Je exponierter der Finanzsektor, desto mehr europäische Integration

Die Expo­niert­heit des Finanz­sek­tors prägt die Prä­fe­ren­zen der Mit­glied­staa­ten in Bezug auf die wei­ter­füh­ren­de euro­päi­sche Inte­gra­ti­on: Je expo­nier­ter ihr Finanz­sek­tor, des­to eher unter­stüt­zen Län­der Reform­lö­sun­gen, die zu mehr euro­päi­scher Inte­gra­ti­on füh­ren. Ich zei­ge in mei­ner Ana­ly­se die Dyna­mik auf, wel­che den Ver­hand­lun­gen über die Refor­men der Euro­zo­ne zugrun­de liegt. 

Der Prä­si­dent der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on, Jean-Clau­de Juncker, warf Öster­reich, Deutsch­land und den Nie­der­lan­den kürz­lich in einem Inter­view vor, die Reform der Euro­zo­ne zu behin­dern. Aber stellt das die zwi­schen­staat­li­chen Ver­hand­lun­gen, die wäh­rend der Finanz­kri­se statt­ge­fun­den haben, zutref­fend dar?

Wie können die Positionen der einzelnen Länder während diesen Verhandlungen erklärt werden?

In einer kürz­lich ver­öf­fent­lich­ten Stu­die im Rah­men des Pro­jekts «EMU Choices» haben wir die­se The­ma­tik auf ein paar prä­zi­se Ant­wor­ten her­un­ter gebro­chen. Die Prä­fe­ren­zen der Mit­glied­staa­ten wur­den durch das wirt­schaft­li­che Eigen­in­ter­es­se bestimmt.

Daten und Analysen
Im Rah­men des Pro­jekts sam­mel­ten Wis­sen­schaft­ler aus neun Län­dern sys­te­ma­ti­sche Daten aus Doku­men­ten und Inter­views zu mehr als vier­zig The­men, die auf EU-Ebe­ne dis­ku­tiert wur­den. Die The­men wur­den in eine Ska­la ein­ge­ord­net, die von 0 – die am wenigs­ten ambi­tio­nier­ten Reform­vor­schlä­ge – bis 100 – die ambi­tio­nier­tes­ten Reform­vor­schlä­ge, die zu mehr euro­päi­scher Inte­gra­ti­on füh­ren – reicht. Die trei­ben­de Kraft hin­ter den Prä­fe­ren­zen der Län­der wur­de dadurch ana­ly­siert, indem die­se The­men in die fol­gen­den sechs Reform­grup­pen ein­ge­teilt wur­den: Ban­ken­uni­on, Steu­er­trans­fers, EU Finanz­lei­tung, insti­tu­tio­nel­ler Wan­del der EU, Aus­teri­tät und Zukunftspolitik.

Wir haben Daten über die Ver­hand­lungs­po­si­tio­nen der ein­zel­nen EU-Mit­glied­staa­ten zu den euro­päi­schen Wäh­rungs­re­for­men für die Jah­re 2010 bis 2015 gesam­melt und unter­sucht, ob die­se Ver­hand­lun­gen von der Innen­po­li­tik domi­niert wur­den oder ob wirt­schaft­li­che Über­le­gun­gen über­wo­gen. Unse­re Resul­ta­te zei­gen, dass die Expo­niert­heit des Finanz­sek­tors die Prä­fe­ren­zen der Mit­glied­staa­ten in Bezug auf wei­ter­füh­ren­de euro­päi­sche Inte­gra­ti­on beein­flusst hat. Je stär­ker ihr Finanz­sek­tor expo­niert war, des­to wahr­schein­li­cher war es, dass die Län­der Reform­lö­sun­gen unter­stüt­zen, die zu mehr euro­päi­scher Inte­gra­ti­on führen.

Abbildung 1: Präferenzen der Mitgliedstaaten in Bezug auf weiterführende europäische Integration

Abbil­dung 1 zeigt, dass Frank­reich in Bezug auf die Ban­ken­uni­on eine stär­ke­re Macht­de­le­ga­ti­on zur EU befür­wor­te­te, wäh­rend Deutsch­land, Öster­reich und die Nie­der­lan­de in der Tat weni­ger Unter­stüt­zung zeig­ten. Glei­cher­mas­sen war Grie­chen­land bei den Steu­er­trans­fers ein star­ker Befür­wor­ter höhe­rer Steu­er­trans­fers, wohin­ge­gen Deutsch­land einer stär­ke­ren Macht­de­le­ga­ti­on zur EU entgegenstand.

In der letz­ten Grup­pe für zukünf­ti­ge Poli­ci­es, ein­schließ­lich der fünf Prä­si­den­ten­be­rich­te und der Euro­bonds, unter­stütz­te Luxem­burg die von sei­nem ehe­ma­li­gen Pre­mier­mi­nis­ter Juncker vor­ge­schla­ge­ne Poli­tik. Zudem haben wir bei der Ana­ly­se die­ser Posi­tio­nen fest­ge­stellt, dass je grö­ßer die Expo­niert­heit des Finanz­sek­tors eines Lan­des ist, die Wahr­schein­lich­keit steigt, dass von der Regie­rung die­ses Lan­des eine stär­ke­re Macht­de­le­ga­ti­on zur EU bevor­zugt wird.

