Ökonomische Ungleichheit: Wenn Wissen und Handeln auseinanderklaffen

Wie neh­men Bür­ge­rin­nen und Bür­ger sozia­le Ungleich­heit wahr und wel­che Schlüs­se zie­hen sie für ihr Wahl­ver­hal­ten dar­aus? Die For­schung zeigt: Die Ein­schät­zung und Bewer­tung von Ein­kom­mens­un­ter­schie­den hängt von der eige­nen öko­no­mi­schen Posi­ti­on und der ideo­lo­gi­schen Selbst­po­si­tio­nie­rung ab und auch eine ableh­nen­de Hal­tung gegen­über Ungleich­heit führt nicht auto­ma­tisch zur Wahl einer Par­tei, die Umver­tei­lung unterstützt.

Die öko­no­mi­sche Ungleich­heit ist ein sozia­les Pro­blem: Die wis­sen­schaft­li­che Evi­denz ihrer nega­ti­ven Kon­se­quen­zen für das Leben der Men­schen und der Gesell­schaft gene­rell ist erdrü­ckend. Dies zeigt sich zum Bei­spiel in gerin­ge­rer Lebens­er­war­tung oder in der Zunah­me der Kri­mi­na­li­tät in sehr unglei­chen Län­dern (Necker­man und Tor­che 2007).

Demo­kra­ti­sche Staa­ten hät­ten eigent­lich ein sehr wirk­sa­mes Instru­ment in der Hand, um Ungleich­heit zu bekämp­fen: Die Umver­tei­lung von Gel­dern von Reich zu Arm, was in der Regel mit pro­gres­si­ven Steu­er­sys­te­men erreicht wird. Die euro­päi­schen Staa­ten unter­schei­den sich jedoch dar­in, wie stark sie Löh­ne und Ver­mö­gen umver­tei­len. Wäh­rend die skan­di­na­vi­schen Län­der mit viel Umver­tei­lung her­aus­ste­chen, ist die Schweiz in Euro­pa je nach Zähl­wei­se eher im unte­ren Drit­tel angesiedelt.

Die west­li­chen Staa­ten haben kaum auf die stei­gen­de öko­no­mi­sche Ungleich­heit reagiert und Poli­ti­ken für mehr Umver­tei­lung rea­li­siert. Die Wis­sen­schaft ist sich unei­nig, war­um dies der Fall ist. Unter­stüt­zen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in Zei­ten von gros­ser Ungleich­heit Poli­ti­ken für mehr Umver­tei­lung oder wenn nicht, war­um? Haben die Bür­ger als Wäh­len­de über­haupt eine akku­ra­te Vor­stel­lung davon, wie hoch die öko­no­mi­sche und sozia­le Ungleich­heit in ihrem Land ist und wie bewer­ten sie die­se? Wel­che Bedeu­tung haben die Fra­gen von Ungleich­heit und Umver­tei­lung schliess­lich für ihr Wahl­ver­hal­ten? In einem For­schungs­pro­jekt, das vom Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds (SNF) unter­stützt wur­de, sind wir genau die­sen Fra­gen nachgegangen.

Eine grosse Mehrheit liegt falsch

Eine mehr oder weni­ger genaue Wahr­neh­mung der öko­no­mi­schen und sozia­len Ungleich­heit ist für die poli­ti­sche Mit­wir­kung der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ent­schei­dend und spielt für die poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ge­rin­nen und ‑trä­ger eine gros­se Rol­le. Nur so kann erwar­tet wer­den, dass ihre Poli­tik­ge­stal­tung auf der Rea­li­tät beruht.

