Der Kontext ist wichtig – gerade beim Nikab

 

Den Nikab aus sei­nem reli­giö­sen, sozia­len und poli­ti­schen Kon­text her­aus­zu­lö­sen und sein Tra­gen als eine Fra­ge der “Wahl” zu betrach­ten, negiert Kom­ple­xi­tät und zahl­rei­che Nuan­cen die­ser Ange­le­gen­heit. Doch der grö­ße­re Kon­text ist auch für die Schweiz rele­vant. Den Kon­text zu igno­rie­ren, wird ihn nicht zum Ver­schwin­den bringen.

Am 7. März 2021 wird das Schwei­zer Stimm­volk über die Volks­in­itia­ti­ve “Ja zum Ver­hül­lungs­ver­bot” abstim­men. Im Vor­feld der Abstim­mung hat Andre­as Tun­ger-Zanet­ti zusam­men mit Mit­au­torin­nen ein Buch mit dem Titel Ver­hül­lung: Die Bur­ka-Debat­te in der Schweiz ver­öf­fent­licht, das Argu­men­te gegen das Ver­bot liefert.

Das Profil westeuropäischer Nikab-Trägerinnen

Das Buch, basie­rend auf den Ergeb­nis­sen ande­rer Stu­di­en, die in ver­schie­de­nen Län­dern durch­ge­führt wur­den, erstellt ein Pro­fil der Frau­en in unse­rer Umge­bung, die einen Nikab tragen.

Die über­wie­gen­de Mehr­heit von ihnen ist in dem west­eu­ro­päi­schen Land, in dem sie heu­te auch leben, gebo­ren oder zumin­dest als Kind dort sozia­li­siert wor­den (häu­fig in Gross­bri­tan­ni­en, Frank­reich, Bel­gi­en oder den Nie­der­lan­den). Die Nikab-Trä­ge­rin­nen sind zwi­schen 18 und 35 Jah­re alt; fast die Hälf­te von ihnen ent­deck­te die Reli­gi­on erst im Jugend­al­ter, ent­we­der weil sie vom Chris­ten­tum zum Islam kon­ver­tier­ten oder weil sie zwar in einer mus­li­mi­schen, aber säku­lar ori­en­tier­ten Her­kunfts­fa­mi­lie auf­wuch­sen. Vie­le euro­päi­sche Nikab-Trä­ge­rin­nen ver­fü­gen über eine gute Aus­bil­dung, eini­ge gehen auch einer Erwerbs­ar­beit nach. In Groß­bri­tan­ni­en ist der Anteil der­je­ni­gen mit höhe­rer Bil­dung und Beschäf­ti­gung deut­lich höher als auf dem euro­päi­schen Fest­land. Gemein­sam ist ihnen, dass sie den Nikab aus frei­en Stü­cken tra­gen, als Akt der Emanzipation.

Die­se Befun­de mei­ner Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen bestrei­te ich nicht, wenn es um die­sen spe­zi­el­len Typus inner­halb der in Euro­pa anzu­tref­fe­nen Nikab-Trä­ge­rin­nen geht. Es han­delt sich um Frau­en, die zum Islam kon­ver­tiert oder «wie­der­ge­bo­re­ne Mus­li­min­nen» sind und die sich ent­schie­den haben, in die­ser ganz bestimm­ten puri­ta­ni­schen Art des Islam zu leben.

Aber genau wie ihre männ­li­chen Part­ner nei­gen Nikab-Trä­ge­rin­nen in West­eu­ro­pa oft dazu, zu mis­sio­nie­ren. Sie sozia­li­sie­ren sich inner­halb eines geschlos­se­nen Net­zes Gleich­ge­sinn­ter, das einer Sek­te ähnelt. Sie ver­wen­den die Bezeich­nun­gen «Schwes­tern» und «Brü­der» für Per­so­nen, die ihre Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit tei­len. Wenn sie die­ser Sek­te bei­tre­ten, sagt man ihnen, dass «der Islam das vor­he­ri­ge Leben aus­löscht» (الإسلام يجَّبُ ما قبله). Mit ande­ren Wor­ten: Sobald man sich für den Bei­tritt ent­schei­det, ist man ein neu­er Mensch.

