Auch Netflix und Co. müssen den unabhängigen Schweizer Film unterstützen

Kurz­be­schrei­bung zur Abstim­mung vom 15. Mai 2022 über das Film­ge­setz.

Vorgeschichte

Im Rah­men der Kul­tur­bot­schaft 2021–2024 prä­sen­tiert der Bun­des­rat 2020 eine Revi­si­on des Film­ge­set­zes. Zur För­de­rung des unab­hän­gi­gen Schwei­zer Film­schaf­fens will der Bun­des­rat für Anbie­ten­de von Online-Strea­ming­diens­ten eine Inves­ti­ti­ons­pflicht sowie eine Min­dest­quo­te für euro­päi­sche Pro­duk­tio­nen ein­füh­ren. Im Feh­len einer sol­chen Inves­ti­ti­ons­pflicht und Min­dest­quo­te sieht der Bun­des­rat zum einen unglei­che Spies­se zwi­schen den Anbie­ten­den, denn anders als für Online­diens­te gel­ten für natio­na­le Fern­seh­sen­der sol­che Vor­ga­ben bereits. Zum andern fehl­ten der Schwei­zer Film­bran­che ohne sol­che Vor­ga­ben Mit­tel, weil sich der Film­kon­sum der Bevöl­ke­rung im Zug der Digi­ta­li­sie­rung zuneh­mend auf Online-Ange­bo­te ver­la­gert hat. In Anleh­nung an den gröss­ten sol­chen Strea­ming­dienst eta­bliert sich für die Vor­la­ge in den Medi­en als­bald die Bezeich­nung «Lex Netflix».

Da die­se Vor­la­ge die umstrit­tens­te in der Kul­tur­bot­schaft ist, ent­schei­det der Stän­de­rat das Geschäft abzu­kop­peln und in einem ordent­li­chen Ver­fah­ren zu behan­deln. Umstrit­ten sind im Par­la­ment ins­be­son­de­re die Höhe der Inves­ti­ti­ons­pflicht, wer von die­ser aus­ge­nom­men wer­den soll und ob und bis zu wel­chem Betrag die Inves­ti­ti­ons­ab­ga­ben mit Gra­tis-Wer­be­leis­tun­gen für den Schwei­zer Film kom­pen­siert wer­den können.

Der Natio­nal­rat heisst die Vor­la­ge in der Schluss­ab­stim­mung mit 124 zu 67 Stim­men bei drei Ent­hal­tun­gen gut, der Stän­de­rat mit 32 zu 8 Stim­men bei 4 Ent­hal­tun­gen. Für die Geset­zes­re­vi­si­on stim­men die geschlos­se­nen Frak­tio­nen der SP, Grü­nen und GLP sowie Mehr­hei­ten aus den Frak­tio­nen der FDP.Liberalen und der Mit­te. Die SVP-Frak­ti­on stimmt geschlos­sen dagegen.

Ein Bünd­nis der Jun­gen SVP, der Jung­frei­sin­ni­gen und der Jun­gen GLP ergreift das Refe­ren­dum, wel­ches im Früh­ling 2022 mit 51’872 gül­ti­gen Unter­schrif­ten zustan­de kommt. Kri­ti­siert wer­den haupt­säch­lich die Inves­ti­ti­ons­pflicht und die Min­dest­quo­te an euro­päi­schen Fil­men. Gemäss den Jung­par­tei­en ent­ste­hen für Konsument:innen dadurch höhe­re Abon­ne­ments­prei­se für Fil­me, die sie gar nicht sehen möchten.

Gegenstand

Die Revi­si­on des Film­ge­set­zes ver­pflich­tet Strea­ming­diens­te dazu, min­des­tens 4 Pro­zent ihres in der Schweiz erziel­ten Umsat­zes in unab­hän­gi­ge Schwei­zer Fil­me zu inves­tie­ren. Die Inves­ti­ti­ons­pflicht für Schwei­zer TV-Anbie­ten­de in glei­cher Höhe bleibt erhal­ten. Der Bund schätzt die Mehr­ein­nah­men auf­grund der erwei­ter­ten Inves­ti­ti­ons­pflicht auf CHF 18 Mio. Wei­ter muss das Ange­bot von Strea­ming­diens­ten neu zu min­des­tens 30 Pro­zent aus euro­päi­schen Fil­men und Seri­en bestehen. Für Fern­seh­sen­der liegt die­se Quo­te wei­ter­hin bei 50 Pro­zent. Wer­be­leis­tun­gen kön­nen bis zu einem Betrag von 500 000 CHF an die Abga­be ange­rech­net werden.

