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Ökonomische Ungleichheit: Wenn Wissen und Handeln auseinanderklaffen

Nathalie Giger, Davy-Kim Lascombes, Elisa Volpi
21st April 2023

Wie nehmen Bürgerinnen und Bürger soziale Ungleichheit wahr und welche Schlüsse ziehen sie für ihr Wahlverhalten daraus? Die Forschung zeigt: Die Einschätzung und Bewertung von Einkommensunterschieden hängt von der eigenen ökonomischen Position und der ideologischen Selbstpositionierung ab und auch eine ablehnende Haltung gegenüber Ungleichheit führt nicht automatisch zur Wahl einer Partei, die Umverteilung unterstützt.

Die ökonomische Ungleichheit ist ein soziales Problem: Die wissenschaftliche Evidenz ihrer negativen Konsequenzen für das Leben der Menschen und der Gesellschaft generell ist erdrückend. Dies zeigt sich zum Beispiel in geringerer Lebenserwartung oder in der Zunahme der Kriminalität in sehr ungleichen Ländern (Neckerman und Torche 2007).

Demokratische Staaten hätten eigentlich ein sehr wirksames Instrument in der Hand, um Ungleichheit zu bekämpfen: Die Umverteilung von Geldern von Reich zu Arm, was in der Regel mit progressiven Steuersystemen erreicht wird. Die europäischen Staaten unterscheiden sich jedoch darin, wie stark sie Löhne und Vermögen umverteilen. Während die skandinavischen Länder mit viel Umverteilung herausstechen, ist die Schweiz in Europa je nach Zählweise eher im unteren Drittel angesiedelt.

Die westlichen Staaten haben kaum auf die steigende ökonomische Ungleichheit reagiert und Politiken für mehr Umverteilung realisiert. Die Wissenschaft ist sich uneinig, warum dies der Fall ist. Unterstützen Bürgerinnen und Bürger in Zeiten von grosser Ungleichheit Politiken für mehr Umverteilung oder wenn nicht, warum? Haben die Bürger als Wählende überhaupt eine akkurate Vorstellung davon, wie hoch die ökonomische und soziale Ungleichheit in ihrem Land ist und wie bewerten sie diese? Welche Bedeutung haben die Fragen von Ungleichheit und Umverteilung schliesslich für ihr Wahlverhalten? In einem Forschungsprojekt, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützt wurde, sind wir genau diesen Fragen nachgegangen.

Eine grosse Mehrheit liegt falsch

Eine mehr oder weniger genaue Wahrnehmung der ökonomischen und sozialen Ungleichheit ist für die politische Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger entscheidend und spielt für die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger eine grosse Rolle. Nur so kann erwartet werden, dass ihre Politikgestaltung auf der Realität beruht.

Wir haben in unserer Forschung folgendermassen nach der wahrgenommenen ökonomischen Ungleichheit gefragt: «Wie schätzen Sie das Haushaltseinkommen eines reichen und eines armen Haushalts ein?» Die Umfrage wurde in verschiedenen europäischen Ländern durchgeführt. Um abschätzen zu können, wie korrekt Schweizerinnen und Schweizer die ökonomische Ungleichheit einschätzen, wurden ihre Aussagen über die Haushaltseinkommen mit den objektiven Werten aus offiziellen Statistiken verglichen. Ergeben haben sich drei Gruppen: Diejenigen, die eine sehr genaue Vorstellung von den Einkommensunterschieden in der Schweiz haben. Diese Befragten wussten exakt, wie hoch die jeweiligen durchschnittlichen Einkommen in der Schweiz sind und konnten damit die ökonomische Ungleichheit perfekt einschätzen. Eine zweite Gruppe überschätzte die Einkommensunterschiede, das heisst, die Einkommensunterschiede waren gefühlt grösser als in der Realität. Eine dritte Gruppe unterschätzte das wahre Ausmass an Ungleichheit, das heisst, die wahrgenommenen Unterschiede sind zu klein, um korrekt zu sein.