Die Missionarinnen eines puritanischen Islams

Was in Tun­ger-Zanet­tis Stu­die und in ande­ren der von ihm zitier­ten Stu­di­en auf­fällt, ist das Feh­len der ideo­lo­gi­schen, poli­ti­schen und sozia­len Kon­tex­te, die die Nikab-Trä­ge­rin­nen in euro­päi­schen Län­dern umge­ben. Es scheint, als wäre der Nikab aus dem Nichts gekom­men und die­se Frau­en hät­ten sich aus einer blos­sen Lau­ne her­aus dazu ent­schlos­sen, ihn zu tragen.

Doch war­um ent­schei­den sich die­se Frau­en aus frei­en Stü­cken dazu, einen Nikab zu tra­gen? Vor allem da der Nikab heu­te als eine isla­mi­sche Rand­tra­di­ti­on gilt, die auch inner­halb der mus­li­mi­schen Län­der umstrit­ten ist, die als extrem bezeich­net und vom tra­di­tio­nel­len Islam abge­lehnt wird.  Selbst die höchs­te reli­giö­se Auto­ri­tät im sun­ni­ti­schen Islam, der Scheich von Al Azhar, der nicht gera­de für sei­ne eman­zi­pa­to­ri­schen Posi­tio­nen bekannt ist, erklär­te öffent­lich, dass der Nikab ein «Brauch, und kein reli­giö­ses Gebot» sei und er das Pro­dukt einer «Ein­zel­mei­nung» in der isla­mi­schen Recht­spre­chung sei[1].

Salafistische Lehren über Frauen

Nie­mand wird behaup­ten, dass der Nikab in den sech­zi­ger Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts auf den Stra­ßen Ägyp­tens oder Tune­si­ens zu sehen war. Man sah ihn damals auch nicht auf den Stra­ßen von Bir­ming­ham oder Lei­ces­ter in Groß­bri­tan­ni­en, noch in den fran­zö­si­schen Vor­städ­ten und auch nicht in Molen­beek in Bel­gi­en. Heu­te ist das anders.

Wo immer in West­eu­ro­pa neo­fun­da­men­ta­lis­ti­sche Inter­pre­ta­tio­nen des Islam auf­tau­chen, folgt bald dar­auf der Nikab. Dabei han­delt es sich um einen kau­sa­len Zusam­men­hang und nicht bloss um eine zufäl­li­ge Korrelation.

Ange­sichts sei­ner Rele­vanz wer­de ich mich hier auf die Sala­fi-Leh­ren über Frau­en und ihre theo­lo­gi­schen Merk­ma­le kon­zen­trie­ren — und ins­be­son­de­re auf die quie­tis­ti­sche Mis­si­ons­form des Sala­fis­mus. Die­se basiert auf den reli­giö­sen Mei­nun­gen von Scheichs, die von ihren Anhän­gern als hei­li­ge Auto­ri­tä­ten ange­se­hen werden.

Agnes De Feo, die in der Stu­die von Tun­ger-Zanet­ti pro­mi­nent zitiert wird, bestritt nie den Ein­fluss, den Pre­di­ger von Sala­fi und Tab­lighi in den fran­zö­si­schen Vor­or­ten haben. Sie wid­me­te ihnen meh­re­re Kapi­tel in ihrem Buch, das sie 2020 ver­öf­fent­lich­te: Der­riè­re le niqab — 10 ans d’en­quê­te sur les femmes qui ont por­té et enle­vé le voi­le inté­gral. In einem kürz­lich erschie­ne­nen Inter­view erwähn­te sie die sau­di­schen Scheichs, die die Nika­bi-Frau­en in ihrer Stu­die inspi­rie­ren: Ibn Baz, Ibn Uthay­min und al-Alba­ni[2].

Was predigen die Scheichs den und über die Frauen? 