Wir haben in unse­rer For­schung fol­gen­der­mas­sen nach der wahr­ge­nom­me­nen öko­no­mi­schen Ungleich­heit gefragt: «Wie schät­zen Sie das Haus­halts­ein­kom­men eines rei­chen und eines armen Haus­halts ein?» Die Umfra­ge wur­de in ver­schie­de­nen euro­päi­schen Län­dern durch­ge­führt. Um abschät­zen zu kön­nen, wie kor­rekt Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer die öko­no­mi­sche Ungleich­heit ein­schät­zen, wur­den ihre Aus­sa­gen über die Haus­halts­ein­kom­men mit den objek­ti­ven Wer­ten aus offi­zi­el­len Sta­tis­ti­ken ver­gli­chen. Erge­ben haben sich drei Grup­pen: Die­je­ni­gen, die eine sehr genaue Vor­stel­lung von den Ein­kom­mens­un­ter­schie­den in der Schweiz haben. Die­se Befrag­ten wuss­ten exakt, wie hoch die jewei­li­gen durch­schnitt­li­chen Ein­kom­men in der Schweiz sind und konn­ten damit die öko­no­mi­sche Ungleich­heit per­fekt ein­schät­zen. Eine zwei­te Grup­pe über­schätz­te die Ein­kom­mens­un­ter­schie­de, das heisst, die Ein­kom­mens­un­ter­schie­de waren gefühlt grös­ser als in der Rea­li­tät. Eine drit­te Grup­pe unter­schätz­te das wah­re Aus­mass an Ungleich­heit, das heisst, die wahr­ge­nom­me­nen Unter­schie­de sind zu klein, um kor­rekt zu sein.

Daten und Methoden
Für die Zah­len im Text und die Abbil­dung 1 wur­den Daten aus der «Ine­qua­li­ty and Politics»-Umfrage (IAP) (Pon­tus­son et al. 2020) ver­wen­det. Dabei han­delt es sich um eine ver­glei­chen­de Umfra­ge unter jeweils zir­ka 2000 Befrag­ten in 13 euro­päi­schen Län­dern und den USA, die im Som­mer 2019 online durch­ge­führt wor­den war. Die Umfra­ge wur­de unter der Lei­tung von Pro­fes­sor Jonas Pon­tus­son und Pro­fes­so­rin Natha­lie Giger von einem pro­fes­sio­nel­len Umfra­ge­insti­tut umge­setzt und vom Euro­päi­schen For­schungs­fonds (ERC) und dem Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds (SNF) finan­ziert. Dar­über hin­aus wur­den Daten von der EU-Sta­tis­tik über Ein­kom­men und Lebens­be­din­gun­gen (EU-SILC) ver­wen­det. Dar­aus grif­fen wir auf die durch­schnitt­li­chen Ein­kom­men des 10-Pro­zent- bezie­hungs­wei­se 90-Pro­zent-Per­zen­tils der Ein­kom­mens­ver­tei­lung zurück und ver­gli­chen die­se mit den wahr­ge­nom­me­nen Wer­ten. Zur «kor­rek­ten» Grup­pe wur­de gezählt, wenn die Wahr­neh­mung mit einer maxi­ma­len Abwei­chung von 10 Pro­zent kor­rekt wahr­ge­nom­men wur­de. Die Abbil­dung 2 stammt aus Hel­fer et al. (2023) und basiert auf einer ande­ren Daten­quel­le und stammt aus dem Pro­jekt «Do Mem­bers of Par­lia­ment have accu­ra­te per­cep­ti­on of voter pre­fe­ren­ces?» unter der Lei­tung von Fré­dé­ric Varo­ne, das vom SNF finan­ziert wur­de. Die Daten stam­men aus dem Jahr 2018 und umfas­sen die Ant­wor­ten von 4667 Bür­ge­rin­nen und Bür­gern sowie von 228 Poli­ti­ke­rin­nen und Politikern.

