ange­wand­ten Sorg­falt mit einer gewis­sen Vor­sicht zu genies­sen sind. Denn je nach dem, wie stark die Par­tei­en ihre Auf­stel­lung änder­ten, wür­de der dop­pel­te Pukels­heim in der Rea­li­tät womög­lich deut­lich anders aus­fal­len. Was auf jeden Fall aber blie­be, wäre eine fai­re­re Ver­tre­tung klei­ner Parteien. 

In welchen Bereichen der Doppelproporz einen Unterschied machen würde

Nun ist anzu­neh­men, dass sich die ver­än­der­te Zusam­men­set­zung des Natio­nal­ra­tes – ins­be­son­de­re die Ver­jün­gung – auch sub­stan­zi­ell aus­wir­ken dürf­te. So liegt etwa die Ver­mu­tung nahe, dass sich die Prä­fe­ren­zen bei gesell­schafts- und netz­po­li­ti­schen The­men sicht­bar unterscheiden.

Um die­ser Fra­ge nach­zu­ge­hen, wur­den anhand der Ant­wor­ten der Natio­nal­rats­kan­di­die­ren­den zu den 75 smart­vo­te-Fra­gen 2015 ver­schie­de­ne Mehr­heits­ver­hält­nis­se berech­net: Die pro­zen­tua­le Zustim­mung des tat­säch­li­chen Natio­nal­ra­tes, die des bipro­por­tio­na­len Natio­nal­ra­tes (Dop­pel­pro­porz) sowie jene aller Kan­di­die­ren­den, gewich­tet nach der jewei­li­gen Stim­men­zahl8. Letz­te­re, um die Ergeb­nis­se unter der per­fek­ten Erfolgs­wert­gleich­heit aller Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler zu illus­trie­ren. Was dabei raus­kommt, prä­sen­tiert die fol­gen­de Gra­fik (idea­ler­wei­se im Voll­bild zu betrachten):

Erklä­rung der Hintergrundfarben:
Grün: Alle drei Grup­pen ant­wor­te­ten mehr­heit­lich mit Ja oder eher Ja (bzw. deut­lich mehr aus­ge­ben/mehr aus­ge­ben).
Rot: Alle drei Grup­pen ant­wor­te­ten mehr­heit­lich mit Nein oder eher Nein (bzw. deut­lich weni­ger aus­ge­ben/weni­ger aus­ge­ben).
Oran­ge: Die Mehr­heit in einer der drei Grup­pen weicht von den ande­ren bei­den Mehr­hei­ten ab.
Grau: Alle drei Grup­pen woll­ten mehr­heit­lich gleich viel aus­ge­ben (betrifft nur Budgetfragen).
Inter­ak­ti­vi­tät:
Per Klick auf die Legen­den­ein­trä­ge las­sen sich die Mehr­heits­ver­hält­nis­se unter den bipro­por­tio­nal Gewähl­ten sowie allen Kan­di­da­tIn­nen gewich­tet nach Stim­men­zahl ein- und aus­blen­den. Mit den 3 Knöp­fen links unten lässt sich durch die Fra­gen blättern.

Es fällt auf, dass der direk­te Wäh­ler­wil­len (weis­se Punk­te) häu­fig deut­lich lin­ke­re Posi­tio­nen ein­nimmt – sowohl als der tat­säch­li­che Natio­nal­rat (schwar­ze Punk­te) als auch (in gerin­ge­rem Mas­se) der Natio­nal­rat unter hypo­the­ti­schem Dop­pel­pro­porz (pur­pur­far­be­ne Punkte).

Jung tickt oft anders

Grund­sätz­lich beschrän­ken sich die gröss­ten Abwei­chun­gen nicht nur auf gesell­schafts-/netz­po­li­ti­sche The­men, son­dern umfas­sen auch Fra­gen zu ande­ren Poli­tik­be­rei­chen (Bau­zo­nen­be­gren­zung, Unter­neh­mens­ver­ant­wor­tung, Unter­neh­mens­steu­er­re­form). Den­noch haben sie­ben der zehn Fra­gen mit den gröss­ten Abwei­chun­gen zumin­dest einen gesell­schafts­po­li­ti­schen Bezug.

Um auf die zuvor geäus­ser­te Ver­mu­tung zurück­zu­kom­men, dass für die Unter­schie­de nicht zuletzt die poten­zi­el­le Ver­jün­gung des Natio­nal­ra­tes ent­schei­dend ist, wur­de anhand von Regres­si­ons­ana­ly­sen unter­sucht, auf wel­che Fra­gen das Alter den gröss­ten Ein­fluss aus­übt. Die Regres­si­ons­li­nie in der Gra­fik unten zeigt dabei den Zusam­men­hang zwi­schen der Zustim­mungs­ra­te zu einer smart­vo­te-Fra­ge und dem nach der Stim­men­zahl gewich­te­ten Alter der Kandidierenden.