Die Ant­wort fin­det sich in einem 528-sei­ti­gen Buch, das den Titel „The Fat­was (reli­gious edicts) on Women“ trägt. Es beschreibt die reli­giö­sen Mei­nun­gen der Scheichs über Frau­en, ihren Kör­per und wie sie sich ver­hal­ten soll­ten[3].

Die Bot­schaft ist klar: Da jede Frau sexu­ell ist (عورة), soll­te alles, das dies an ihr sicht­bar macht, ver­bor­gen blei­ben: ihre Stim­me, ihr Gesicht, ihre Hän­de, ihre Hand­flä­chen und sogar ihre Füße, wenn sie betet. Mäd­chen soll­ten den Hijab bereits im Alter von sechs Jah­ren tra­gen und jedes Mäd­chen, das einen wohl­ge­form­ten Kör­per hat, der die sexu­el­le Begier­de von Män­nern wecken könn­te, soll­te auch einen Nikab tra­gen. Frau­en und Mäd­chen dür­fen auch vor ihren Vätern, Brü­dern und Onkeln kei­ne engen Klei­der tra­gen, da Män­ner nicht von ihren Töch­tern, Schwes­tern oder Nich­ten sexu­ell erregt wer­den sollten.

Die Tren­nung zwi­schen den Geschlech­tern folgt einer gött­li­chen Ord­nung, die bei­de Geschlech­ter vor Ver­su­chun­gen schüt­zen soll. Für die Frau, und ich zitie­re hier, ist der Ehe­mann ein „Meis­ter“. Für ihn ist sie eine „Gefan­ge­ne“ und „sie soll­te ihm gehor­chen“, indem sie den Schlei­er trägt und ande­ren Befeh­len folgt, „denn wenn sie ihm gehorcht, gehorcht sie Gott“. [4] Gemäss die­ser stren­gen Leh­re soll­ten Frau­en ihre Fami­li­en, ein­schließ­lich ihrer Eltern, ver­las­sen, wenn die­se nicht dem „rich­ti­gen isla­mi­schen Weg” folgen.

Das Prinzip der Loyalität und Ablehnung, al-wala’wa-l-bara und Segregation 

Die­ser Rat steht im Zusam­men­hang mit einem theo­lo­gi­schen Merk­mal des Sala­fis­mus, dem Prin­zip der Loya­li­tät und Ableh­nung, al-wala’­wa-l-bara. Nach die­sem Prin­zip müs­sen wah­re Mus­li­min­nen und Mus­li­me nicht nur alles lie­ben und fest­hal­ten, das Gott befiehlt und bil­ligt. Viel­mehr müs­sen sie auch alles has­sen, das Gott miss­bil­ligt und verbietet.

Damit sind Ver­hal­tens­wei­sen, Bräu­che, Tra­di­tio­nen und ande­re Men­schen[5] gemeint. Folg­lich müs­sen wah­re Mus­li­min­nen und Mus­li­me nach sala­fis­ti­scher Manier gegen­über Poly­the­is­ten offen feind­lich ein­ge­stellt sein, jede Art von freund­schaft­li­chem Umgang mit ihnen mit damit aus­ge­schlos­sen. Ent­we­der tren­nen sie sich also von Poly­the­is­ten oder sie zie­hen an einen Ort, an dem der “wah­re” Islam prak­ti­ziert wird.

Die­ses Kon­zept der Migra­ti­on nennt man Hij­ra. Die­se Leh­ren hat­ten kla­re Aus­wir­kun­gen auf Län­der mit mus­li­mi­scher Mehr­heit und auf Min­der­hei­ten­grup­pen des isla­mi­schen Glau­bens in west­li­chen Demo­kra­tien. Wenn sich die­se Art von Islam in einer Gemein­schaft ver­brei­tet, ver­wan­delt sie sich in ein geschlos­se­nes Ghet­to. Dies ent­wur­zelt vie­le der isla­mi­schen Tra­di­tio­nen in die­sen Gemein­schaf­ten, besei­tigt ihre rei­che Viel­falt und ersetzt sie durch eine star­re, kom­pro­miss­lo­se Leh­re. Dadurch spal­ten sich gan­ze Fami­li­en und Gemeinschaften.