Die Exponiertheit des Finanzmarktes prägt Regierungspräferenzen

Wei­te­re euro­päi­sche Lösun­gen, ent­we­der in Form von Umver­tei­lung oder als Regu­lie­rung der natio­na­len Haus­halts- und Steu­er­po­li­tik, kön­nen als eine Art der euro­päi­schen Inte­gra­ti­on ange­se­hen wer­den. Unse­re Ergeb­nis­se ver­deut­li­chen, dass eine stär­ke­re wirt­schaft­li­che Inter­de­pen­denz in der Euro­zo­ne zu einer stär­ke­ren Anglei­chung der Prä­fe­ren­zen bei­getra­gen hat. Aus­ser­dem spiel­te die inner­staat­li­che und euro­päi­sche Par­tei­po­li­tik eine gerin­ge­re Rol­le als erwar­tet.[1]

Wir argu­men­tie­ren, dass Regie­run­gen – ins­be­son­de­re in Kri­sen­zei­ten – als Risi­ko­mi­ni­mie­rer fun­gie­ren und dass sie bei den Ent­schei­dun­gen über euro­päi­sche Wäh­rungs­re­for­men haupt­säch­lich von natio­na­len wirt­schaft­li­chen Erwä­gun­gen getrie­ben wur­den. Die ver­schie­de­nen Län­der waren wäh­rend der Kri­se der Euro­zo­ne einer unter­schied­lich star­ken wirt­schaft­li­chen Ver­wund­bar­keit aus­ge­setzt, wel­che auf eine ungleich­mä­ßi­ge Expo­niert­heit ihrer Ban­ken gegen­über Schuld­ner­län­dern zurück­zu­füh­ren war. Um das Risi­ko kost­spie­li­ger Ret­tungs­ak­tio­nen zu mini­mie­ren, unter­stütz­ten Län­der mit stark expo­nier­ten Finanz­sek­to­ren eher Lösun­gen mit einem hohen Grad an euro­päi­scher Inte­gra­ti­on. Im Gegen­satz dazu hat­ten poli­ti­sche Fak­to­ren kei­ne sys­te­ma­ti­schen Auswirkungen.

Als die Bla­se wäh­rend der Kri­se platz­te, waren die Schuld­ner- und Gläu­bi­ger­län­der mit einem ähn­li­chen Pro­blem kon­fron­tiert: Die Schuld­ner muss­ten ihre Schul­den zurück­zah­len, wäh­rend die Gläu­bi­ger um die Mög­lich­keit der Rück­for­de­rung ihrer Anla­gen besorgt waren. Für die Gläu­bi­ger­län­der beinhal­te­te dies das Risi­ko, ihre stark expo­nier­ten Ban­ken ret­ten zu müs­sen und damit ihre eige­nen Haus­hal­te erheb­lich zu gefähr­den, mög­li­cher­wei­se mit erheb­li­chen sys­te­mi­schen Aus­wir­kun­gen. Um sol­che Sze­na­ri­en zu ver­mei­den, hat­ten sowohl Gläu­bi­ger als auch Schuld­ner ein Inter­es­se dar­an, Lösun­gen auf euro­päi­scher Ebe­ne zu finden.

Mit ande­ren Wor­ten, die ent­schei­den­de Fra­ge im Zusam­men­hang mit den Prä­fe­ren­zen eines Lan­des war nicht, ob es sich um einen Gläu­bi­ger- oder ein Schuld­ner­land han­del­te, son­dern viel­mehr, inwie­weit es finan­zi­ell ande­ren EU-Mit­glied­staa­ten durch hohe For­de­run­gen oder Schul­den aus­ge­setzt war. Unse­re Resul­ta­te bestä­ti­gen somit die Ergeb­nis­se von Armin­ge­on und Cran­mer, wel­che eben­falls zei­gen, dass die Wirt­schafts­struk­tur, nicht poli­ti­schen Varia­blen, Unter­schie­de in den Prä­fe­ren­zen erklären.

Die euro­päi­schen Finanz­re­for­men sind noch lan­ge nicht abge­schlos­sen. Die Span­nun­gen zwi­schen der ita­lie­ni­schen Regie­rung und der EU-Kom­mis­si­on bezüg­lich des ita­lie­ni­schen Haus­halts­de­fi­zits im Jahr 2019 zeu­gen davon. Wir gehen davon aus, dass wirt­schaft­li­che Ver­wund­bar­kei­ten die zukünf­ti­gen Ver­hand­lungs­er­geb­nis­se bestim­men wer­den. Dar­über hin­aus ist zu erwar­ten, dass, wenn struk­tu­rel­le wirt­schaft­li­che Fak­to­ren rele­vant sind, die finan­zi­el­le Risi­ko­min­de­rung zu einer Prä­fe­renz­kon­ver­genz füh­ren und Reform­fort­schrit­te ermög­li­chen wird, unab­hän­gig von den ver­schie­de­nen poli­ti­schen Akteu­ren an der Macht.


Refe­renz:

Hin­weis: Wei­te­re Infor­ma­tio­nen fin­den Sie im Begleit­ar­ti­kel in Euro­pean Uni­on Poli­tics (gemein­sam ver­fasst mit Ste­fa­nie Bai­ler, Han­no Degner, Lisa M Dell­muth, Dirk Leuf­fen, Magnus Lundgren, Jonas Tall­berg und Fabio Wasserfallen).

Über­set­zung: Iri­na Fehr

 

[1] Wir verwenden ein Mass für die gesamten nicht konsolidierten Schulden des Finanzsektors als Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) in Prozent (Eurostat, 2017, siehe Online-Anhang), um die Schulden privater Finanzinstitute in jedem Mitgliedsstaat der EU zu messen. Dieser Indikator zeigt, dass die europäische Staatsschuldenkrise in erster Linie eine Krise des privaten Sektors war (Griechenland ausgenommen).

 

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