Unse­re For­schung zeigt, dass die Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer nicht sehr gut sind, die Ein­kom­mens­un­ter­schie­de zwi­schen Arm und Reich ein­zu­schät­zen: Nur gera­de knapp 14 Pro­zent befin­den sich in der ers­ten Grup­pe, die die Ein­kom­mens­un­ter­schie­de kor­rekt ein­schätzt. Inter­es­sant ist, dass sich die Unter- und Über­schät­zun­gen in etwa die Waa­ge hal­ten, das heisst, 50 Pro­zent der Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer sind der Mei­nung, die Ein­kom­mens­un­ter­schie­de in der Schweiz sei­en klei­ner als in der Rea­li­tät, wäh­rend die ande­ren 50 Pro­zent Ein­kom­mens­un­ter­schie­de über­schät­zen, sie also als grös­ser wahr­neh­men, als sie in Wirk­lich­keit sind.

Ver­gleicht man die Schweiz mit ande­ren Län­dern in Euro­pa, so zeigt sich, dass die Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer die­se Auf­ga­be trotz aller Fehl­ein­schät­zun­gen ver­gleichs­wei­se gut meis­tern. In ande­ren euro­päi­schen Län­dern lie­gen Wahr­neh­mung und Rea­li­tät noch wei­ter aus­ein­an­der als in der Schweiz (Vol­pi und Giger 2022).

Wahrnehmung der Fakten ist von ideologischen Präferenzen geprägt

Das Wis­sen über Ein­kom­mens­un­ter­schie­de ist ein Aspekt. Die Men­schen müs­sen Ungleich­heit auch noch ein­schät­zen und sich ent­schei­den, wie sie die aktu­el­le Lage beur­tei­len und bewer­ten. Dies ist ins­be­son­de­re wich­tig, wenn es dar­um geht, dar­aus eine Hand­lung abzu­lei­ten. Wenn ich als Bür­ge­rin oder Bür­ger Ein­kom­mens­un­ter­schie­de völ­lig in Ord­nung fin­de, gibt es kaum Grün­de, mei­ne poli­ti­schen Rech­te wahr­zu­neh­men, um eine Kurs­än­de­rung der Poli­tik zu erreichen.

Abbildung 1: Befunde für die Schweiz

Quel­le: «Ine­qua­li­ty and Poli­tics» (IAP)

Die Abbil­dung zeigt, dass die Bevöl­ke­rung klar der Über­zeu­gung ist, dass die bestehen­den Ein­kom­mens­un­ter­schie­de unfair sind: Nur 24 Pro­zent und 17 Pro­zent bewer­ten das Niveau an Ungleich­heit als «fair». Spe­zi­ell die Unter­schie­de zwi­schen den mitt­le­ren und hohen Ein­kom­men, die auf der rech­ten Sei­te dar­ge­stellt sind, wer­den als unfair bewer­tet, wobei viel häu­fi­ger die Kate­go­rie «etwas unfair» gewählt wur­de. Damit ste­hen die Befrag­ten aus der Schweiz wie­der­um nicht allein da. Unse­re ver­glei­chen­den Ergeb­nis­se zei­gen, dass in allen euro­päi­schen Län­dern die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung die bestehen­den Unter­schie­de bei den Ein­kom­men als unfair bezeich­net (Pon­tus­son et al. 2020).

Unse­re Stu­die bestä­tigt das Bild, dass auch in der Schweiz eine Mehr­heit der Bevöl­ke­rung grund­sätz­lich posi­tiv gegen­über Umver­tei­lung ein­ge­stellt ist – zumin­dest dann, wenn ganz all­ge­mein nach dem Prin­zip gefragt wird und nach der Unter­stüt­zung von Rent­ne­rin­nen und Rent­nern, Arbeits­lo­sen oder Fami­li­en. Kon­kret befür­wor­ten über 80 Pro­zent der Befrag­ten sol­che Umverteilungsmassnahmen.

