Uneinigkeit in Partei und Koalition wegen moralischen Fragen: Parlamentarische Debatten zur Gleichstellung der Ehe im Deutschen Bundestag

Die Stu­die zeigt, wel­che Fak­to­ren die argu­men­ta­ti­ven Stra­te­gien von Par­tei­en in moral­po­li­ti­schen Debat­ten beein­flus­sen: Es ist Unei­nig­keit – inner­halb einer Par­tei und in der Koali­ti­on! Intern gespal­te­ne Par­tei­en und ihre Koali­ti­ons­par­tei­en wen­den in moral­po­li­ti­schen Debat­ten dis­kur­si­ve Ver­mei­dungs­stra­te­gien an, wenn sie die für sie unvor­teil­haf­ten The­men nicht durch The­men­be­to­nung von der par­la­men­ta­ri­schen Agen­da ent­fer­nen kön­nen: Sie und ihre Koali­ti­ons­par­tei­en framen die pola­ri­sie­ren­den The­men neu, ver­wi­schen so ihre Posi­tio­nen und ver­schlei­ern Unei­nig­keit in ihrer Par­tei oder Koali­ti­on. Damit ver­mei­den Sie einen öffent­lich sicht­ba­ren Kon­flikt, der die Par­tei oder Koali­ti­on in Zukunft oder bei Dis­kus­sio­nen ande­rer The­men schwä­chen wür­de. Die Ergeb­nis­se ergän­zen sowohl die poli­tik­wis­sen­schaft­li­che Lite­ra­tur über Argu­men­ta­ti­ons­stra­te­gien par­la­men­ta­ri­schen Par­tei­en in der „Wedge Issue Com­pe­ti­ti­on“ sowie die des Ana­ly­se­rah­mens der „Zwei Wel­ten der Moralpolitik“.

Moralpolitischer Parteienwettbewerb

Moral­po­li­ti­sche The­men wie Eutha­na­sie, Abtrei­bung und die Ehe für alle haben im 21. Jahr­hun­dert als Fol­ge gesell­schaft­li­chen Wan­dels in der west­li­chen Welt zuneh­mend an Bedeu­tung gewon­nen. In die­sen moral­po­li­ti­schen Dis­kur­sen spie­len poli­ti­sche Par­tei­en eine ent­schei­den­de Rol­le. Zur Ana­ly­se ihres Ver­hal­tens in Par­la­men­ten ist dabei nicht nur das Abstim­mungs­ver­hal­ten der Par­tei­en wich­tig, son­dern auch ihre Argu­men­ta­tio­nen in den Par­la­ments­de­bat­ten. In ihnen recht­fer­ti­gen die Par­tei­en ihre ideo­lo­gi­schen Posi­tio­nen und ihr Han­deln vor ihrer Wäh­ler­schaft und der Öffent­lich­keit. Jedoch ist es bis­her wenig erforscht, wie Par­tei­en in par­la­men­ta­ri­schen Reden argu­men­tie­ren, um mit in moral­po­li­ti­schen Debat­ten oft auf­tre­ten­den par­tei- und koali­ti­ons­in­ter­nen Strei­tig­kei­ten umzugehen.

Ich stel­le die Fra­ge danach, wel­che Fak­to­ren die argu­men­ta­ti­ven Stra­te­gien von Par­tei­en in moral­po­li­ti­schen Debat­ten beein­flus­sen und argu­men­tie­re, dass die inter­ne Spal­tung der (Koalitions-)Parteien einen Ein­fluss aus­übt. Theo­re­tisch folgt mei­ne Ana­ly­se dabei der Idee der „Zwei Wel­ten der Moral­po­li­tik“. Dem­nach kön­nen Län­der in zwei „Wel­ten“ ein­ge­ord­net wer­den: in die säku­la­re und die reli­giö­se Welt. Die Ein­tei­lung hängt davon ab, ob eine reli­gi­ös-säku­la­re Spal­tung in der Gesell­schaft zur Eta­blie­rung einer reli­giö­sen Par­tei im Par­tei­en­sys­tem geführt hat. Deutsch­land gehört mit den bei­den christ­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en CDU und CSU zur reli­giö­sen Welt, in der der moral­po­li­ti­sche Par­tei­en­wett­be­werb der Logik der „Wedge Issue Com­pe­ti­ti­on“ folgt. Das bedeu­tet, dass (Oppositions-)Parteien moral­po­li­ti­sche spal­ten­de „Wedge Issu­es“ poli­ti­sie­ren und aus­nut­zen, um (Regierungs-)Parteien oder Koali­tio­nen zu schwächen. 