Dies erklärt auch, war­um die tole­ran­ten For­men des nord­afri­ka­ni­schen Islams in Frank­reich und Bel­gi­en durch eine radi­ka­li­sier­te Form der Reli­gi­on ersetzt wur­den, die vom Sala­fis­mus und ande­ren For­men des Isla­mis­mus geprägt ist. Eine ähn­li­che Ent­wick­lung fand in Groß­bri­tan­ni­en statt, wenn auch mit einer ande­ren Form der fun­da­men­ta­lis­ti­schen Les­art des Islam.

Die Haltung der Scheichs zur Sklaverei 

Doch die Scheichs beschrän­ken ihre Les­art der Reli­gi­on nicht nur auf Frau­en. Sie bie­ten eine viel umfas­sen­de­re Visi­on einer poli­ti­schen, sozia­len und reli­giö­sen Ord­nung. Der Besitz ande­rer Men­schen — ja, genau, die Skla­ve­rei — ist ein Teil davon.

Ibn Baz sagt, dass im Dschi­had gegen „Ungläu­bi­ge“ deren Kin­der und Frau­en sowie alle Gefan­ge­nen ver­sklavt, ver­kauft und geerbt wer­den kön­nen. Und in Län­dern, in denen Skla­ve­rei noch prak­ti­ziert wird, ist es mög­lich, Skla­ven zu kau­fen und zu ver­kau­fen[6]. Ibn Uthay­min hat ähn­li­che Ansich­ten. Er sagt, dass es im Krieg mit Ungläu­bi­gen barm­her­zi­ger ist, Jun­ge und Frau­en als Skla­ven zu neh­men, anstatt sie zu töten[7]

Die­se Ansich­ten sind kei­ne theo­re­ti­schen Mei­nun­gen, die aus der Ver­gan­gen­heit wie­der­be­lebt wur­den. Sie wer­den in der Gegen­wart aus­ge­spro­chen und arti­ku­liert. Was die­se Män­ner sagen, ist auch in unse­ren euro­päi­schen Gesell­schaf­ten rele­vant. Ihre Bücher und Fat­was wer­den in vom Golf finan­zier­ten Madra­sas und Moscheen unter­rich­tet und beworben.

Auch der IS han­del­te nicht von sich aus, als er beschloss, Frau­en und Kin­der zu ver­skla­ven. Die­se Hand­lun­gen wur­den durch eine fun­da­men­ta­lis­ti­sche Inter­pre­ta­ti­on des Islam, die von einer poli­ti­schen Ideo­lo­gie geprägt ist, legi­ti­miert und in den isla­mi­schen Main­stream aufgenommen.

Wenn nun eini­ge jun­ge Frau­en aus West­eu­ro­pa beschlies­sen, die­se fun­da­men­ta­lis­ti­sche reli­giö­se Inter­pre­ta­ti­on anzu­neh­men, ist dies ihre Wahl. Die visu­el­le Mani­fes­ta­ti­on die­ser frau­en­feind­li­chen, skla­ven­freund­li­chen, rechts­ex­tre­men reli­giö­sen Ideo­lo­gie — der Nikab — soll­te jedoch weder als harm­lo­se Wahl eines Lebens­stils akzep­tiert, noch als isla­mi­scher Main­stream ange­se­hen werden.

Das Argu­ment der „Wahl­frei­heit“ erin­nert mich an ein ähn­li­ches Argu­ment, das wäh­rend des Kamp­fes gegen die Skla­ve­rei in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten ver­wen­det wur­de, als man­che argu­men­tier­ten, dass etli­che Skla­ven ger­ne ver­sklavt blei­ben wür­den. Das macht die Skla­ve­rei aber nicht akzeptabler.

Der Nikab — bloss ein auffälliger Lifestyle, quasi Punk?

