Mit dem Schleppnetz auf Stimmenfang: Anzahl Kandidierende und Wahlerfolg

Lohnt es sich für poli­ti­sche Par­tei­en, eine mög­lichst gros­se Zahl an Lis­ten auf­zu­stel­len, um sozu­sa­gen mit dem Schlepp­netz auf Stim­men­fang zu gehen? Die rekord­ho­he Zahl an Lis­ten bzw. Kan­di­die­ren­den bei den Natio­nal­rats­wah­len von 2023 geben die­ser Fra­ge eine beson­de­re Rele­vanz. Die vor­lie­gen­de Aus­wer­tung zeigt aller­dings, dass die Par­tei­en von die­ser Stra­te­gie kaum profitieren.

Immer mehr Kandidierende bei eidgenössischen Wahlen

Seit Jahr­zehn­ten ist bei den Natio­nal­rats­wah­len ein ste­ti­ger Anstieg der Lis­ten- und damit auch der Kan­di­die­ren­den­zah­len zu beob­ach­ten (vgl. Bei­trag von Georg Lutz), die bei den Natio­nal­rats­wah­len von 2023 einen neu­en Höchst­stand erreicht haben. Ver­ant­wort­lich dafür ist in ers­ter Linie die Mög­lich­keit von Unter­lis­ten­ver­bin­dun­gen, die es den Par­tei­en auf kan­to­na­ler Ebe­ne erlaubt, mit meh­re­ren Lis­ten ins Ren­nen zu gehen. Dadurch sol­len unter­schied­li­che Wäh­ler­grup­pen ange­spro­chen wer­den (bei­spiels­wei­se durch alters- oder geschlechts­spe­zi­fi­sche Lis­ten). Zudem erhof­fen sich die Par­tei­en, dass die Kan­di­die­ren­den in ihrem Umfeld für sich und ihre Par­tei wer­ben und dadurch zusätz­li­che Stim­men generieren.

Doch geht die­ses Kal­kül auf? Abbil­dung 1 ver­deut­licht die Ent­wick­lung von Kan­di­die­ren­den­zah­len und Wahl­er­geb­nis­sen exem­pla­risch für die FDP Luzern. Dabei steht die durch­ge­zo­ge­ne Linie für den Stim­men­an­teil auf kan­to­na­ler Ebe­ne, die einen län­ger­fris­ti­gen Abwärts­trend zeigt. Die nega­ti­ve Ent­wick­lung ist dabei noch etwas aus­ge­präg­ter als der Ver­lauf des FDP-Stim­men­an­teils auf natio­na­ler Ebe­ne (gestri­chel­te Linie). Die Bal­ken und die dazu­ge­hö­ri­ge Ach­se auf der rech­ten Sei­te der Abbil­dung zei­gen, mit wie vie­len Kan­di­die­ren­den pro Man­dat die Par­tei die ein­zel­nen Wah­len jeweils bestrit­ten hat. Die Zahl 1 (in den Jah­ren 1987 bis 1995) bedeu­tet also, dass die FDP mit einer voll­stän­dig gefüll­ten Lis­te zur Wahl ange­tre­ten sind, die Zahl 2 steht fol­ge­rich­tig für zwei voll­stän­dig gefüll­te Lis­ten usw. Da auf den Unter­lis­ten manch­mal Zei­len frei blei­ben, sind auch ande­re als ganz­zah­li­ge Wer­te mög­lich. Die Bal­ken ver­deut­li­chen den mar­kan­ten Zuwachs an Kan­di­die­ren­den im Jahr 2023, nach­dem die Par­tei bei den vor­an­ge­gan­ge­nen Wah­len deren Zahl bereits auf tie­fe­rem Niveau vari­ier­te. Ein Zusam­men­hang mit den Stim­men­an­tei­len (durch­ge­zo­ge­nen Linie) oder den erziel­ten Man­da­ten (gepunk­te­te Linie) wird dabei nicht ersichtlich.

Abbildung 1: FDP Luzern, Entwicklung von Stimmenanteilen, Mandaten und Kandidierenden bei Nationalratswahlen im Zeitverlauf, 1987 bis 2023

Datenquelle: Bundesamt für Statistik, verschiedenen Datensätze
Kaum positive Effekte