Erklä­rung:
Die Punk­te reprä­sen­tie­ren die ein­zel­nen Natio­nal­rats­kan­di­die­ren­den 2015, wobei sich die Far­be nach der Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit und die Grös­se nach der Anzahl fik­ti­ver Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler rich­tet. Ein Zustim­mungs­wert von 0 % ent­spricht dabei der Ant­wort­op­ti­on Nein, 25 % eher Nein, 75 % eher Ja und 100 % Ja. Die Regres­si­ons­ge­ra­de (inkl. 95 %-Kon­fi­denz­in­ter­vall) zeigt den Zusam­men­hang zwi­schen dem Alter der Kan­di­da­tIn­nen und der Zustim­mung zu einer smart­vo­te-Fra­ge, gewich­tet nach der jewei­li­gen Stim­men­zahl, um den Ein­fluss des Kan­di­da­tIn­nen­al­ters auf das Gesamt­stim­men­ge­wichts-Mehr­heits­ver­hält­nis zu illus­trie­ren (die weis­sen Punk­te im Dot­plot wei­ter oben). Aus­ge­wählt wer­den kön­nen die­je­ni­gen 10 smart­vo­te-Fra­gen, bei denen der Alters­ef­fekt am stärks­ten ausfällt.

Wenn­gleich obi­ge Gra­fi­ken einen umfas­sen­den Ein­fluss des Alters nahe­le­gen9, gibt es ver­schie­de­ne Fra­gen, bei denen zwar eine star­ke Abwei­chung zwi­schen rea­lem und bipro­por­tio­na­le­m/­Ge­samt­stim­men­ge­wichts-Natio­nal­rat bestehen, das Kan­di­die­ren­den­al­ter jedoch kei­nen oder einen ver­gleichs­wei­se gerin­gen Effekt zeigt. Dazu gehö­ren ins­be­son­de­re die Fra­gen zu den The­men­be­rei­chen Bau­zo­nen­be­gren­zung, Unter­neh­mens­ver­ant­wor­tung, Unter­neh­mens­steu­er­re­form (USR III), Atom­aus­stieg bis 2029, Ver­schär­fung Waf­fen­recht, Trans­pa­renz Par­tei­en­fi­nan­zie­rung, Wer­be­ver­bot für Alko­hol und Tabak.

Wie ver­mu­tet, sind dies aller­dings kei­ne klas­sisch gesell­schafts­po­li­ti­schen Fra­gen. Des­halb lau­tet das vor­läu­fi­ge Fazit: In Fra­gen, bei denen es eher um Ver­tei­lungs­kon­flik­te geht, scheint das Alter der Kan­di­die­ren­den nicht bestim­mend. Bei Fra­gen hin­ge­gen, in denen gesell­schaft­li­che Nor­men und Sit­ten oder Bür­ger­rech­te im Zen­trum ste­hen (Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­über­wa­chung, direk­te akti­ve Ster­be­hil­fe, Can­na­bis­le­ga­li­sie­rung, Adop­ti­ons­recht für gleich­ge­schlecht­li­che Paa­re, auto­ma­ti­sche Organ­spen­de), scheint das Alter doch wesent­lich. Jün­ge­re zei­gen dabei eine deut­lich pro­gres­si­ve­re Haltung.

Geht man davon aus, dass die Posi­tio­nen jun­ger Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker auch eher die Inter­es­sen und Mei­nun­gen der jün­ge­ren Genera­ti­on wider­spie­geln – bspw. in Bezug auf staat­li­che Über­wa­chung – ergibt sich die ein­gangs erwähn­te Unter­re­prä­sen­ta­ti­on jün­ge­rer Bür­ge­rin­nen und Bür­ger. Dass die­se Annah­me nicht aus der Luft gegrif­fen ist, zeigt bspw. die VOTO-Ana­ly­se zum Nach­rich­ten­dienst­ge­setz-Refe­ren­dum10 bei dem das Alter eine gewich­ti­ge Rol­le spiel­te für den Stimm­ent­scheid. Ähn­lich wie die jun­gen Kan­di­die­ren­den in obi­ger Gra­fik waren die jun­gen Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger deut­lich skep­ti­scher gegen­über staat­li­chen Schnüf­fel­kom­pe­ten­zen eingestellt.