Daten und Methoden
Für die Zahlen im Text und die Abbildung 1 wurden Daten aus der «Inequality and Politics»-Umfrage (IAP) (Pontusson et al. 2020) verwendet. Dabei handelt es sich um eine vergleichende Umfrage unter jeweils zirka 2000 Befragten in 13 europäischen Ländern und den USA, die im Sommer 2019 online durchgeführt worden war. Die Umfrage wurde unter der Leitung von Professor Jonas Pontusson und Professorin Nathalie Giger von einem professionellen Umfrageinstitut umgesetzt und vom Europäischen Forschungsfonds (ERC) und dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert. Darüber hinaus wurden Daten von der EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) verwendet. Daraus griffen wir auf die durchschnittlichen Einkommen des 10-Prozent- beziehungsweise 90-Prozent-Perzentils der Einkommensverteilung zurück und verglichen diese mit den wahrgenommenen Werten. Zur «korrekten» Gruppe wurde gezählt, wenn die Wahrnehmung mit einer maximalen Abweichung von 10 Prozent korrekt wahrgenommen wurde. Die Abbildung 2 stammt aus Helfer et al. (2023) und basiert auf einer anderen Datenquelle und stammt aus dem Projekt «Do Members of Parliament have accurate perception of voter preferences?» unter der Leitung von Frédéric Varone, das vom SNF finanziert wurde. Die Daten stammen aus dem Jahr 2018 und umfassen die Antworten von 4667 Bürgerinnen und Bürgern sowie von 228 Politikerinnen und Politikern.

Unsere Forschung zeigt, dass die Schweizerinnen und Schweizer nicht sehr gut sind, die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich einzuschätzen: Nur gerade knapp 14 Prozent befinden sich in der ersten Gruppe, die die Einkommensunterschiede korrekt einschätzt. Interessant ist, dass sich die Unter- und Überschätzungen in etwa die Waage halten, das heisst, 50 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind der Meinung, die Einkommensunterschiede in der Schweiz seien kleiner als in der Realität, während die anderen 50 Prozent Einkommensunterschiede überschätzen, sie also als grösser wahrnehmen, als sie in Wirklichkeit sind.

Vergleicht man die Schweiz mit anderen Ländern in Europa, so zeigt sich, dass die Schweizerinnen und Schweizer diese Aufgabe trotz aller Fehleinschätzungen vergleichsweise gut meistern. In anderen europäischen Ländern liegen Wahrnehmung und Realität noch weiter auseinander als in der Schweiz (Volpi und Giger 2022).

Wahrnehmung der Fakten ist von ideologischen Präferenzen geprägt

Das Wissen über Einkommensunterschiede ist ein Aspekt. Die Menschen müssen Ungleichheit auch noch einschätzen und sich entscheiden, wie sie die aktuelle Lage beurteilen und bewerten. Dies ist insbesondere wichtig, wenn es darum geht, daraus eine Handlung abzuleiten. Wenn ich als Bürgerin oder Bürger Einkommensunterschiede völlig in Ordnung finde, gibt es kaum Gründe, meine politischen Rechte wahrzunehmen, um eine Kursänderung der Politik zu erreichen.

Abbildung 1: Befunde für die Schweiz

Quelle: «Inequality and Politics» (IAP)

Die Abbildung zeigt, dass die Bevölkerung klar der Überzeugung ist, dass die bestehenden Einkommensunterschiede unfair sind: Nur 24 Prozent und 17 Prozent bewerten das Niveau an Ungleichheit als «fair». Speziell die Unterschiede zwischen den mittleren und hohen Einkommen, die auf der rechten Seite dargestellt sind, werden als unfair bewertet, wobei viel häufiger die Kategorie «etwas unfair» gewählt wurde. Damit stehen die Befragten aus der Schweiz wiederum nicht allein da. Unsere vergleichenden Ergebnisse zeigen, dass in allen europäischen Ländern die Mehrheit der Bevölkerung die bestehenden Unterschiede bei den Einkommen als unfair bezeichnet (Pontusson et al. 2020).