Die­ses Argu­ment kon­zen­triert sich auf die tat­säch­li­che Anzahl der Nikab-Trä­ge­rin­nen in der Schweiz. Ihre Zahl wird auf weni­ge Dut­zend geschätzt. Haben wir also kein Pro­blem, weil es nur ein paar Frau­en betrifft? Und was wäre, wenn es 3’000 Nikab-Trä­ge­rin­nen wären, soll­ten wir uns dann Sor­gen machen?

Wenn es sich um eine Grund­satz­fra­ge han­delt, soll­te die Anzahl kei­nen Unter­schied machen. Den­noch macht es einen, denn die Situa­ti­on kann sich in den nächs­ten zwan­zig Jah­ren ändern. Ich habe gese­hen, wie dra­ma­tisch schnell sich etwas in den MENA-, euro­päi­schen und afri­ka­ni­schen Län­dern ver­än­dern kann. Vor dreis­sig Jah­ren wäre es auch noch schwie­rig gewe­sen, eine Nikab-Trä­ge­rin in Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, Tune­si­en oder Süd­afri­ka zu finden.

Natür­lich lässt sich sagen, dass die Frau­en, die einen Nikab tra­gen, ihre reli­giö­se Iden­ti­tät kon­stru­ie­ren und auf eine auf­fäl­li­gee Art zei­gen wol­len; doch die sehr reli­giö­se Ideo­lo­gie, die sie dazu inspi­riert, voll­ver­schlei­ert zu sein, soll­te nicht igno­riert wer­den. Schließ­lich gilt die­se stren­ge Klei­der­ord­nung, die in mus­li­mi­schen Län­dern nur dort obli­ga­to­risch ist, wo die reli­giö­se Ideo­lo­gie an der Macht ist, über­all als extrem – und ist auch in den Län­dern mit mus­li­mi­scher Mehr­heit stark umkämpft.

Es spielt dar­um kei­ne Rol­le, wenn man sagt, dass die Frau­en bei uns den Nikab doch aus frei­em Wil­len tra­gen, denn das bedeu­tet nicht, dass alle Nikab-Trä­ge­rin­nen in Euro­pa dies aus den­sel­ben Grün­den tun. Es gibt auch zahl­rei­che ehe­ma­li­ge Nikab-Trä­ge­rin­nen aus euro­päi­schen Län­dern wie Frank­reich, Bel­gi­en, Schwe­den oder Groß­bri­tan­ni­en[8], die über ihre Erfah­run­gen und den Druck (ein­schließ­lich kör­per­li­cher Gewalt), den sie erdul­de­ten, berich­ten[9]. Die­ser Kon­text wird in der gan­zen Dis­kus­si­on in der Schweiz ignoriert.

Warum man in Europa den sozialen Kontext nicht vernachlässigen darf

Wie­der­ge­bo­re­ne Mus­li­min­nen und Kon­ver­ti­ten fin­den es mög­li­cher­wei­se „eman­zi­pie­rend“, den Nikab zu tra­gen. Aber was ist mit all den mus­li­mi­schen Frau­en und Mäd­chen, die ver­su­chen, sich der Klei­der­ord­nung und der sozia­len Kon­trol­le der Isla­mis­ten zu widersetzen?

Mäd­chen und Frau­en wer­den auch vie­ler­orts in Euro­pa von ihrer Fami­lie oder ihrem Umfeld unter Druck gesetzt, den Schlei­er zu tra­gen, die Schu­le früh zu ver­las­sen und zu hei­ra­ten. Die­je­ni­gen, die sich die­ser auf­er­leg­ten Gesell­schafts­ord­nung wider­set­zen, wer­den schi­ka­niert und haben mit schwer­wie­gen­den Kon­se­quen­zen zu rechnen.

Die Situa­ti­on in der Schweiz kann nicht mit Frank­reich, Bel­gi­en oder Gross­bri­tan­ni­en ver­gli­chen wer­den. Es gibt in der Schweiz nicht die glei­che Art von segre­gier­ten geschlos­se­nen Gemein­schaf­ten. Doch es gibt Ten­den­zen in eini­gen Städ­ten, in denen gewis­se Eth­ni­en und Schich­ten sehr stark ver­tre­ten sind. 

