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Widerstand gegen EU-Grenzschutz kommt nicht übers linke Lager hinaus

Amando Ammann
2nd Juni 2023

Kurzbeschreibung zur Abstimmung vom 15. Mai 2022 über die Beteiligung an der europäischen Grenz- und Küstenwache Frontex

Vorgeschichte

Da die EU nach der Migrationskrise 2015/16 einen Ausbau der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex) beschlossen hat und dafür zusätzliche personelle und finanzielle Mittel benötigt, verabschiedet der Bundesrat im August 2020 die Botschaft zur erweiterten Europäischen Grenz- und Küstenwache. Als Mitglied des Schengenraums (vgl. Vorlage Nr. 517) ist die Schweiz seit 2008 verpflichtet, alle Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstandes zu übernehmen und sich nach dem Ausbau dementsprechend mit höheren Beitragszahlungen und mehr Personal an Frontex zu beteiligen.

Im Parlament wird die Debatte über den Frontex-Ausbau kritisch geführt. Im Ständerat wird von der Ratslinken die EU-Migrationspolitik als Ganzes hinterfragt und es entbrennt eine Debatte über flankierende humanitäre Ausgleichsmassnahmen, die an den erhöhten Frontex-Beitrag gekoppelt werden sollen. Die Sicherheitspolitische Kommission des Ständerats empfiehlt ihrem Rat die zusätzliche Aufnahme von 2'800 Flüchtlinge im Rahmen des UNHCR-Resettlement-Programms, was vom Ratsplenum aber ebenso wie weitere Anträge in diese Richtung verworfen wird. Auch im Nationalrat will die linke Ratsseite als Bedingung für eine Annahme der Vorlage das Kontingent der Resettlement-Flüchtlinge bis auf 4'000 aufstocken, scheitert damit aber ebenfalls. In den Schlussabstimmungen nehmen der Nationalrat (mit 88 zu 80 Stimmen bei 28 Enthaltungen) und der Ständerat (mit 30 zu 14 Stimmen) die Vorlage an. Die Mitglieder der SP und Grünen lehnen die Frontex-Vorlage geschlossen ab, im Nationalrat gibt es zudem zahlreiche Nein-Stimmen und Enthaltungen von Mitgliedern der SVP-Fraktion, welche einer engeren Zusammenarbeit mit der EU generell nicht zustimmen möchten.

In der Folge ergreift die Vereinigung Migrant Solidarity Network gemeinsam mit weiteren humanitären Organisationen das Referendum, unterstützt werden sie von den Grünen, der SP und der JUSO. Das Referendum kommt mit 54'377 gültigen Unterschriften zustande – gemäss Aussagen eines beteiligten Campaigners gelingt dies nur dank der Regelung, dass wie bei allen Vorlagen während der Covid-Pandemie zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile die Bundeskanzlei die Bescheinigung der gesammelten Unterschriften übernimmt. Dadurch könne das Komitee effektiv 100 statt wie sonst nur etwa 80 Tage für die eigentliche Sammlung einsetzen.

Gegenstand

Der Ausbau der Europäischen Grenz- und Küstenwache hat für die Schweiz in verschiedener Hinsicht Auswirkungen. Auf finanzieller Ebene erhöht sich der Beitrag der Schweiz gemäss Finanzierungsschlüssel bis 2027 schrittweise von CHF 24 Mio. (2021) auf schätzungsweise CHF 61 Mio. Weil bis 2027 rund 10'000 Personen als Reserve für die Kontrolle der Schengen-Aussengrenzen und im Bereich Rückkehr zur Verfügung stehen sollen, muss die Schweiz zudem zusätzliche Grenzschützer:innen zur Verfügung stellen. Je nach Bedarf können das bis zu 40 Vollzeitstellen sein (im Vergleich zu 6 Vollzeitstellen im Jahr 2021). Die Reform soll nicht nur den Grenzschutz stärken, sondern durch die Einrichtung einer Rechtsabteilung auf europäischer Ebene auch den Grundrechtsschutz der Flüchtenden verbessern. Aufgrund der Übernahme der EU-Verordnung wird auch eine Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes notwendig, diese nimmt im Parlament und im Abstimmungskampf aber eine nebensächliche Rolle ein.

