Widerstand gegen EU-Grenzschutz kommt nicht übers linke Lager hinaus

Kurz­be­schrei­bung zur Abstim­mung vom 15. Mai 2022 über die Betei­li­gung an der euro­päi­schen Grenz- und Küs­ten­wa­che Frontex

Vorgeschichte

Da die EU nach der Migra­ti­ons­kri­se 2015/16 einen Aus­bau der Euro­päi­schen Agen­tur für Grenz- und Küs­ten­wa­che (Fron­tex) beschlos­sen hat und dafür zusätz­li­che per­so­nel­le und finan­zi­el­le Mit­tel benö­tigt, ver­ab­schie­det der Bun­des­rat im August 2020 die Bot­schaft zur erwei­ter­ten Euro­päi­schen Grenz- und Küs­ten­wa­che. Als Mit­glied des Schen­gen­raums (vgl. Vor­la­ge Nr. 517) ist die Schweiz seit 2008 ver­pflich­tet, alle Wei­ter­ent­wick­lun­gen des Schen­gen-Besitz­stan­des zu über­neh­men und sich nach dem Aus­bau dem­entspre­chend mit höhe­ren Bei­trags­zah­lun­gen und mehr Per­so­nal an Fron­tex zu beteiligen.

Im Par­la­ment wird die Debat­te über den Fron­tex-Aus­bau kri­tisch geführt. Im Stän­de­rat wird von der Rats­lin­ken die EU-Migra­ti­ons­po­li­tik als Gan­zes hin­ter­fragt und es ent­brennt eine Debat­te über flan­kie­ren­de huma­ni­tä­re Aus­gleichs­mass­nah­men, die an den erhöh­ten Fron­tex-Bei­trag gekop­pelt wer­den sol­len. Die Sicher­heits­po­li­ti­sche Kom­mis­si­on des Stän­de­rats emp­fiehlt ihrem Rat die zusätz­li­che Auf­nah­me von 2’800 Flücht­lin­ge im Rah­men des UNHCR-Resett­le­ment-Pro­gramms, was vom Rats­ple­num aber eben­so wie wei­te­re Anträ­ge in die­se Rich­tung ver­wor­fen wird. Auch im Natio­nal­rat will die lin­ke Rats­sei­te als Bedin­gung für eine Annah­me der Vor­la­ge das Kon­tin­gent der Resett­le­ment-Flücht­lin­ge bis auf 4’000 auf­sto­cken, schei­tert damit aber eben­falls. In den Schluss­ab­stim­mun­gen neh­men der Natio­nal­rat (mit 88 zu 80 Stim­men bei 28 Ent­hal­tun­gen) und der Stän­de­rat (mit 30 zu 14 Stim­men) die Vor­la­ge an. Die Mit­glie­der der SP und Grü­nen leh­nen die Fron­tex-Vor­la­ge geschlos­sen ab, im Natio­nal­rat gibt es zudem zahl­rei­che Nein-Stim­men und Ent­hal­tun­gen von Mit­glie­dern der SVP-Frak­ti­on, wel­che einer enge­ren Zusam­men­ar­beit mit der EU gene­rell nicht zustim­men möchten.

In der Fol­ge ergreift die Ver­ei­ni­gung Migrant Soli­da­ri­ty Net­work gemein­sam mit wei­te­ren huma­ni­tä­ren Orga­ni­sa­tio­nen das Refe­ren­dum, unter­stützt wer­den sie von den Grü­nen, der SP und der JUSO. Das Refe­ren­dum kommt mit 54’377 gül­ti­gen Unter­schrif­ten zustan­de – gemäss Aus­sa­gen eines betei­lig­ten Cam­pai­g­ners gelingt dies nur dank der Rege­lung, dass wie bei allen Vor­la­gen wäh­rend der Covid-Pan­de­mie zum Aus­gleich der pan­de­mie­be­ding­ten Nach­tei­le die Bun­des­kanz­lei die Beschei­ni­gung der gesam­mel­ten Unter­schrif­ten über­nimmt. Dadurch kön­ne das Komi­tee effek­tiv 100 statt wie sonst nur etwa 80 Tage für die eigent­li­che Samm­lung einsetzen.