Für die Wahr­neh­mung von Ungleich­heit ver­las­sen sich die Leu­te auf eige­ne Erfah­run­gen und sind von der Ein­schät­zung ihrer eige­nen Posi­ti­on in der Ein­kom­mens­ver­tei­lung beein­flusst (Las­com­bes 2022). Die Ein­schät­zun­gen von Ein­kom­mens­un­ter­schie­den unter­schei­den sich nach sozia­len Klas­sen, und dabei ten­die­ren die rei­che­ren Bür­ge­rin­nen und Bür­ger eher dazu, Ein­kom­mens­un­ter­schie­de als ange­mes­sen und fair ein­zu­stu­fen, wäh­rend sie für Leu­te mit nied­ri­gem Ein­kom­men eher stos­send sind. Aus­ser­dem haben Men­schen die Ten­denz, Gescheh­nis­se und Fak­ten in ihr Welt­bild ein­zu­ord­nen. Dabei spielt ins­be­son­de­re die poli­ti­sche Ver­or­tung eine gros­se Rol­le. Per­so­nen, die sich als poli­tisch links ein­stu­fen, haben die Ten­denz, Ein­kom­mens­un­ter­schie­de als unfair zu bezeichnen.

Inter­es­sant ist, dass wir die­se Unter­schie­de in der Bewer­tung von Ungleich­hei­ten auch bei Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­kern wie­der­fin­den. Sowohl bei Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker auf loka­ler Ebe­ne als auch bei kan­to­nal und natio­nal akti­ven Ent­schei­dungs­trä­ge­rin­nen und ‑trä­ger zei­gen sich gros­se Unter­schie­de in ihren Aus­sa­gen zur Fair­ness von Ein­kom­mens­un­ter­schie­den, wie Abbil­dung 2 ver­deut­licht (Hel­fer et al. 2023). Sie zeigt die durch­schnitt­li­che Fair­ness­be­wer­tung von Bür­ge­rin­nen und Bür­gern und Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­kern aus dem lin­ken Par­tei­en­spek­trum, aus der Mit­te und von rechts. Höhe­re Wer­te auf der Ska­la bedeu­ten dem­nach eine grös­se­re Akzep­tanz von Ungleich­heit und ihre Bewer­tung als fair und ange­mes­sen. Zwei Aspek­te sind dabei zu erwäh­nen: Ers­tens sieht man klar die Unter­schie­de nach ideo­lo­gi­schen Bruch­li­ni­en, wobei die Akzep­tanz von Ungleich­heit bei den ent­spre­chen­den Befrag­ten des rech­ten Spek­trums viel höher aus­fällt als auf der lin­ken Sei­te. Zwei­tens wird deut­lich, dass die poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ge­rin­nen und ‑trä­ger in ihren Ein­schät­zun­gen nach ideo­lo­gi­schen Grup­pen wei­ter aus­ein­an­der­lie­gen und stär­ker pola­ri­siert sind. Dies bedeu­tet in der Kon­se­quenz, dass sie die Mei­nung der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in die­ser Fra­ge nicht gut abbilden.

Abbildung 2: Fairness Einschätzungen von Bürger*innen und Politiker*innen

Wahrnehmung und deren Umsetzung in Wahlverhalten: Ziemlich oft ein Spagat

Ein­stel­lun­gen und Wahr­neh­mung schla­gen sich nicht exakt in ein ent­spre­chen­des Ver­hal­ten oder in einer ent­spre­chen­den Hand­lungs­ra­tio­na­li­tät nie­der. Viel­mehr muss eine Viel­zahl von Fak­to­ren zusam­men­kom­men, um die Men­schen zu einer (poli­ti­schen) Hand­lung zu ver­an­las­sen. Zudem haben nicht alle Leu­te kohä­ren­te und zuein­an­der pas­sen­de Ein­stel­lun­gen. So kann jemand der Ansicht sein, dass die Ein­kom­mens­un­ter­schie­de zu gross sind und trotz­dem Poli­ti­ken ableh­nen, die auf die Ein­däm­mung eben­die­ser Unter­schie­de abzielen.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Punkt ist die Bedeu­tung der jewei­li­gen Ein­stel­lung. Wenn ein The­ma oder eine Sache für mich per­sön­lich wich­tig ist, ist es wahr­schein­li­cher, dass ich mich ent­spre­chend infor­mie­re und mein Han­deln dar­auf abstüt­ze. Da Ungleich­heit für vie­le Leu­te nicht sehr wich­tig zu sein scheint, ist die Umset­zung in poli­ti­sche Akti­on eine gros­se Hür­de. Das The­ma Ungleich­heit hat des­we­gen kein oder nur ein sehr gerin­ges Gewicht in der Ent­schei­dungs­fin­dung für eine bestimm­te Par­tei. Bei­spiels­wei­se hat der Anteil der Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer, die das The­ma Umwelt sehr wich­tig fin­den, liegt bei fast 80 Pro­zent, beim The­ma Ungleich­heit sind es nur rund 64 Prozent.