Wenn ein moral­po­li­ti­sches The­ma durch öffent­li­chen Druck oder die Poli­ti­sie­rung von Par­tei­en auf der Agen­da steht, kön­nen intern nicht gespal­te­ne Par­tei­en in moral­po­li­ti­schen Dis­kur­sen ein­heit­lich argu­men­tie­ren. Intern gespal­te­ne Par­tei­en hin­ge­gen wen­den dis­kur­si­ve Ver­mei­dungs­stra­te­gien an, um kon­sis­tent zu argu­men­tie­ren. Auch Par­tei­en, die intern nicht gespal­ten, aber Koali­ti­ons­part­ner einer intern gespal­te­nen Par­tei sind, nut­zen dis­kur­si­ve Ver­mei­dungs­stra­te­gien, um mit ihrer Koali­ti­ons­par­tei kon­sis­tent argu­men­tie­ren zu können.

Der Deutsche Bundestag und die Gleichstellung der Ehe

Um dies empi­risch zu über­prü­fen, habe ich die Argu­men­ta­tio­nen der deut­schen Par­tei­en in den Par­la­ments­de­bat­ten zum Lebens­part­ner­schafts­ge­setz von 2000 und zur Ehe für Alle in den Jah­ren 2016 und 2017 ana­ly­siert. Der deut­sche Fall ist inter­es­sant, da die reli­giö­se CDU die­se moral­po­li­ti­sche Ent­schei­dung 2017 über­ra­schend mit einer Gewis­sens­ab­stim­mung im Bun­des­tag ermög­lich­te und damit kurz vor der Bun­des­tags­wahl von der Agen­da nahm. In den Jah­ren davor stand die intern gespal­te­ne CDU vor der Her­aus­for­de­rung, ihre christ­de­mo­kra­ti­schen Wur­zeln mit ihrem neue­ren säku­la­ren, wirt­schafts­ori­en­tier­ten Pro­fil in Ein­klang zu brin­gen und blo­ckier­te gemein­sam mit der SPD Dis­kus­sio­nen über Geset­ze zur Gleich­stel­lung der Ehe.

Über­dies sind die Debat­ten auf­grund der unter­schied­li­chen Regie­rungs­kon­stel­la­tio­nen von beson­de­rem Inter­es­se: 2000 wur­de der Bun­des­tag von einer rot-grü­nen Mehr­heit regiert, d.h. von den Grü­nen und der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei (SPD), die das Lebens­part­ner­schafts­ge­setz gegen den Wider­stand der Oppo­si­ti­ons­par­tei­en und des Bun­des­rats ver­ab­schie­de­te. Die bei­den christ­de­mo­kra­ti­schen Schwes­ter­par­tei­en (CDU/CSU), die zu den schärfs­ten Geg­nern gleich­ge­schlecht­li­cher Part­ner­schafts­ge­set­ze in Euro­pa gehö­ren, waren zusam­men mit der PDS/Die Lin­ke und der libe­ra­len FDP in der Oppo­si­ti­on. Von 2013 bis 2017 bil­de­ten die SPD und die CDU/C­SU-Bun­des­tags­frak­ti­on trotz ihrer unter­schied­li­chen Posi­tio­nen in gesell­schafts- und moral­po­li­ti­schen The­men die “Gro­ße Koali­ti­on”, wäh­rend Die Lin­ke und die Grü­nen in der Oppo­si­ti­on waren. Die FDP hat­te den Bun­des­tag verlassen.