Gegenstand

Der Aus­bau der Euro­päi­schen Grenz- und Küs­ten­wa­che hat für die Schweiz in ver­schie­de­ner Hin­sicht Aus­wir­kun­gen. Auf finan­zi­el­ler Ebe­ne erhöht sich der Bei­trag der Schweiz gemäss Finan­zie­rungs­schlüs­sel bis 2027 schritt­wei­se von CHF 24 Mio. (2021) auf schät­zungs­wei­se CHF 61 Mio. Weil bis 2027 rund 10’000 Per­so­nen als Reser­ve für die Kon­trol­le der Schen­gen-Aus­sen­gren­zen und im Bereich Rück­kehr zur Ver­fü­gung ste­hen sol­len, muss die Schweiz zudem zusätz­li­che Grenzschützer:innen zur Ver­fü­gung stel­len. Je nach Bedarf kön­nen das bis zu 40 Voll­zeit­stel­len sein (im Ver­gleich zu 6 Voll­zeit­stel­len im Jahr 2021). Die Reform soll nicht nur den Grenz­schutz stär­ken, son­dern durch die Ein­rich­tung einer Rechts­ab­tei­lung auf euro­päi­scher Ebe­ne auch den Grund­rechts­schutz der Flüch­ten­den ver­bes­sern. Auf­grund der Über­nah­me der EU-Ver­ord­nung wird auch eine Ände­rung des Aus­län­der- und Inte­gra­ti­ons­ge­set­zes not­wen­dig, die­se nimmt im Par­la­ment und im Abstim­mungs­kampf aber eine neben­säch­li­che Rol­le ein.

Abstimmungskampf

Wäh­rend die poli­ti­sche Alli­anz der Befür­wor­ten­den, der ins­be­son­de­re die GLP, die Mit­te, die FDP und zahl­rei­che Wirt­schafts­ver­bän­de ange­hö­ren, von Anfang an geschlos­sen auf­tritt, tun sich die SP und uner­war­te­ter­wei­se auch die SVP schwer damit, eine kla­re Paro­le zu fas­sen. Die SP wünscht sich huma­ni­tä­re Aus­gleichs­mass­nah­men zum Aus­bau der Grenz­schutz­agen­tur, der immer wie­der schwe­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen vor­ge­wor­fen wer­den. Gleich­zei­tig will sie nicht den Aus­schluss aus dem Schen­gen-Abkom­men ris­kie­ren. Zwar beschliesst die SP schliess­lich die Nein-Paro­le, doch das Lager der Gegner:innen, dem sich nebst den Grü­nen, der PdA und ver­schie­de­nen Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen auch die natio­nal­kon­ser­va­ti­ven und EU-skep­ti­schen Klein­par­tei­en EDU und SD anschlies­sen, zeigt sich ins­ge­samt wenig schlag­kräf­tig. Auf der ande­ren Sei­te kämpft die SVP damit, ihre gene­rel­le Ableh­nung aller EU-Rechts­ak­te mit ihrem Wunsch nach einer stren­ge­ren Migra­ti­ons­po­li­tik und schär­fe­ren Grenz­kon­trol­len zu ver­ein­ba­ren. Nach lang­wie­ri­gen par­tei­in­ter­nen Dis­kus­sio­nen ringt sich die SVP Anfang April schliess­lich zu einem Ja zur Fron­tex-Vor­la­ge durch.

Abbildung 1. Frontex-Abstimmung: Stimmempfehlungen und Ergebnisse
Quelle: Swissvotes

Das Refe­ren­dums­ko­mi­tee argu­men­tiert vor allem damit, dass Fron­tex in der Aus­übung sei­ner Tätig­kei­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen begeht. Gera­de die Schweiz als Gast­staat der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on dür­fe sich an einer sol­chen Migra­ti­ons­po­li­tik nicht betei­li­gen. Der kom­pro­miss­ori­en­tier­te Flü­gel der Geg­ner­schaft lehnt eine Betei­li­gung hin­ge­gen nicht kate­go­risch ab, son­dern for­dert nur die Kopp­lung des Bei­trags an eine zusätz­li­che Auf­nah­me von Flüchtenden.

