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Mit dem Schleppnetz auf Stimmenfang: Anzahl Kandidierende und Wahlerfolg

Martina Flick Witzig
15th November 2023

Lohnt es sich für politische Parteien, eine möglichst grosse Zahl an Listen aufzustellen, um sozusagen mit dem Schleppnetz auf Stimmenfang zu gehen? Die rekordhohe Zahl an Listen bzw. Kandidierenden bei den Nationalratswahlen von 2023 geben dieser Frage eine besondere Relevanz. Die vorliegende Auswertung zeigt allerdings, dass die Parteien von dieser Strategie kaum profitieren.

Immer mehr Kandidierende bei eidgenössischen Wahlen

Seit Jahrzehnten ist bei den Nationalratswahlen ein stetiger Anstieg der Listen- und damit auch der Kandidierendenzahlen zu beobachten (vgl. Beitrag von Georg Lutz), die bei den Nationalratswahlen von 2023 einen neuen Höchststand erreicht haben. Verantwortlich dafür ist in erster Linie die Möglichkeit von Unterlistenverbindungen, die es den Parteien auf kantonaler Ebene erlaubt, mit mehreren Listen ins Rennen zu gehen. Dadurch sollen unterschiedliche Wählergruppen angesprochen werden (beispielsweise durch alters- oder geschlechtsspezifische Listen). Zudem erhoffen sich die Parteien, dass die Kandidierenden in ihrem Umfeld für sich und ihre Partei werben und dadurch zusätzliche Stimmen generieren.

Doch geht dieses Kalkül auf? Abbildung 1 verdeutlicht die Entwicklung von Kandidierendenzahlen und Wahlergebnissen exemplarisch für die FDP Luzern. Dabei steht die durchgezogene Linie für den Stimmenanteil auf kantonaler Ebene, die einen längerfristigen Abwärtstrend zeigt. Die negative Entwicklung ist dabei noch etwas ausgeprägter als der Verlauf des FDP-Stimmenanteils auf nationaler Ebene (gestrichelte Linie). Die Balken und die dazugehörige Achse auf der rechten Seite der Abbildung zeigen, mit wie vielen Kandidierenden pro Mandat die Partei die einzelnen Wahlen jeweils bestritten hat. Die Zahl 1 (in den Jahren 1987 bis 1995) bedeutet also, dass die FDP mit einer vollständig gefüllten Liste zur Wahl angetreten sind, die Zahl 2 steht folgerichtig für zwei vollständig gefüllte Listen usw. Da auf den Unterlisten manchmal Zeilen frei bleiben, sind auch andere als ganzzahlige Werte möglich. Die Balken verdeutlichen den markanten Zuwachs an Kandidierenden im Jahr 2023, nachdem die Partei bei den vorangegangenen Wahlen deren Zahl bereits auf tieferem Niveau variierte. Ein Zusammenhang mit den Stimmenanteilen (durchgezogenen Linie) oder den erzielten Mandaten (gepunktete Linie) wird dabei nicht ersichtlich.

Abbildung 1: FDP Luzern, Entwicklung von Stimmenanteilen, Mandaten und Kandidierenden bei Nationalratswahlen im Zeitverlauf, 1987 bis 2023

Datenquelle: Bundesamt für Statistik, verschiedenen Datensätze
Kaum positive Effekte

Lässt sich der Befund für die FDP Luzern verallgemeinern? Die Abbildungen 2a und 2b deuten darauf hin, dass dies der Fall ist. Jeder Punkt steht dabei für eine Kantonalpartei in einem Wahljahr zwischen 1987 und 2023. Dargestellt ist auf der X-Achse jeweils, wie stark sich die Anzahl Kandidierender pro Mandat im Vergleich zu den vorherigen Wahlen für die jeweilige Partei verändert hat. Die Y-Achse zeigt die Gewinne und Verluste bei den Stimmanteilen (linker Teil der Abbildung) bzw. bei den Mandaten (rechter Teil der Abbildung). Würde der Grundsatz «Je mehr, desto besser» funktionieren, sollten wir in beiden Abbildungen eine aufsteigende Linie sehen. Tatsächlich streuen die Werte auf der Y-Achse aber ohne erkennbaren Zusammenhang um die Nulllinie. Die beiden Abbildungen stützen also nicht die Vermutung, dass mehr Kandidierende zu Stimmen- oder Mandatsgewinnen beitragen.

Abbildungen 2a und 2b: Zusammenhang zwischen der Veränderung der Anzahl Kandidierender pro zu vergebendem Mandat und den Stimmen- bzw. Mandatsgewinnen und -verlusten bei Nationalratswahlen (1987 bis 2023)

Datenquelle: Bundesamt für Statistik, diverse Datensätze

An dieser Einschätzung ändert sich nichts Wesentliches, wenn im Rahmen von Mehrebenenmodellen für verschiedene Faktoren kontrolliert wird, die ebenfalls einen Einfluss auf die Wahlergebnisse der Kantonalparteien haben können. Einbezogen wurden hier die Gewinne und Verluste der Partei auf nationaler Ebene, um übergeordnete Trends wie die «grüne» Wahl von 2019 einzubeziehen, die Wahlbeteiligung, allfällige Veränderungen bei der Wahlkreisgrösse, also der Anzahl der Mandate, die im jeweiligen Kanton zu vergeben sind, sowie die Gesamtzahl aller Kandidierenden pro Mandat im jeweiligen Kanton. Im Modell zur statistischen Erklärung von Mandatsgewinnen und -verlusten wurde zudem der Einfluss von Listenverbindungen berücksichtigt. In Bezug auf die Veränderungen bei den Stimmenanteilen zeigt das Modell tatsächlich einen signifikanten und positiven Effekt: Wird die Zahl der vollständig gefüllten Listen gegenüber der vorherigen um eins erhöht, bringt dies im Schnitt einen Zuwachs von 0.45 Prozentpunkten. Betrachtet man nur die eidgenössische Wahl von 2023, liegt der entsprechende Wert aber nur bei 0.21 Prozentpunkten. Der geringere Effekt für die jüngsten Wahlen dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sehr viele Kantonalparteien die Zahl ihrer Listen und damit die Konkurrenz um die Wählerstimmen erhöht haben1.

Die erzielten Stimmengewinne schlagen allerdings nicht auf die erzielten Mandate durch. Hier liegt der entsprechende Koeffizient praktisch bei null. Dass sich allfällige Stimmengewinne durch zusätzliche Listen nicht in Mandaten niederschlagen, ist dabei nicht nur auf die zumeist geringen Wahlkreisgrössen zurückzuführen, in denen erhebliche Stimmengewinne nötig sind, um sicher ein weiteres Mandat zu erringen. Denn auch wenn die Analyse auf Kantone beschränkt wird, in denen mindestens zehn Mandate zu vergeben sind, ändert sich nichts am fehlenden Zusammenhang zwischen den Listenzahlen und den Mandatsgewinnen und -verlusten.


1 Oder um es mit einem Sprichwort zu umschreiben: Viele Jäger sind des Hasen Tod.

Bild: wikimedia commons