Umdeutung der moralpolitischen Debatte

Die Ergeb­nis­se der qua­li­ta­ti­ven Inhalts­ana­ly­se zei­gen, dass der Dis­kurs über die Ehe für alle im Deut­schen Bun­des­tag eine theo­re­tisch zu erwar­ten­de Dis­kurs­struk­tur auf­weist: eine par­la­men­ta­ri­sche Pro­zess- sowie eine inhalt­li­che Dimen­si­on. Die Par­tei­en führ­ten in der Pro­zess­di­men­si­on pro­ze­du­ra­le Argu­men­te an, wäh­rend sie in der inhalt­li­chen Dimen­si­on ver­fas­sungs­recht­li­che, mora­li­sche und libe­ra­le Argu­men­te vorbrachten.

Tabelle 1: Die Argumentationsstrategien der Parteien zur Gleichstellung der Ehe im Deutschen Bundestag 2000 und 2016/17
 Aus­wei­chen­de
Argu­men­ta­ti­ons­stra­te­gie
Inter­agie­ren­de
Argu­men­ta­ti­ons­stra­te­gie
Par­la­men­ta­ri­sche ProzessdimensionInhalt­li­che Dimension
Pro­ze­du­ra­le ArgumenteVer­fas­sungs­recht­li­che ArgumenteMora­li­sche ArgumenteLibe­ra­le Argumente
PDS/
Die Lin­ke
xx x
Bünd­nis 90/
Die Grü­nen
xx x
SPDxx x
FDPxx x
CDUxxx*x*
CSUxxx 

Wenn sich Abge­ord­ne­te der­sel­ben Par­tei wider­spre­chen, ist dies in der Tabel­le mit einem Stern­chen vermerkt.

Tabel­le 1 zeigt, dass alle Par­tei­en Argu­men­te aus der aus­wei­chen­den Argu­men­ta­ti­ons­stra­te­gie ver­wen­de­ten, da es der CDU gelang, den gesam­ten Dis­kurs ver­fas­sungs­recht­lich umzu­framen. So nut­zen auch die intern nicht gespal­te­nen Par­tei­en Die Lin­ke und Bünd­nis 90/Die Grü­nen aus­wei­chen­den Argu­men­te, jedoch um ihre libe­ra­le Argu­men­ta­ti­on zu stär­ken. Es war vor allem die intern gespal­te­ne CDU und ihre Koali­ti­ons­par­tei­en CSU und SPD, die ver­fas­sungs­recht­li­che und pro­ze­du­ra­le Argu­men­te als Ver­mei­dungs­stra­te­gie anwand­ten. Das­sel­be galt auch für die FDP, die sich Koali­ti­ons­mög­lich­kei­ten mit der CDU/CSU Frak­ti­on erhoff­te. Inter­es­sant ist aus­ser­dem, dass sich Abge­ord­ne­te der CDU in der Ver­wen­dung libe­ra­ler und mora­li­scher Argu­men­te wider­spra­chen und nur durch die Ver­wen­dung ver­fas­sungs­recht­li­cher und pro­ze­du­ra­ler Argu­men­te kon­sis­tent argumentierten.

Fazit

Damit zeigt die Stu­die am Fall der Debat­ten zur Gleich­stel­lung der Ehe im Deut­schen Bun­des­tag, dass die Argu­men­ta­ti­ons­stra­te­gien von Par­tei­en in moral­po­li­ti­schen Debat­ten mass­geb­lich von der (Un-)einigkeit inner­halb der Par­tei selbst und der Koali­ti­on sowie der Koali­ti­ons­par­tei­en bestimmt wird. Mit­hil­fe von argu­men­ta­ti­ven Aus­weich­stra­te­gien framen intern gespal­te­ne Par­tei­en und ihre Koali­ti­ons­part­ner moral­po­li­ti­sche Dis­kur­se um, um ihre Posi­ti­on zu ver­schlei­ern und Pola­ri­sie­rung zu vermeiden.


Hin­weis: Die­ser Arti­kel ist eine schrift­li­che Kurz­fas­sung des fol­gen­den Beitrags:

  • Atz­po­di­en, D. S. (2023). Recon­ci­ling Intra-Party and Intra-Coalition Dis­sent in Mora­li­ty Poli­tics: Par­lia­men­ta­ry Deba­tes on Mar­ria­ge Equa­li­ty in the Ger­man Bun­des­tag. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review, zunächst online erschie­nen. https://doi.org/10.1111/spsr.12558

Bild: unsplash.com

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