Eines der pro­mi­nen­tes­ten Argu­men­te für die Fron­tex-Betei­li­gung wird durch den Bun­des­rat in der Per­son von Jus­tiz­mi­nis­te­rin Kel­ler-Sut­ter pro­pa­giert: Sie warnt mehr­fach davor, dass die Schweiz bei einer Ableh­nung der Reform aus dem Schen­gen­raum aus­ge­schlos­sen wer­den wür­de, es sei denn die EU käme der Schweiz sehr stark ent­ge­gen. Wei­te­re Stim­men – vor allem aus dem Tou­ris­mus­sek­tor – äus­sern ihre Beden­ken im Hin­blick auf die öko­no­mi­schen Fol­gen im Fal­le eines Endes der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit. Auch die Befürch­tung, dass die Schweiz lang­fris­tig vom Sicher­heits­sys­tem der EU abge­hängt wer­den könn­te und dadurch die natio­na­le Poli­zei­ar­beit ver­kom­pli­ziert wür­de, wird vorgebracht.

Zwar spielt dem Refe­ren­dums­ko­mi­tee der Rück­tritt von Fron­tex-Chef Leg­ge­ri Anfang Mai nach meh­re­ren Skan­da­len – dar­un­ter nach­ge­wie­se­ne Push­backs, Miss­ma­nage­ment und Mob­bing – schein­bar in die Kar­ten. Die Mei­nungs­um­fra­gen ver­schie­de­ner Zei­tun­gen las­sen bald dar­auf jedoch kei­nen Zwei­fel auf­kom­men, dass die Vor­la­ge an der Urne eine Mehr­heit erhal­ten wird.

Die Zei­tungs­be­richt­erstat­tung im Vor­feld der Abstim­mung greift die Angst vor einem Schen­gen-Aus­schluss deut­lich weni­ger oft auf als noch drei Jah­re zuvor bei der Abstim­mung über die EU-Waf­fen­richt­li­nie (Vor­la­ge Nr. 628). Sie trägt damit wohl der Tat­sa­che Rech­nung, dass das Refe­ren­dum dies­mal von lin­ken Grup­pie­run­gen ange­führt wird, die eigent­lich eine EU-Inte­gra­ti­on befür­wor­ten. Das all­ge­mei­ne Medi­en­in­ter­es­se schnellt nach dem Rück­tritt von Fron­tex-Chef Leg­ge­ri kurz­zei­tig in die Höhe, hält jedoch nur kurz an. Die Tona­li­tät der Medi­en ist – wie bei Behör­den­vor­la­gen üblich – eher posi­tiv, wobei die Dis­kus­si­on in der Deutsch­schweiz wohl­wol­len­der und inten­si­ver als in der West­schweiz geführt wird (fög 2022). Die Inse­ra­te­kam­pa­gnen in den Print­me­di­en fal­len der­weil ein­sei­tig aus (Heidelberger/Bühlmann 2022): 120 Pro-Inse­ra­ten steht ein ein­zi­ges Con­tra-Inse­rat entgegen.

Ergebnis

Die Schwei­zer Bevöl­ke­rung nimmt die Vor­la­ge im Mai 2022 mit 71.5% Ja-Stim­men deut­lich an. Der Ja-Anteil liegt in allen 26 Kan­to­nen über 60%. Der alt­be­kann­te Rös­ti-Gra­ben lässt sich in die­sem Fall nicht beob­ach­ten. Die Kan­to­ne mit den tiefs­ten Ja-Antei­len sind mit Genf (63% Ja), Basel-Stadt (66%), dem Tes­sin (66%) und Schaff­hau­sen (67%) aber alle­samt Grenz­kan­to­ne. Die Stimm­be­tei­li­gung liegt der­weil bei tie­fen 40%.