Unsere Studie bestätigt das Bild, dass auch in der Schweiz eine Mehrheit der Bevölkerung grundsätzlich positiv gegenüber Umverteilung eingestellt ist – zumindest dann, wenn ganz allgemein nach dem Prinzip gefragt wird und nach der Unterstützung von Rentnerinnen und Rentnern, Arbeitslosen oder Familien. Konkret befürworten über 80 Prozent der Befragten solche Umverteilungsmassnahmen.

Für die Wahrnehmung von Ungleichheit verlassen sich die Leute auf eigene Erfahrungen und sind von der Einschätzung ihrer eigenen Position in der Einkommensverteilung beeinflusst (Lascombes 2022). Die Einschätzungen von Einkommensunterschieden unterscheiden sich nach sozialen Klassen, und dabei tendieren die reicheren Bürgerinnen und Bürger eher dazu, Einkommensunterschiede als angemessen und fair einzustufen, während sie für Leute mit niedrigem Einkommen eher stossend sind. Ausserdem haben Menschen die Tendenz, Geschehnisse und Fakten in ihr Weltbild einzuordnen. Dabei spielt insbesondere die politische Verortung eine grosse Rolle. Personen, die sich als politisch links einstufen, haben die Tendenz, Einkommensunterschiede als unfair zu bezeichnen.

Interessant ist, dass wir diese Unterschiede in der Bewertung von Ungleichheiten auch bei Politikerinnen und Politikern wiederfinden. Sowohl bei Politikerinnen und Politiker auf lokaler Ebene als auch bei kantonal und national aktiven Entscheidungsträgerinnen und -träger zeigen sich grosse Unterschiede in ihren Aussagen zur Fairness von Einkommensunterschieden, wie Abbildung 2 verdeutlicht (Helfer et al. 2023). Sie zeigt die durchschnittliche Fairnessbewertung von Bürgerinnen und Bürgern und Politikerinnen und Politikern aus dem linken Parteienspektrum, aus der Mitte und von rechts. Höhere Werte auf der Skala bedeuten demnach eine grössere Akzeptanz von Ungleichheit und ihre Bewertung als fair und angemessen. Zwei Aspekte sind dabei zu erwähnen: Erstens sieht man klar die Unterschiede nach ideologischen Bruchlinien, wobei die Akzeptanz von Ungleichheit bei den entsprechenden Befragten des rechten Spektrums viel höher ausfällt als auf der linken Seite. Zweitens wird deutlich, dass die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger in ihren Einschätzungen nach ideologischen Gruppen weiter auseinanderliegen und stärker polarisiert sind. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass sie die Meinung der Bürgerinnen und Bürger in dieser Frage nicht gut abbilden.

Abbildung 2: Fairness Einschätzungen von Bürger*innen und Politiker*innen

Wahrnehmung und deren Umsetzung in Wahlverhalten: Ziemlich oft ein Spagat

Einstellungen und Wahrnehmung schlagen sich nicht exakt in ein entsprechendes Verhalten oder in einer entsprechenden Handlungsrationalität nieder. Vielmehr muss eine Vielzahl von Faktoren zusammenkommen, um die Menschen zu einer (politischen) Handlung zu veranlassen. Zudem haben nicht alle Leute kohärente und zueinander passende Einstellungen. So kann jemand der Ansicht sein, dass die Einkommensunterschiede zu gross sind und trotzdem Politiken ablehnen, die auf die Eindämmung ebendieser Unterschiede abzielen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Bedeutung der jeweiligen Einstellung. Wenn ein Thema oder eine Sache für mich persönlich wichtig ist, ist es wahrscheinlicher, dass ich mich entsprechend informiere und mein Handeln darauf abstütze. Da Ungleichheit für viele Leute nicht sehr wichtig zu sein scheint, ist die Umsetzung in politische Aktion eine grosse Hürde. Das Thema Ungleichheit hat deswegen kein oder nur ein sehr geringes Gewicht in der Entscheidungsfindung für eine bestimmte Partei. Beispielsweise hat der Anteil der Schweizerinnen und Schweizer, die das Thema Umwelt sehr wichtig finden, liegt bei fast 80 Prozent, beim Thema Ungleichheit sind es nur rund 64 Prozent.

