Die Exponiertheit des Finanzsektors prägt die Präferenzen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die weiterführende europäische Integration: Je exponierter ihr Finanzsektor, desto eher unterstützen Länder Reformlösungen, die zu mehr europäischer Integration führen. Ich zeige in meiner Analyse die Dynamik auf, welche den Verhandlungen über die Reformen der Eurozone zugrunde liegt.
Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, warf Österreich, Deutschland und den Niederlanden kürzlich in einem Interview vor, die Reform der Eurozone zu behindern. Aber stellt das die zwischenstaatlichen Verhandlungen, die während der Finanzkrise stattgefunden haben, zutreffend dar?
Wie können die Positionen der einzelnen Länder während diesen Verhandlungen erklärt werden?
In einer kürzlich veröffentlichten Studie im Rahmen des Projekts «EMU Choices» haben wir diese Thematik auf ein paar präzise Antworten herunter gebrochen. Die Präferenzen der Mitgliedstaaten wurden durch das wirtschaftliche Eigeninteresse bestimmt.
Wir haben Daten über die Verhandlungspositionen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zu den europäischen Währungsreformen für die Jahre 2010 bis 2015 gesammelt und untersucht, ob diese Verhandlungen von der Innenpolitik dominiert wurden oder ob wirtschaftliche Überlegungen überwogen. Unsere Resultate zeigen, dass die Exponiertheit des Finanzsektors die Präferenzen der Mitgliedstaaten in Bezug auf weiterführende europäische Integration beeinflusst hat. Je stärker ihr Finanzsektor exponiert war, desto wahrscheinlicher war es, dass die Länder Reformlösungen unterstützen, die zu mehr europäischer Integration führen.
Abbildung 1: Präferenzen der Mitgliedstaaten in Bezug auf weiterführende europäische Integration
Abbildung 1 zeigt, dass Frankreich in Bezug auf die Bankenunion eine stärkere Machtdelegation zur EU befürwortete, während Deutschland, Österreich und die Niederlande in der Tat weniger Unterstützung zeigten. Gleichermassen war Griechenland bei den Steuertransfers ein starker Befürworter höherer Steuertransfers, wohingegen Deutschland einer stärkeren Machtdelegation zur EU entgegenstand.
In der letzten Gruppe für zukünftige Policies, einschließlich der fünf Präsidentenberichte und der Eurobonds, unterstützte Luxemburg die von seinem ehemaligen Premierminister Juncker vorgeschlagene Politik. Zudem haben wir bei der Analyse dieser Positionen festgestellt, dass je größer die Exponiertheit des Finanzsektors eines Landes ist, die Wahrscheinlichkeit steigt, dass von der Regierung dieses Landes eine stärkere Machtdelegation zur EU bevorzugt wird.
Die Exponiertheit des Finanzmarktes prägt Regierungspräferenzen
Weitere europäische Lösungen, entweder in Form von Umverteilung oder als Regulierung der nationalen Haushalts- und Steuerpolitik, können als eine Art der europäischen Integration angesehen werden. Unsere Ergebnisse verdeutlichen, dass eine stärkere wirtschaftliche Interdependenz in der Eurozone zu einer stärkeren Angleichung der Präferenzen beigetragen hat. Ausserdem spielte die innerstaatliche und europäische Parteipolitik eine geringere Rolle als erwartet.[1]
Wir argumentieren, dass Regierungen – insbesondere in Krisenzeiten – als Risikominimierer fungieren und dass sie bei den Entscheidungen über europäische Währungsreformen hauptsächlich von nationalen wirtschaftlichen Erwägungen getrieben wurden. Die verschiedenen Länder waren während der Krise der Eurozone einer unterschiedlich starken wirtschaftlichen Verwundbarkeit ausgesetzt, welche auf eine ungleichmäßige Exponiertheit ihrer Banken gegenüber Schuldnerländern zurückzuführen war. Um das Risiko kostspieliger Rettungsaktionen zu minimieren, unterstützten Länder mit stark exponierten Finanzsektoren eher Lösungen mit einem hohen Grad an europäischer Integration. Im Gegensatz dazu hatten politische Faktoren keine systematischen Auswirkungen.
Als die Blase während der Krise platzte, waren die Schuldner- und Gläubigerländer mit einem ähnlichen Problem konfrontiert: Die Schuldner mussten ihre Schulden zurückzahlen, während die Gläubiger um die Möglichkeit der Rückforderung ihrer Anlagen besorgt waren. Für die Gläubigerländer beinhaltete dies das Risiko, ihre stark exponierten Banken retten zu müssen und damit ihre eigenen Haushalte erheblich zu gefährden, möglicherweise mit erheblichen systemischen Auswirkungen. Um solche Szenarien zu vermeiden, hatten sowohl Gläubiger als auch Schuldner ein Interesse daran, Lösungen auf europäischer Ebene zu finden.
Mit anderen Worten, die entscheidende Frage im Zusammenhang mit den Präferenzen eines Landes war nicht, ob es sich um einen Gläubiger- oder ein Schuldnerland handelte, sondern vielmehr, inwieweit es finanziell anderen EU-Mitgliedstaaten durch hohe Forderungen oder Schulden ausgesetzt war. Unsere Resultate bestätigen somit die Ergebnisse von Armingeon und Cranmer, welche ebenfalls zeigen, dass die Wirtschaftsstruktur, nicht politischen Variablen, Unterschiede in den Präferenzen erklären.
Die europäischen Finanzreformen sind noch lange nicht abgeschlossen. Die Spannungen zwischen der italienischen Regierung und der EU-Kommission bezüglich des italienischen Haushaltsdefizits im Jahr 2019 zeugen davon. Wir gehen davon aus, dass wirtschaftliche Verwundbarkeiten die zukünftigen Verhandlungsergebnisse bestimmen werden. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass, wenn strukturelle wirtschaftliche Faktoren relevant sind, die finanzielle Risikominderung zu einer Präferenzkonvergenz führen und Reformfortschritte ermöglichen wird, unabhängig von den verschiedenen politischen Akteuren an der Macht.
Referenz:
Hinweis: Weitere Informationen finden Sie im Begleitartikel in European Union Politics (gemeinsam verfasst mit Stefanie Bailer, Hanno Degner, Lisa M Dellmuth, Dirk Leuffen, Magnus Lundgren, Jonas Tallberg und Fabio Wasserfallen).
Übersetzung: Irina Fehr
[1] Wir verwenden ein Mass für die gesamten nicht konsolidierten Schulden des Finanzsektors als Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) in Prozent (Eurostat, 2017, siehe Online-Anhang), um die Schulden privater Finanzinstitute in jedem Mitgliedsstaat der EU zu messen. Dieser Indikator zeigt, dass die europäische Staatsschuldenkrise in erster Linie eine Krise des privaten Sektors war (Griechenland ausgenommen).