Lässt sich der Befund für die FDP Luzern ver­all­ge­mei­nern? Die Abbil­dun­gen 2a und 2b deu­ten dar­auf hin, dass dies der Fall ist. Jeder Punkt steht dabei für eine Kan­to­nal­par­tei in einem Wahl­jahr zwi­schen 1987 und 2023. Dar­ge­stellt ist auf der X‑Achse jeweils, wie stark sich die Anzahl Kan­di­die­ren­der pro Man­dat im Ver­gleich zu den vor­he­ri­gen Wah­len für die jewei­li­ge Par­tei ver­än­dert hat. Die Y‑Achse zeigt die Gewin­ne und Ver­lus­te bei den Stimm­an­tei­len (lin­ker Teil der Abbil­dung) bzw. bei den Man­da­ten (rech­ter Teil der Abbil­dung). Wür­de der Grund­satz «Je mehr, des­to bes­ser» funk­tio­nie­ren, soll­ten wir in bei­den Abbil­dun­gen eine auf­stei­gen­de Linie sehen. Tat­säch­lich streu­en die Wer­te auf der Y‑Achse aber ohne erkenn­ba­ren Zusam­men­hang um die Null­li­nie. Die bei­den Abbil­dun­gen stüt­zen also nicht die Ver­mu­tung, dass mehr Kan­di­die­ren­de zu Stim­men- oder Man­dats­ge­win­nen beitragen.

Abbildungen 2a und 2b: Zusammenhang zwischen der Veränderung der Anzahl Kandidierender pro zu vergebendem Mandat und den Stimmen- bzw. Mandatsgewinnen und ‑verlusten bei Nationalratswahlen (1987 bis 2023)

Datenquelle: Bundesamt für Statistik, diverse Datensätze

An die­ser Ein­schät­zung ändert sich nichts Wesent­li­ches, wenn im Rah­men von Meh­re­be­nen­mo­del­len für ver­schie­de­ne Fak­to­ren kon­trol­liert wird, die eben­falls einen Ein­fluss auf die Wahl­er­geb­nis­se der Kan­to­nal­par­tei­en haben kön­nen. Ein­be­zo­gen wur­den hier die Gewin­ne und Ver­lus­te der Par­tei auf natio­na­ler Ebe­ne, um über­ge­ord­ne­te Trends wie die «grü­ne» Wahl von 2019 ein­zu­be­zie­hen, die Wahl­be­tei­li­gung, all­fäl­li­ge Ver­än­de­run­gen bei der Wahl­kreis­grös­se, also der Anzahl der Man­da­te, die im jewei­li­gen Kan­ton zu ver­ge­ben sind, sowie die Gesamt­zahl aller Kan­di­die­ren­den pro Man­dat im jewei­li­gen Kan­ton. Im Modell zur sta­tis­ti­schen Erklä­rung von Man­dats­ge­win­nen und ‑ver­lus­ten wur­de zudem der Ein­fluss von Lis­ten­ver­bin­dun­gen berück­sich­tigt. In Bezug auf die Ver­än­de­run­gen bei den Stim­men­an­tei­len zeigt das Modell tat­säch­lich einen signi­fi­kan­ten und posi­ti­ven Effekt: Wird die Zahl der voll­stän­dig gefüll­ten Lis­ten gegen­über der vor­he­ri­gen um eins erhöht, bringt dies im Schnitt einen Zuwachs von 0.45 Pro­zent­punk­ten. Betrach­tet man nur die eid­ge­nös­si­sche Wahl von 2023, liegt der ent­spre­chen­de Wert aber nur bei 0.21 Pro­zent­punk­ten. Der gerin­ge­re Effekt für die jüngs­ten Wah­len dürf­te dar­auf zurück­zu­füh­ren sein, dass sehr vie­le Kan­to­nal­par­tei­en die Zahl ihrer Lis­ten und damit die Kon­kur­renz um die Wäh­ler­stim­men erhöht haben1.

Die erziel­ten Stim­men­ge­win­ne schla­gen aller­dings nicht auf die erziel­ten Man­da­te durch. Hier liegt der ent­spre­chen­de Koef­fi­zi­ent prak­tisch bei null. Dass sich all­fäl­li­ge Stim­men­ge­win­ne durch zusätz­li­che Lis­ten nicht in Man­da­ten nie­der­schla­gen, ist dabei nicht nur auf die zumeist gerin­gen Wahl­kreis­grös­sen zurück­zu­füh­ren, in denen erheb­li­che Stim­men­ge­win­ne nötig sind, um sicher ein wei­te­res Man­dat zu errin­gen. Denn auch wenn die Ana­ly­se auf Kan­to­ne beschränkt wird, in denen min­des­tens zehn Man­da­te zu ver­ge­ben sind, ändert sich nichts am feh­len­den Zusam­men­hang zwi­schen den Lis­ten­zah­len und den Man­dats­ge­win­nen und ‑ver­lus­ten.


1 Oder um es mit einem Sprich­wort zu umschrei­ben: Vie­le Jäger sind des Hasen Tod.

Bild: wiki­me­dia commons

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