Noch nie wollten so viele Schweizerinnen und Schweizer in den Nationalrat wie 2023. Im Durchschnitt kämpfen um jeden Sitz über 30 Kandidierende. Die Mitte und die GLP treten mit besonders viele Listen und Kandidaturen an. Hauptverantwortlich für die Flut an Listen ist die Möglichkeit von Listen- und Unterlistenverbindungen, die es den Parteien erlaubt, ohne ein Risiko einzugehen, mit mehreren Listen anzutreten. Ob so viele Listen und Kandidaturen die Wählerstärke der Parteien steigern oder überhaupt ein Gewinn für die Demokratie sind, ist hingegen fraglich.
Riesiger Andrang
Am 22. Oktober 2023 konkurrieren 5909 Personen auf 618 Listen um 194 im Proporz zu vergebende Sitze im Nationalrat. Zum Vergleich: 2019 waren es 4664 Kandidierende auf 511 Listen, 2007 waren es mit 311 Listen rund halb so viele als 2023. Die Anzahl der Bewerbungen variiert je nach Kanton, basierend vor allem auf der Anzahl der zur Verfügung stehenden Sitze. So bewerben sich z.B. im Kanton Zürich 1341 Kandidierende für 36 Sitze, während sich in Bern 776 Personen für 24 Sitze aufstellen lassen. Aber auch in den Kantonen mit nur zwei Sitzen ist die Zahl der Kandidaturen sehr hoch: so steigen im Kanton Jura 34 Personen ins Rennen, in Schaffhausen sind es 38 Personen. Diese Zunahme an Listen und Kandidaturen bedeutet vor allem, dass noch mehr Listen aufgestellt werden, auf denen gar niemand gewählt wird. 2019 wurden auf nur rund 100 der Listen mindestens eine Person gewählt, auf den anderen über 400 Listen war nicht eine Kandidatur erfolgreich.
Mitte und GLP als Treiber
Fast alle Parteien haben in jedem Kanton mehrere Listen aufgestellt, allerdings mit Unterschieden. Bei den Parteien fällt auf, dass vor allem die Mitte auf viele Listen setzt, gefolgt von der GLP. Die Mitte versucht mit 108 Listen und 1099 Kandierende ihre 28 Sitze zu halten. Die GLP präsentiert bei den Wahlen 2023 am zweitmeisten Kandidaturen und Listen: 841 Kandidierende bewerben sich auf 87 Listen, das ist doppelt so viel wie noch 2019. Die Zahl der SVP-Listen, der stärksten Partei, ist fast schon überschaubar. Die SVP steigt mit 69 Listen und 612 Kandidierenden in die Wahlen. Noch weniger Listen stellen von den etablierten Parteien nur die Grünen, mit 68 Listen und 643 Kandidaturen. Dazwischen liegen die FDP mit 75 Listen und 637 Kandidierenden, die SP mit 76 Listen und 710 Kandidierenden.
Die Zahl der Listen pro Kanton treibt mitunter bunte Blüten. Im Kanton Luzern treten die FDP und die Mitte mit je 11 Listen an, die FDP um einen Sitz zu verteidigen, die Mitte um deren drei. Die Mitte stellt auch im Kanton Thurgau 11 Listen, ein Kanton in dem es insgesamt 6 Sitze zu vergeben und die Mitte einen Sitz verteidigen will. Auch im Kanton Aargau stellt die Mitte 10 Listen, der Kanton mit den meisten Listen insgesamt, es gibt dort 52 Listen für die 15 Sitze. Auch die GLP hat in vielen Kantonen eine beeindruckende Anzahl an Listen: Neun Listen im Kanton Bern, acht in Aargau und Thurgau, sieben in Schaffhausen – wo nur gerade zwei Sitze zu vergeben sind.
Grafik 1. Anzahl Listen pro Partei 2007-2023 bei den Nationalratswahlen
Quelle: Bundesamt für Statistik
Listenflut dank Listen- und Unterlistenverbindungen
Die hohe Anzahl an Listen und Kandidaturen in der Schweiz resultiert teilweise aus der Vielzahl der Parteien, die bei Proporzwahlen antreten. Mit wenigen Ausnahmen, wie etwa der Lega im Tessin, treten alle Parteien in allen Kanton an. Der entscheidendere Grund für die Listenflut ist jedoch die Möglichkeit von Listen- und Unterlistenverbindungen. Diese erlauben es Parteien, mit mehreren Listen anzutreten, ohne negative Konsequenzen zu befürchten, und versprechen ihnen sogar kleine Vorteile.