Entwicklungen in der Schweiz

Die Aus­wir­kun­gen die­ser Ent­wick­lung auf die Erfah­run­gen jun­ger mus­li­mi­scher Frau­en in der Schweiz wur­den bis­her noch nicht unter­sucht. Die über­wie­gen­de Mehr­heit der euro­päi­schen Mus­li­me sieht kei­nen Wider­spruch zwi­schen ihrem Glau­ben und den demo­kra­ti­schen und frei­en Struk­tu­ren, dies ist wohl auch in der Schweiz der Fall. Eine sehr klei­ne Min­der­heit mag den Sala­fi-Islam gut­hei­ßen — aber es bleibt ein Rand­phä­no­men. Den­noch ist auch die Schweiz nicht immun gegen Sala­fis­mus, auch wenn er sich erst im Ent­ste­hen befindet. 

Ich schla­ge dar­um vor, die Wech­sel­wir­kung zwi­schen den Zen­tren des Sala­fi-Ein­flus­ses in der Schweiz und den Nach­bar­län­dern über die Gren­zen der Kan­to­ne wie Basel und Genf hin­weg genau zu beob­ach­ten. Es ist auch wich­tig zu berück­sich­ti­gen, wie die Aus­brei­tung des ara­bi­sier­ten Sala­fis­mus in Län­dern wie Alba­ni­en und dem Koso­vo von eini­gen Grup­pen von Schwei­zer Mus­li­min­nen und Mus­li­men aus die­sen Län­dern wie­der­holt und wider­ge­spie­gelt wird. Und wich­tig zu beach­ten bleibt, dass ich mei­ne Beob­ach­tun­gen hier auf die Sala­fi-Form beschrän­ke. Ich spre­che nicht von For­men des Isla­mis­mus wie der Mus­lim­bru­der­schaft und Mil­li Gürus.

Und nein, ich glau­be nicht, dass das Ver­bot des Tra­gens des Nik­abs Lösun­gen für ande­re Pro­ble­me in der Schweiz bie­tet. Aber ich den­ke, es soll­te inzwi­schen ziem­lich klar sein, dass es sich beim Sala­fis­mus um eine rechts­ex­tre­mis­ti­sche reli­giö­se Ideo­lo­gie han­delt: Es geht dabei im glei­chen Atem­zug sowohl dar­um, Skla­ven zu ver­kau­fen und zu besit­zen, die Geschlech­ter­tren­nung zu pre­di­gen und Frau­en zu unter­ord­nen. Die­se Ideo­lo­gie unter­rich­tet Men­schen dar­in, ihre Umge­bung zu has­sen und sich von allen zu tren­nen, die ihrer Sek­te nicht angehören.

Das Igno­rie­ren die­ses Kon­texts wird auch in der Schweiz nicht dazu füh­ren, dass er ver­schwin­det. Und den Nikab pri­mär auf einen indi­vi­dua­lis­ti­schen Punk-Lebens­stil zu redu­zie­ren, wie dies Agnes De Feo kürz­lich in einem Inter­view getan hat, blen­det erheb­li­che Aspek­te aus. Das Löschen des Kör­pers der Frau basiert auf einer extre­mis­ti­schen Ideo­lo­gie und funk­tio­niert inner­halb eines sozia­len Kontexts.

Ich ver­ste­he, dass mein geschätz­ter Kol­le­ge Tun­ger-Zanet­ti und ande­re gleich­ge­sinn­te Intel­lek­tu­el­le besorgt sind über die Stig­ma­ti­sie­rung der Schwei­zer Mus­li­min­nen und Mus­li­me in ihrer rei­chen Viel­falt. Ich tei­le die­se Sor­ge auch. Das soll­te uns aber nicht davon abhal­ten, kri­ti­sche For­schungs­fra­gen zu stel­len. Vor allem soll­te es uns nicht dazu ver­lei­ten, den gesam­ten theo­lo­gi­schen und sozia­len Kon­text zu ignorieren.