Wei­ter gibt es Unter­schie­de, wie ver­schie­de­ne sozia­le Grup­pen ihre Prä­fe­ren­zen in Sachen Umver­tei­lung in ihre Wahl­ab­sich­ten ummün­zen oder ummün­zen kön­nen (Las­com­bes 2022). Vor allem Men­schen aus mitt­le­ren und unte­ren Ein­kom­mens­schich­ten wäh­len Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, die kri­ti­scher gegen­über Umver­tei­lung ein­ge­stellt sind als sie selbst. Ein wich­ti­ger Grund dafür ist, dass für die­se Grup­pen Migra­ti­ons­the­men wich­ti­ger sind und die rechts Poli­ti­sie­ren­den die­sem The­ma nahe­ste­hen. Auf sys­te­mi­scher Ebe­ne führt dies zu einer Polit­land­schaft, die von Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker mit einer umver­tei­lungs­kri­ti­sche­ren Agen­da geprägt ist, als vom Volk eigent­lich bevor­zugt. Dies ist auch in der Schweiz zu beob­ach­ten: Wenn wir Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker und die befrag­te Bür­ger­schaft in ihren Ansich­ten zur Umver­tei­lung ver­glei­chen, stel­len wir fest, dass die Bevöl­ke­rung in der Tat mehr Umver­tei­lung befür­wor­tet als die poli­ti­schen Eliten.

Wird ökonomische Ungleichheit normal und unveränderbar?

Wir hal­ten abschlies­send fest, dass es für die Befrag­ten nicht leicht ist, das kom­ple­xe Phä­no­men der öko­no­mi­schen Ungleich­heit zu erfas­sen und dar­aus eine poli­ti­sche Hand­lung abzu­lei­ten. Die­ser Umstand hat auf poli­ti­scher Ebe­ne zur Fol­ge, dass wir kei­ne direk­te Rück­kopp­lung zwi­schen stei­gen­der Ungleich­heit und einer Nach­fra­ge nach ver­stärk­ter Umver­tei­lung von Ein­kom­men und Ver­mö­gen sehen. Für die Poli­tik heisst dies wie­der­um, dass sie für ihr Han­deln bezüg­lich Umver­tei­lung nicht zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen wird, beson­ders wenn das The­ma für die meis­ten Men­schen wenig Rele­vanz hat. In der Sum­me führt dies zu einer Situa­ti­on, in der hohe Ungleich­heit gewis­ser­mas­sen «nor­ma­li­siert» wird, da die Kor­rek­tur­me­cha­nis­men in Form von Umver­tei­lung oder Gegen­mass­nah­men wie Inves­ti­tio­nen für sozi­al Benach­tei­lig­te nicht greifen.