Kleine Kantone, grosse Unterschiede

Eine wei­te­re inter­es­san­te Fra­ge ist, wie die Unter­schie­de nach Kan­to­nen unter­teilt aus­fal­len. Für den Dop­pel­pro­porz lässt sich dies nicht direkt zei­gen, da ja gewis­ser­mas­sen Kern des Ver­fah­rens die Auf­he­bung der Wahl­kreis­be­schrän­kung ist. Statt­des­sen kann aber der unver­zerr­te Wäh­ler­wil­len (Gesamt­stim­men­ge­wicht) den rea­len Mehr­heits­ver­hält­nis­sen je Kan­ton gegen­über­ge­stellt wer­den. So erhält man einen Ein­druck, wie stark sich die Ver­zer­run­gen je nach Lan­des­teil unter­schei­den und für wel­che Kan­to­ne der Dop­pel­pro­porz den gröss­ten Demo­kra­tie­ge­winn bräch­te. Die fol­gen­de Schwei­zer­kar­te illus­triert die Resul­ta­te die­ses Vergleichs.

Die Unter­schie­de bei den Bud­get­fra­gen gestal­ten sich ähn­lich, aller­dings auf etwas nied­ri­ge­rem Niveau. Die ent­spre­chen­de Kar­te fin­det sich bei Inter­es­se hier.

Keine Schwächung der Mitte

Schliess­lich besagt ein ver­brei­te­tes Vor­ur­teil gegen­über dem Dop­pel­pro­porz, dass durch den damit mög­li­chen Ein­zug von Klein- und Split­ter­par­tei­en ins Par­la­ment die Pola­ri­sie­rung zunäh­me und schlimms­ten­falls der ordent­li­che Rats­be­trieb behin­dert wür­de. So befürch­tet etwa auch Adri­an Vat­ter eine Schwä­chung der Mit­te­par­tei­en.

Die smart­vo­te-Daten sind gera­de­zu prä­de­sti­niert dafür, etwas Licht ins Dun­kel die­ser Fra­ge zu brin­gen, zumal ander­wei­tig kaum ähn­lich detail­lier­te und umfang­rei­che inhalt­li­che Posi­tio­nie­run­gen nicht-gewähl­ter Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten exis­tie­ren. Anhand der fol­gen­den Gra­fik lässt sich abschät­zen, inwie­weit sich ein Wahl­sys­tem wie der Dop­pel­pro­porz tat­säch­lich auf die Gesamt­po­la­ri­sie­rung des Natio­nal­ra­tes aus­wirk­te11.

Erläu­te­rung:
Der Gra­fik liegt die Berech­nung der Dich­te der Wer­te auf einer laten­ten Dimen­si­on mit­tels der soge­nann­ten Ker­nel Den­si­ty Esti­ma­ti­on zugrun­de. Man kann sich die­se Dar­stel­lungs­form gewis­ser­mas­sen als geglät­te­tes His­to­gramm vor­stel­len. Die aus­ge­füll­ten Flä­chen ver­mit­teln, wie sich die Kan­di­die­ren­den men­gen­mäs­sig über die­se Dimen­si­on ver­tei­len. Die Unter­schie­de zwi­schen den drei ver­schie­de­nen Kate­go­rien sind anhand der Men­gen­dif­fe­ren­zen leicht erkenn­bar. Wei­ter sind die real gewähl­ten Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten unter­halb der Flä­chen anhand ihrer indi­vi­du­el­len Posi­tio­nen ein­ge­zeich­net und ent­spre­chend der Par­tei­far­ben ein­ge­färbt (Punk­te). Sie die­nen so als Hin­weis, um die inhalt­li­che Bedeu­tung die­ser gemein­hin als Links-rechts-Spek­trum bezeich­ne­ten Dimen­si­on ein­schät­zen zu können.

Tat­säch­lich scheint das Gegen­teil der Fall: Die Pola­ri­sie­rung wäre unter dem Dop­pel­pro­porz sowie der per­fek­ten Berück­sich­ti­gung aller Wäh­ler­stim­men gerin­ger, was sich dar­in äus­sert, dass die Mit­te real unter­re­prä­sen­tiert, die Lin­ke und Rechts­aus­sen hin­ge­gen über­re­prä­sen­tiert sind.

Aller­dings gilt für die­ses Resul­tat der Vor­be­halt, dass sich die The­men inner­halb des nor­ma­len Rats­be­trie­bes natür­lich mehr oder weni­ger stark von den smart­vo­te-Fra­gen unter­schei­den. Zumal der smart­vo­te-Fra­ge­bo­gen aber bewusst dar­auf aus­ge­rich­tet ist, poli­ti­sche Unter­schie­de auch inner­halb der Par­tei­en sicht­bar zu machen, dürf­te obi­gem Ver­gleich doch eini­ge Aus­sa­ge­kraft zukommen.


  1. Lutz, G. (2008). Eid­ge­nös­si­sche Wah­len 2007: Wahl­teil­nah­me und Wahl­ent­scheid (Lau­sanne: Selects – FORS).;
    Lutz, G. (2012). Eid­ge­nös­si­sche Wah­len 2011: Wahl­teil­nah­me und Wahl­ent­scheid (Lau­sanne: Selects – FORS).;
    Lutz, G. (2016). Eid­ge­nös­si­sche Wah­len 2015: Wahl­teil­nah­me und Wahl­ent­scheid (Lau­sanne: Selects – FORS).