Wenn sich eini­ge jun­ge Frau­en für die­se fun­da­men­ta­lis­ti­sche reli­giö­se Inter­pre­ta­ti­on ent­schei­den, ist dies ihre Wahl. Es soll­te jedoch klar sein, dass der hier ver­wen­de­te Begriff „Wahl­frei­heit“ auf die frei­en demo­kra­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen west­li­cher Gesell­schaf­ten zuge­schnit­ten ist. Die reli­giö­se Ideo­lo­gie, die sie för­dert, sieht kei­ne Wahl­frei­heit vor, wenn sie an der Macht ist. Sie ist tota­li­tä­rer Natur.


Anmer­kun­gen und Referenzen:

[1] Al Ara­bi­ya TV. 2010. ‘Niqab Is a Cus­tom not a Reli­gious Requi­re­ment’, 04 April, Pro­gram Jour­na­lism Gate (Wajehat Al Saha­fa), in Ara­bic, Al Ara­by­ia TV, 02 April 2010, acces­sed 05 May 2013, http://www.youtube.com/watch?v=r9uhzGyk9Eg.

[2] Es soll­te hier erwähnt wer­den, dass Scheich Nasi­rud­din Al Alba­ni, selbst ein syri­scher Sala­fi, der nach Sau­di-Ara­bi­en zog, die Not­wen­dig­keit des Tra­gens des Niqab bestritt und von sau­di­schen Sala­fi-Scheichs vehe­ment ange­grif­fen wur­de. Für das Inter­view sie­he Nadia Hen­ni-Mou­laï (Janu­ar 2021), Agnès De Féo: « Les femmes portant le niqab en Fran­ce ne subis­sent aucu­ne coer­ci­ti­on mas­cu­li­ne », Midd­le East Eye, https://www.middleeasteye.net/fr/entretiens/niqab-voile-integral-france-femmes-musulmanes-islam-de-feo.

[3] Moham­med Ibn Uthay­min, Abdul Aziz Ibn Baz, Abdul Rah­man Al Saa­di, and Abdul­lah bin Jabrin,  Fata­wa Al Nis­sa, In Ara­bic, Cai­ro: Dar Al Fajr, Edi­ti­on of 2003.

[4] Moham­med Ibn Uthay­min, Abdul Aziz Ibn Baz, Abdul Rah­man Al Saa­di, and Abdul­lah bin Jabrin,  Fata­wa Al Nis­sa, In Ara­bic, Cai­ro: Dar Al Fajr, Edi­ti­on of 2003.

[5] Für mehr Infor­ma­tio­nen zum Sala­fis­mus und dem Prin­zip des al-wala’ wa-l-bara, sie­he Ben­ham T. Said and Hazim Fouad, eds., Sala­fis­mus: Auf der suche nach der wah­ren Islam (Frei­burg: Her­der Ver­lag, 2014), pp. 64–74.

[6] Offi­cial web­site of Sheikh Imam Ibn Baz, Fat­was, In Ara­bic, On Owning (a per­son) and its Sharia Regu­la­ti­ons, https://binbaz.org.sa

[7] Sheikh Ibn Uthay­min: In respon­se to tho­se who say that ens­la­ving the women and child­ren of the poly­the­ists is a sign of the sava­ge­ry of Islam, A Sound record­ing, In Ara­bic, https://www.youtube.com/watch?v=FsjYqdoTvng

[8] Sie­he Manea, Elham (2016): Women and Sharia Law. The Impact of Legal Plu­ra­li­ism in the UK. Cam­bridge Uni­ver­si­ty. Kapi­tel 6.

[9] Sie­he Hen­da Ayari&Florence Bou­quil­lat (2016). J’ai choi­si d’être libre : [témoi­gna­ge : res­c­apée du sala­fisme en Fran­ce]. Lieu de publi­ca­ti­on non iden­ti­fié: Flamma­ri­on; Yas­min Moham­med (2019), Unvei­led: How Wes­tern Libe­rals Empower Radi­cal Islam, Cana­da: Free Hearts Free Minds.

 

Bild: pixabay.com

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