Die Nor­ma­li­sie­rung geht noch wei­ter, da wir wis­sen, dass Bür­ge­rin­nen und Bür­ger die Ten­denz haben, die gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on – und sei sie noch so schlecht – als legi­tim zu dekla­rie­ren und sich damit abzu­fin­den. Die For­schung der Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Kris-Stel­la Trump (2018) hat ein­drück­lich gezeigt, dass die­ser Mecha­nis­mus auch für Situa­tio­nen von gros­ser öko­no­mi­scher und sozia­ler Ungleich­heit gilt, und Leu­te, die in sehr unglei­chen Umge­bun­gen leben, para­do­xer­wei­se eher bereit sind, die­se als legi­tim und gerecht­fer­tigt anzu­se­hen als Men­schen, die in einer weni­ger unglei­chen und somit eigent­lich gerech­te­ren Umge­bung leben.

Wie lässt sich die­se Spi­ra­le durch­bre­chen? Wir orten zwei Ansatz­punk­te: Ers­tens müss­te in die Infor­miert­heit der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger inves­tiert wer­den, damit sie die Poli­tik zur Ver­ant­wor­tung zie­hen kön­nen, wenn sie mit der gegen­wär­ti­gen Lage nicht zufrie­den sind. Dabei geht es nicht pri­mär dar­um, Fak­ten bereit­zu­stel­len. Im Vor­der­grund der Mei­nungs­bil­dung steht die Infor­ma­ti­on über das The­ma der Ungleich­heit und die damit ver­bun­de­nen Kon­se­quen­zen. Neben der Zivil­ge­sell­schaft ste­hen auch die poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ge­rin­nen und ‑trä­ger in der Ver­ant­wor­tung, weil sie die­sen Dis­kurs ent­schei­dend prä­gen kön­nen. Zwei­tens wären ver­mehr­te Dis­kus­sio­nen über Ungleich­heit und ihre Fol­gen wünsch­bar, um das The­ma bei den Bür­ge­rin­nen und Bür­gern wie­der rele­van­ter zu machen und damit die Chan­cen zu erhö­hen, dass sich ihre Prä­fe­ren­zen für mehr Umver­tei­lung auch in ihrem Wahl­ver­hal­ten niederschlagen.


Hin­weis: Die­ser Arti­kel basiert auf einem län­ge­ren Auf­satz, der im Sozi­al­al­ma­nach 2023 “Ungleich­heit in der Schweiz” erschie­nen ist.

Refe­ren­zen:

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  • Las­com­bes, Davy-Kim. 2022. ‘From Fair­ness Eva­lua­ti­on to Pre­fe­ren­ces and Vote. An Ana­ly­sis of Indi­vi­du­als’ Demand for Redis­tri­bu­ti­on in 14 Coun­tries’. PhD The­sis. Uni­ver­si­ty of Gene­va. https://archive-ouverte.unige.ch/unige:164896

  • Necker­man, Kathryn M., and Flo­ren­cia Tor­che. 2007. ‘Ine­qua­li­ty: Cau­ses and Con­se­quen­ces’. Annu­al Review of Socio­lo­gy 33(1): 335–57. https://doi.org/10.1146/annurev.soc.33.040406.131755

  • Pon­tus­son, Har­ry Jonas, Natha­lie Giger, Jan Ros­set, and Davy-Kim Las­com­bes. 2020. ‘Intro­du­cing the Ine­qua­li­ty and Poli­tics Sur­vey: Preli­mi­na­ry Fin­dings’. https://www.academia.edu/download/76958992/unige_135683_attachment01.pdf

  • Trump, Kris-Stel­la. 2018. ‘Inco­me Ine­qua­li­ty Influ­en­ces Per­cep­ti­ons of Legi­ti­ma­te Inco­me Dif­fe­ren­ces’. Bri­tish Jour­nal of Poli­ti­cal Sci­ence 48(4): 929–52. https://doi.org/10.1017/S0007123416000326

  • Vol­pi, Eli­sa, and Natha­lie Giger. 2022. ‘A Dis­tor­ting Mir­ror: Ideo­lo­gi­cal Pre­fe­ren­ces and Mis-Per­cep­ti­ons of Eco­no­mic Ine­qua­li­ty’. Con­fe­rence Paper.

Bild: unsplash.com

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