  2. Balin­ski, M.L., and Young, H.P. (2010). Fair Repre­sen­ta­ti­on: Mee­ting the Ide­al of One Man, One Vote (Broo­kings Insti­tu­ti­on Press).

  3. Pukels­heim, F., und Schuh­ma­cher, C. (2004). Das “neue Zür­cher Zutei­lungs­ver­fah­ren” für Par­la­ments­wah­len. Aktu­el­le Juris­ti­sche Pra­xis (AJP)/Pratique Juri­di­que Actu­el­le (PJA) 5, 505–522.

  4. Ebd.

  5. Ebd.

  6. Die­sen Umstand bezeich­net man als gegen­läu­fi­ge Sitz­ver­schie­bun­gen, wel­che sich im Dop­pel­pro­porz ins­ge­samt nicht ver­mei­den las­sen. Durch­aus mög­lich ist aber eine Ent­schär­fung die­ses Phä­no­mens durch Ein­bau einer sog. Majorz­be­din­gung. Die­se stellt sicher, dass die stärks­te Par­tei in einem Kan­ton auch immer min­des­tens einen Sitz erhält, indem in einem sol­chen Fall die Pro­por­tio­na­li­tät der Wahl­krei­se höher gewich­tet wird als die­je­ni­ge der Par­tei­stär­ken. In vor­lie­gen­der Ana­ly­se trat die­se Form der Sitz­ver­schie­bung jedoch nicht auf, soll heis­sen der oder die Kan­di­da­tIn mit den jeweils meis­ten Stim­men in einem Kan­ton erhielt auch immer einen Sitz.

  7. Ohne­hin erfüllt bereits der Stän­de­rat die Funk­ti­on der Ver­tre­tung der ein­zel­nen Lan­des­tei­le bzw. Kan­to­ne und des­sen Majorz­wahl­ver­fah­ren wür­de von einer Ein­füh­rung des Dop­pel­pro­por­zes bei den Natio­nal­rats­wah­len selbst­ver­ständ­lich nicht tan­giert.

  8. Dazu wur­de jeweils die Zahl fik­ti­ver Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler (Stim­men­zahl ÷ kan­to­na­le Sitz­zahl) berech­net, da pro Wäh­le­rIn je nach Sitz­zahl des jewei­li­gen Kan­to­nes unter­schied­lich vie­le Stim­men abge­ge­ben wer­den kön­nen.

  9. Unter Kon­trol­le für die Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit sind die Ergeb­nis­se in den meis­ten Fäl­len sehr ähn­lich. Um den unver­zerr­ten Ein­fluss des Alters auf die smart­vo­te-Ant­wor­ten zu illus­trie­ren, wur­de in den Gra­fi­ken hier auf eine Dritt­va­ria­b­len­kon­trol­le ver­zich­tet. Denn das nach fik­ti­ver Wäh­le­rIn­nen­zahl gewich­te­te Durch­schnitts­al­ter der ein­zel­nen Par­tei­en unter­schei­det sich mit­un­ter deut­lich, sodass ein Ein­be­zug der Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit in die Regres­si­on den Effekt des Kan­di­da­tIn­nen­al­ters poten­zi­ell unter­schätzt. So ist bspw. das Durch­schnitts­al­ter der SP-Kan­di­da­tIn­nen um mehr als 3 Jah­re tie­fer als das­je­ni­ge der SVP. Ins­ge­samt beträgt die Band­brei­te inner­halb der drei­zehn gröss­ten Par­tei­en über 12 Jah­re.

  10. Bis 40-Jäh­ri­ge lehn­ten die Vor­la­ge mehr­heit­lich ab, die 18–29 Jäh­ri­gen gar mit über 60 % Nein-Stimmenanteil.
    Milic, T., und Küb­ler, D. (2016). VOTO-Stu­die zur eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mung vom 25. Sep­tem­ber 2016 (Lausanne/Aarau/Luzern: FORS/ZDA/LINK).

  11. Die Posi­tio­nen der ein­zel­nen Kan­di­da­tIn­nen wur­den anhand eines Item-Respon­se-Theo­ry-Modells geschätzt – genau­er gesagt anhand des sog. Gra­ded Respon­se Models, wel­ches für ordi­nal­ska­lier­te Ant­wort­ka­te­go­rien wie jene des smart­vo­te-Fra­ge­bo­gens ent­wor­fen wur­de.


Titel­bild: Bos­ton Public Libra­ry (CC-BY), eige­ne Bearbeitung
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