Weil bei der Sitzzuteilung die Stimmen von verbundenen Listen eines Parteiblocks und von unterverbundenen Listen einer Partei zusammengezählt werden, erleiden Parteien keine Nachteile, wenn sie mit mehreren Listen antreten. Und auch kleine Parteien, die gar keine Chancen auf einen Sitz haben, schmälern die Wahlchancen grösserer Parteien nicht, solange sie in einem Parteienblock mit Listenverbindung eingebunden sind. Ohne Unterlistenverbindungen würde keine Partei mit mehreren Listen antreten und ohne Listenverbindungen gäbe es gerade in den kleineren Kantonen erheblichen Druck auf kleine Parteien, gar nicht anzutreten oder mehrere Parteien würden gemeinsame Listen bilden.
Parteien erhoffen sich dank mehreren Listen zum einen einen Vorteil bei der Sitzverteilung und zum anderen können sie dadurch mehr Personen eine Plattform bieten. Unter der Annahme, dass jede Liste noch ein paar zusätzlich Prozentpünktchen bringt, könnten zusätzliche Listen bei der Sitzverteilung den Ausschlag für einen Sitz mehr geben. Ob dem so ist, ist hingegen nicht belegt. Zwar erzielen Teillisten immer Ergebnisse im Kommastellenbereich. Allerdings ist zu vermuten, dass die Hauptliste einer Partei mehr Stimmen machen würde, wenn es nur diese eine Liste gäbe.
Abgesehen davon verpufft dieser mögliche Effekt, wenn alle Parteien dieselbe Strategie verfolgen, was offensichtlich inzwischen der Fall ist. Es sind nie mehr als 100 Prozent an Stimmen zu verteilen. Ob insgesamt die Kampagnenaktivität durch mehr Kandidierende steigt, weil sich mehr Personen im Wahlkampf engagieren, bleibt ebenfalls zu beweisen. Viele Kandidierenden investieren sehr wenig Zeit oder Geld in ihren Wahlkampf und die Vervielfachung von Kandidaturen ändert daran wenig. Und bei einer so hohen Zahl von Kandidaturen ist es für die einzelnen Kandidierenden schwierig, sich innerhalb einer Partei oder bei der Wählerschaft zu profilieren.
Wäre weniger mehr?
Ob sich viele Wählende darüber freuen, dass sie dieses Jahr noch mehr Auswahl haben als 2019 ist fraglich. Die Schweiz verfügt schon ohne die vielen Listen und Kandidierenden über ein komplexes Wahlsystem: es gibt zwei Kammern, die nach unterschiedlichen Systemen gewählt werden, man kann panaschieren, kumulieren und streichen. Es gibt zwar die Möglichkeit, eine unveränderte Liste einzulegen – was rund 45% der Wählenden auch tun – aber wenn es so viele Listen und mehrere Listen pro Partei gibt, nimmt die Qual bei der Wahl trotzdem für viele deutlich zu. Die vielen Listen- und Unterlisten erscheinen somit mehr als ein Spielfeld für Parteistrategen mit einer Vorliebe für Exceltabellen als eine echte Bereicherung für das politische System oder ein Zeichen lebendiger Demokratie. Die weitere Zunahme der Listen und Kandidierenden bei den Wahlen 2023 ist damit vor allem eine Signal, zumindest die Abschaffung von Unterlistenverbindungen wieder einmal zu diskutieren.
Listen- und Unterlistenverbindungen werden immer wieder kontrovers diskutiert. Mitunter gehen Parteien Verbindungen ein, die politisch heikel sind. Dass die Möglichkeit der Listen- und Unterlistenverbindungen hauptverantwortlich für die hohe Zahl an Listen und Kandidaturen sind, wird bisher in der Literatur oft wenig erwähnt.
Weiterführende Literatur:
- Bochsler, Daniel (2010). Who gains from apparentments under D’Hondt?. Electoral Studies, 29(4), 554-567.
- Tresch, Anke, Lauener, Lukas, Bernhard, Laurent, Lutz, Georg und Laura Scaperrotta (2020). Eidgenössische Wahlen 2019. Wahlteilnahme und Wahlentscheid. FORS-Lausanne. DOI: 10.24447/SLC-2020-00001.