Abbildung 2. Abstimmung vom 15.05.2022 über Frontex, Abstimmungsergebnis nach Bezirken

Quelle: Bundesamt für Statistik

In der VOX-Nach­be­fra­gung (gfs.bern 2022) zeigt sich, dass nur Per­so­nen, die sich im poli­ti­schen Spek­trum «links­aus­sen» ver­or­ten, sowie die Grup­pe der 30–39-Jährigen mehr­heit­lich gegen die Betei­li­gung am Fron­tex-Aus­bau stimm­ten. Die mode­ra­te­re Grup­pe der «Links»-Wählenden wies bereits einen Ja-Anteil von 63% auf. Die Argu­men­te ihrer Par­tei­spit­zen ver­fin­gen bei der Wäh­ler­ba­sis der Grü­nen (42% Ja) und der SP (46% Ja) dem­entspre­chend nur bedingt. Bei den SVP-Sympathisant:innen betrug der Ja-Anteil der­weil fast 80%, bei jenen von FDP, GLP und Mit­te sogar rund 90%. Das Ver­trau­en in die EU hat­te in die­sem Fall kei­nen Ein­fluss auf den Abstim­mungs­ent­scheid. Hin­ge­gen stimm­te der Bevöl­ke­rungs­teil mit hohem Ver­trau­en in den Bun­des­rat und in die Poli­zei sowie Per­so­nen, die die Armee befür­wor­ten, beson­ders deut­lich zu.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag wur­de für die Abstim­mungs­da­ten­bank Swiss­vo­tes erstellt. Das Ori­gi­nal kann eben­so wie zahl­rei­che wei­ter­füh­ren­de Infor­ma­tio­nen rund um die Abstim­mungs­vor­la­ge unter https://swissvotes.ch/vote/657 her­un­ter­ge­la­den werden.

Emp­foh­le­ne Zitier­wei­se: Ammann, Aman­do (2023): Wider­stand gegen EU-Grenz­schutz kommt nicht übers lin­ke Lager hin­aus. Swiss­vo­tes – die Daten­bank der eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mun­gen. Online: www.swissvotes.ch. Abge­ru­fen am [Datum].

Refe­ren­zen:

  • Ammann, Aman­do (2022). Aus­ge­wähl­te Bei­trä­ge zur Schwei­zer Poli­tik: «Über­nah­me und Umset­zung der Ver­ord­nung des Euro­päi­schen Par­la­ments und des Rates über die Euro­päi­sche Grenz- und Küs­ten­wa­che (Fron­tex; BRG 20.064))», 2020–2022. Bern: Année Poli­tique Suis­se, Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft, Uni­ver­si­tät Bern. www.anneepolitique.swiss, abge­ru­fen am 8.3.2023.

  • fög (2022). Abstim­mungs­mo­ni­tor zu den Vor­la­gen vom 15. Mai 2022, Schluss­be­richt vom 13. Mai 2022. Zürich: For­schungs­zen­trum Öffent­lich­keit und Gesell­schaft der Uni­ver­si­tät Zürich.

  • gfs.bern (2022). VOX-Ana­ly­se Mai 2022. Nach­be­fra­gung und Ana­ly­se zur eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mung vom 15. Mai 2022. Bern: gfs.bern.

  • Hei­del­ber­ger, Anja, und Marc Bühl­mann (2022). APS-Zei­tungs- und Inse­ra­te­ana­ly­se zu den Abstim­mun­gen vom 15. Mai 2022. Zwi­schen­stand vom 5.5.2022. Bern: Année Poli­tique Suis­se, Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Bern.

  • Pres­se­bei­trag: Aar­gau­er Zei­tung vom 19.1.2022.

  • Erläu­te­run­gen des Bun­des­ra­tes zur Abstim­mung vom 15.5.2022 (Abstim­mungs­büch­lein). Her­aus­ge­ge­ben von der Bundeskanzlei.

  • Amt­li­che Bul­le­tins des Natio­nal- und des Stän­de­rats (Geschäft 20.064).

  • Bun­des­blatt: BBl 2020 7105.

Bild: unsplash.com

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