Abstimmungskampf

Während die politische Allianz der Befürwortenden, der insbesondere die GLP, die Mitte, die FDP und zahlreiche Wirtschaftsverbände angehören, von Anfang an geschlossen auftritt, tun sich die SP und unerwarteterweise auch die SVP schwer damit, eine klare Parole zu fassen. Die SP wünscht sich humanitäre Ausgleichsmassnahmen zum Ausbau der Grenzschutzagentur, der immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Gleichzeitig will sie nicht den Ausschluss aus dem Schengen-Abkommen riskieren. Zwar beschliesst die SP schliesslich die Nein-Parole, doch das Lager der Gegner:innen, dem sich nebst den Grünen, der PdA und verschiedenen Menschenrechtsorganisationen auch die nationalkonservativen und EU-skeptischen Kleinparteien EDU und SD anschliessen, zeigt sich insgesamt wenig schlagkräftig. Auf der anderen Seite kämpft die SVP damit, ihre generelle Ablehnung aller EU-Rechtsakte mit ihrem Wunsch nach einer strengeren Migrationspolitik und schärferen Grenzkontrollen zu vereinbaren. Nach langwierigen parteiinternen Diskussionen ringt sich die SVP Anfang April schliesslich zu einem Ja zur Frontex-Vorlage durch.

Abbildung 1. Frontex-Abstimmung: Stimmempfehlungen und Ergebnisse
Quelle: Swissvotes

Das Referendumskomitee argumentiert vor allem damit, dass Frontex in der Ausübung seiner Tätigkeiten Menschenrechtsverletzungen begeht. Gerade die Schweiz als Gaststaat der Genfer Flüchtlingskonvention dürfe sich an einer solchen Migrationspolitik nicht beteiligen. Der kompromissorientierte Flügel der Gegnerschaft lehnt eine Beteiligung hingegen nicht kategorisch ab, sondern fordert nur die Kopplung des Beitrags an eine zusätzliche Aufnahme von Flüchtenden.

Eines der prominentesten Argumente für die Frontex-Beteiligung wird durch den Bundesrat in der Person von Justizministerin Keller-Sutter propagiert: Sie warnt mehrfach davor, dass die Schweiz bei einer Ablehnung der Reform aus dem Schengenraum ausgeschlossen werden würde, es sei denn die EU käme der Schweiz sehr stark entgegen. Weitere Stimmen – vor allem aus dem Tourismussektor – äussern ihre Bedenken im Hinblick auf die ökonomischen Folgen im Falle eines Endes der Personenfreizügigkeit. Auch die Befürchtung, dass die Schweiz langfristig vom Sicherheitssystem der EU abgehängt werden könnte und dadurch die nationale Polizeiarbeit verkompliziert würde, wird vorgebracht.

Zwar spielt dem Referendumskomitee der Rücktritt von Frontex-Chef Leggeri Anfang Mai nach mehreren Skandalen – darunter nachgewiesene Pushbacks, Missmanagement und Mobbing – scheinbar in die Karten. Die Meinungsumfragen verschiedener Zeitungen lassen bald darauf jedoch keinen Zweifel aufkommen, dass die Vorlage an der Urne eine Mehrheit erhalten wird.

Die Zeitungsberichterstattung im Vorfeld der Abstimmung greift die Angst vor einem Schengen-Ausschluss deutlich weniger oft auf als noch drei Jahre zuvor bei der Abstimmung über die EU-Waffenrichtlinie (Vorlage Nr. 628). Sie trägt damit wohl der Tatsache Rechnung, dass das Referendum diesmal von linken Gruppierungen angeführt wird, die eigentlich eine EU-Integration befürworten. Das allgemeine Medieninteresse schnellt nach dem Rücktritt von Frontex-Chef Leggeri kurzzeitig in die Höhe, hält jedoch nur kurz an. Die Tonalität der Medien ist – wie bei Behördenvorlagen üblich – eher positiv, wobei die Diskussion in der Deutschschweiz wohlwollender und intensiver als in der Westschweiz geführt wird (fög 2022). Die Inseratekampagnen in den Printmedien fallen derweil einseitig aus (Heidelberger/Bühlmann 2022): 120 Pro-Inseraten steht ein einziges Contra-Inserat entgegen.