Abstimmungskampf

Die bür­ger­li­chen Jung­par­tei­en wer­den im Abstim­mungs­kampf von FDP, SVP, EDU und SD unter­stützt. Die Paro­len der Par­tei­en wider­spie­geln somit gröss­ten­teils die Hal­tun­gen im Par­la­ment. Nur die FDP, wel­che in den Räten noch mehr­heit­lich für die Vor­la­ge gestimmt hat, wech­selt ins Nein-Lager; eini­ge kan­to­na­le FDP-Sek­tio­nen aus der fran­zö­si­schen und der ita­lie­ni­schen Schweiz blei­ben aber bei einem Ja. Eben­falls ein Nein emp­feh­len ins­be­son­de­re die Wirt­schafts­ver­bän­de und Vertreter:innen der TV-Bran­che wie etwa die Ver­bän­de der Regio­nal­fern­se­hen und der Schwei­zer Pri­vat­fern­se­hen. Für ein Ja wer­ben lin­ke und Mit­te-Par­tei­en, mit abwei­chen­den kan­to­na­len Sek­tio­nen bei der GLP (deren Jung­par­tei zu den Refe­ren­dums­füh­ren­den gehört) und der Mit­te. Unter­stüt­zung erhal­ten sie von den Gewerk­schaf­ten und diver­sen Orga­ni­sa­tio­nen von Film- und Kulturschaffenden.

Abbildung 1. Änderung des Filmgesetzes: Stimmempfehlungen und Ergebnisse

Quelle: Swissvotes

Im Abstim­mungs­kampf stel­len die Gegner:innen drei Haupt­ar­gu­men­te ins Zen­trum: Die Inves­ti­ti­ons­pflicht sei eine «Zwangs­steu­er», wel­che zu einer Erhö­hung der Abo­prei­se für die Konsument:innen füh­ren könn­te. Die 30-Pro­zent-Quo­te an euro­päi­schem Film­ma­te­ri­al wird als «euro­zen­trisch» und «bevor­mun­dend» kri­ti­siert. Zuletzt wird bemän­gelt, dass Schwei­zer TV-Sen­der mit die­ser Geset­zes­än­de­rung schlech­ter gestellt wer­den, da sie die Abga­be nun nicht mehr wie bis anhin voll­um­fäng­lich in Form von Gra­tis­wer­bung für den Schwei­zer Film leis­ten können.

Gemäss den Befürworter:innen bringt die Vor­la­ge hin­ge­gen eine längst nöti­ge För­de­rung des Schwei­zer Film­schaf­fens, die ins­be­son­de­re wirt­schaft­lich posi­ti­ve Fol­gen für die Schweiz haben wer­de. So erwar­ten sie eine ver­stärk­te inlän­di­sche Film­pro­duk­ti­on und als Fol­ge die Schaf­fung neu­er Arbeits­stel­len und Auf­trä­ge an die loka­le Wirt­schaft. Die Min­dest­quo­te füh­re zu einer Diver­si­fi­zie­rung des Ange­bo­tes und hel­fe dabei den Schwei­zer Film bekann­ter zu machen. Zudem gel­te es für Strea­ming­an­bie­ten­de glei­che Bedin­gun­gen wie für Schwei­zer Fern­seh­sen­der zu schaffen.

Für Auf­se­hen sorgt Mit­te April ein Feh­ler im bereits ver­schick­ten Abstim­mungs­büch­lein. In einer Gra­fik, die auf­zei­gen soll, wo in Euro­pa über­all ver­gleich­ba­re Inves­ti­ti­ons­pflich­ten exis­tie­ren, wur­den auch Län­der auf­ge­nom­men, auf die das nicht zutrifft. Die Bun­des­kanz­lei kor­ri­giert die Gra­fi­ken auf ihrer Web­site, das Refe­ren­dums­ko­mi­tee zieht den Streit aber vor Bun­des­ge­richt. Die­ses ent­schei­det erst nach erfolg­ter Abstim­mung: Das Abstim­mungs­er­geb­nis bleibt gül­tig, weil der Inhalt des Abstim­mungs­büch­leins wegen einer gesetz­li­chen Lücke gar nicht gericht­lich anfecht­bar sei; was aber die all­ge­mei­ne Infor­ma­ti­ons­la­ge der Stimm­be­rech­tig­ten betref­fe, so sei der Feh­ler gera­de dank der Kri­tik durch das Refe­ren­dums­ko­mi­tee noch recht­zei­tig bekannt und öffent­lich rich­tig-gestellt worden.