Weiter gibt es Unterschiede, wie verschiedene soziale Gruppen ihre Präferenzen in Sachen Umverteilung in ihre Wahlabsichten ummünzen oder ummünzen können (Lascombes 2022). Vor allem Menschen aus mittleren und unteren Einkommensschichten wählen Politikerinnen und Politiker, die kritischer gegenüber Umverteilung eingestellt sind als sie selbst. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass für diese Gruppen Migrationsthemen wichtiger sind und die rechts Politisierenden diesem Thema nahestehen. Auf systemischer Ebene führt dies zu einer Politlandschaft, die von Politikerinnen und Politiker mit einer umverteilungskritischeren Agenda geprägt ist, als vom Volk eigentlich bevorzugt. Dies ist auch in der Schweiz zu beobachten: Wenn wir Politikerinnen und Politiker und die befragte Bürgerschaft in ihren Ansichten zur Umverteilung vergleichen, stellen wir fest, dass die Bevölkerung in der Tat mehr Umverteilung befürwortet als die politischen Eliten.

Wird ökonomische Ungleichheit normal und unveränderbar?

Wir halten abschliessend fest, dass es für die Befragten nicht leicht ist, das komplexe Phänomen der ökonomischen Ungleichheit zu erfassen und daraus eine politische Handlung abzuleiten. Dieser Umstand hat auf politischer Ebene zur Folge, dass wir keine direkte Rückkopplung zwischen steigender Ungleichheit und einer Nachfrage nach verstärkter Umverteilung von Einkommen und Vermögen sehen. Für die Politik heisst dies wiederum, dass sie für ihr Handeln bezüglich Umverteilung nicht zur Verantwortung gezogen wird, besonders wenn das Thema für die meisten Menschen wenig Relevanz hat. In der Summe führt dies zu einer Situation, in der hohe Ungleichheit gewissermassen «normalisiert» wird, da die Korrekturmechanismen in Form von Umverteilung oder Gegenmassnahmen wie Investitionen für sozial Benachteiligte nicht greifen.

Die Normalisierung geht noch weiter, da wir wissen, dass Bürgerinnen und Bürger die Tendenz haben, die gegenwärtige Situation – und sei sie noch so schlecht – als legitim zu deklarieren und sich damit abzufinden. Die Forschung der Politikwissenschaftlerin Kris-Stella Trump (2018) hat eindrücklich gezeigt, dass dieser Mechanismus auch für Situationen von grosser ökonomischer und sozialer Ungleichheit gilt, und Leute, die in sehr ungleichen Umgebungen leben, paradoxerweise eher bereit sind, diese als legitim und gerechtfertigt anzusehen als Menschen, die in einer weniger ungleichen und somit eigentlich gerechteren Umgebung leben.

Wie lässt sich diese Spirale durchbrechen? Wir orten zwei Ansatzpunkte: Erstens müsste in die Informiertheit der Bürgerinnen und Bürger investiert werden, damit sie die Politik zur Verantwortung ziehen können, wenn sie mit der gegenwärtigen Lage nicht zufrieden sind. Dabei geht es nicht primär darum, Fakten bereitzustellen. Im Vordergrund der Meinungsbildung steht die Information über das Thema der Ungleichheit und die damit verbundenen Konsequenzen. Neben der Zivilgesellschaft stehen auch die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger in der Verantwortung, weil sie diesen Diskurs entscheidend prägen können. Zweitens wären vermehrte Diskussionen über Ungleichheit und ihre Folgen wünschbar, um das Thema bei den Bürgerinnen und Bürgern wieder relevanter zu machen und damit die Chancen zu erhöhen, dass sich ihre Präferenzen für mehr Umverteilung auch in ihrem Wahlverhalten niederschlagen.


Hinweis: Dieser Artikel basiert auf einem längeren Aufsatz, der im Sozialalmanach 2023 “Ungleichheit in der Schweiz” erschienen ist.

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Bild: unsplash.com