Ergebnis

Die Schweizer Bevölkerung nimmt die Vorlage im Mai 2022 mit 71.5% Ja-Stimmen deutlich an. Der Ja-Anteil liegt in allen 26 Kantonen über 60%. Der altbekannte Rösti-Graben lässt sich in diesem Fall nicht beobachten. Die Kantone mit den tiefsten Ja-Anteilen sind mit Genf (63% Ja), Basel-Stadt (66%), dem Tessin (66%) und Schaffhausen (67%) aber allesamt Grenzkantone. Die Stimmbeteiligung liegt derweil bei tiefen 40%.

Abbildung 2. Abstimmung vom 15.05.2022 über Frontex, Abstimmungsergebnis nach Bezirken

Quelle: Bundesamt für Statistik

In der VOX-Nachbefragung (gfs.bern 2022) zeigt sich, dass nur Personen, die sich im politischen Spektrum «linksaussen» verorten, sowie die Gruppe der 30-39-Jährigen mehrheitlich gegen die Beteiligung am Frontex-Ausbau stimmten. Die moderatere Gruppe der «Links»-Wählenden wies bereits einen Ja-Anteil von 63% auf. Die Argumente ihrer Parteispitzen verfingen bei der Wählerbasis der Grünen (42% Ja) und der SP (46% Ja) dementsprechend nur bedingt. Bei den SVP-Sympathisant:innen betrug der Ja-Anteil derweil fast 80%, bei jenen von FDP, GLP und Mitte sogar rund 90%. Das Vertrauen in die EU hatte in diesem Fall keinen Einfluss auf den Abstimmungsentscheid. Hingegen stimmte der Bevölkerungsteil mit hohem Vertrauen in den Bundesrat und in die Polizei sowie Personen, die die Armee befürworten, besonders deutlich zu.


Hinweis: Dieser Beitrag wurde für die Abstimmungsdatenbank Swissvotes erstellt. Das Original kann ebenso wie zahlreiche weiterführende Informationen rund um die Abstimmungsvorlage unter https://swissvotes.ch/vote/657 heruntergeladen werden.

Empfohlene Zitierweise: Ammann, Amando (2023): Widerstand gegen EU-Grenzschutz kommt nicht übers linke Lager hinaus. Swissvotes – die Datenbank der eidgenössischen Volksabstimmungen. Online: www.swissvotes.ch. Abgerufen am [Datum].

Referenzen:

  • Ammann, Amando (2022). Ausgewählte Beiträge zur Schweizer Politik: «Übernahme und Umsetzung der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache (Frontex; BRG 20.064))», 2020-2022. Bern: Année Politique Suisse, Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern. www.anneepolitique.swiss, abgerufen am 8.3.2023.

  • fög (2022). Abstimmungsmonitor zu den Vorlagen vom 15. Mai 2022, Schlussbericht vom 13. Mai 2022. Zürich: Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich.

  • gfs.bern (2022). VOX-Analyse Mai 2022. Nachbefragung und Analyse zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 15. Mai 2022. Bern: gfs.bern.

  • Heidelberger, Anja, und Marc Bühlmann (2022). APS-Zeitungs- und Inserateanalyse zu den Abstimmungen vom 15. Mai 2022. Zwischenstand vom 5.5.2022. Bern: Année Politique Suisse, Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.

  • Pressebeitrag: Aargauer Zeitung vom 19.1.2022.

  • Erläuterungen des Bundesrates zur Abstimmung vom 15.5.2022 (Abstimmungsbüchlein). Herausgegeben von der Bundeskanzlei.

  • Amtliche Bulletins des National- und des Ständerats (Geschäft 20.064).

  • Bundesblatt: BBl 2020 7105.

Bild: unsplash.com