Ergebnis

Der Aus­gang der Volks­ab­stim­mung ist mit einem Anteil von 58.4% Ja-Stim­men rela­tiv deut­lich. Die Zustim­mung ist ins­be­son­de­re in der West­schweiz stark aus­ge­prägt (Waadt, Genf und Neu­en­burg mit über 70% Zustim­mung). Nein-Mehr­hei­ten gibt es nur in Tei­len der länd­li­chen Deutsch­schweiz, am deut­lichs­ten in Schaff­hau­sen und Schwyz (58% Nein). Die Stimm­be­tei­li­gung beträgt 40%.

Abbildung 2. Abstimmung vom 15.05.2022 über das Filmgesetz, Abstimmungsergebnis nach Bezirken

Quelle: Bundesamt für Statistik

Die VOX-Nach­be­fra­gung (gfs.bern 2022) zeigt auf, dass die Befrag­ten die per­sön­li­che Bedeu­tung der Lex Net­flix für sich als aus­ser­ge­wöhn­lich gering ein­schätz­ten, was – nebst dem Feh­len ande­rer zug­kräf­ti­ger Vor­la­gen am sel­ben Tag – die tie­fe Betei­li­gungs­ra­te erklä­ren könn­te. In den meis­ten Bevöl­ke­rungs­grup­pen stiess die Vor­la­ge mehr­heit­lich auf Zustim­mung, nicht aber bei Men­schen, die sich im poli­ti­schen Spek­trum rechts ein­ord­nen oder SVP wäh­len. Als Haupt­ar­gu­ment gegen die Vor­la­ge wur­de genannt, dass der Film­sek­tor bereits genug sub­ven­tio­niert wer­de. Aus­schlag­ge­bend für das Ja waren die erhoff­ten wirt­schaft­li­chen Vor­tei­le und die Ansicht, dass die zusätz­li­che Finan­zie­rung für die Film­för­de­rung in der Schweiz wich­tig sei.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag wur­de für die Abstim­mungs­da­ten­bank Swiss­vo­tes erstellt. Das Ori­gi­nal kann eben­so wie zahl­rei­che wei­ter­füh­ren­de Infor­ma­tio­nen rund um die Abstim­mungs­vor­la­ge unter https://swissvotes.ch/vote/655 her­un­ter­ge­la­den werden.

Emp­foh­le­ne Zitier­wei­se: Kuhn, Sarah (2023): Auch Net­flix und Co. müs­sen den unab­hän­gi­gen Schwei­zer Film unter­stüt­zen. Swiss­vo­tes – die Daten­bank der eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mun­gen. Online: www.swissvotes.ch. Abge­ru­fen am [Datum].

Refe­ren­zen:

  • Ger­ber, Mar­lè­ne, und Sarah Kuhn (2023). Aus­ge­wähl­te Bei­trä­ge zur Schwei­zer Poli­tik: Revi­si­on des Film­ge­set­zes (Lex Net­flix; BRG 20.030), 2020–2022. Bern: Année Poli­tique Suis­se, Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft, Uni­ver­si­tät Bern. www.anneepolitique.swiss, abge­ru­fen am 28.2.2023.

  • Gök­ce, Meli­ke (2023). Aus­ge­wähl­te Bei­trä­ge zur Schwei­zer Poli­tik: Kul­tur­bot­schaft 2021–2024 (BRG 20.030), 2020. Bern: Année Poli­tique Suis­se, Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft, Uni­ver­si­tät Bern. www.anneepolitique.swiss, abge­ru­fen am 28.2.2023.

  • gfs.bern (2022). VOX-Ana­ly­se Mai 2022. Nach­be­fra­gung und Ana­ly­se zur eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mung vom 15. Mai 2022. Bern: gfs.bern.

  • Hei­del­ber­ger, Anja, und Marc Bühl­mann (2022). APS-Zei­tungs- und Inse­ra­te­ana­ly­se zu den Abstim­mun­gen vom 15.5.2022. Bern: Année Poli­tique Suis­se, Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Bern.

  • Pres­se­bei­trä­ge: Tages-Anzei­ger vom 24.1.2022, vom 13.4.2022 und vom 28.4.2022; St.Galler Tag­blatt vom 30.3.2022; Aar­gau­er Zei­tung vom 23.4.2022; Neue Zür­cher Zei­tung vom 16.8.2022.

  • Erläu­te­run­gen des Bun­des­ra­tes zur Abstim­mung vom 15.5.2022 (Abstim­mungs­büch­lein). Her­aus­ge­ge­ben von der Bundeskanzlei.

  • Amt­li­che Bul­le­tins des Natio­nal- und des Stän­de­rats (Geschäft 20.030).

  • Bun­des­blatt: BBl 2020 3131. BBl 2021 2326. BBl 2022 640. BBI 2022 2010.

  • Bun­des­ge­richts­ur­teil BGE 1C_225/2022.

Bild: unsplash.com

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