Alle vier Jahre werden die Mitglieder des eidgenössischen Parlaments gewählt. Erfüllen die Politikerinnen und Politiker die Anforderungen der Wählerschaft, so werden sie in der Regel wiedergewählt. Ist jedoch die Wählerschaft mit den Volksvertretenden nicht zufrieden, so kann sie bei den nächsten Wahlen andere Personen ins Parlament schicken. In unserer Studie haben wir untersucht, wie gut die Parlamentsmitglieder über die Präferenzen ihrer Wählerschaft überhaupt Bescheid wissen.
Wie gross ist die Übereinstimmung zwischen den Präferenzen der Wählerschaft einerseits und dem Inhalt der verabschiedeten Gesetzgebung andererseits? Dem gingen Forschende nach, indem sie die Ergebnisse von Meinungsumfragen zu bestimmten Themen (z. B. Steuern, Energie, Einwanderung usw.) mit den Entscheidungen, die von Parlamentsmitgliedern getroffen wurden, verglichen haben. Ganz allgemein kann gesagt werden: Übereinstimmung ist vorhanden. Die politischen Eliten reagieren auf die Veränderung der öffentlichen Meinung. Doch welche Mechanismen liegen dem Funktionieren der Repräsentation zugrunde?
Diese Frage kann man beantworten, indem man sich auf die Voraussetzung für eine kongruente Repräsentation konzentriert: die Fähigkeit der politischen Mandatsträger:innen, zu wissen, was ihre Wählerschaft tatsächlich will. Damit Parlamentsmitglieder eine Politik betreiben können, die den Präferenzen der Wählerschaft entspricht, müssen sie in der Lage sein, die Positionen ihrer Wählerschaft in Bezug auf konkrete Themen richtig einzuschätzen. Die Untersuchung konzentrierte sich auf die folgende Frage, die in der Forschung bisher erstaunlich wenig Beachtung gefunden hat: Wie gut können die politischen Eliten die Präferenzen ihrer Wählerschaft tatsächlich einschätzen?
Parallel dazu haben wir während den Sessionen in der Wandelhalle im Bundeshaus eidgenössische Volksvertreter:innen befragt. 124 Nationalrätinnen und Nationalräte, was einer bemerkenswerten Beteiligungsquote von 65% entspricht und 27 Ständerätinnen und Ständeräte (61% Beteiligung) nahmen an unserer Befragung teil. Wir legten ihnen genau dieselben politischen Vorschläge vor, die auch den Bürger:innen vorgelegt wurden. Für jeden dieser Vorschläge baten wir die Politiker:innen, den Anteil der Wählerschaft zu schätzen, die ihre jeweilige Partei wählt und den Vorschlag annimmt.
Schliesslich verglichen wir die tatsächlichen Präferenzen der Wählerschaft (Bevölkerungsfragebogen) mit den Schätzungen der Politiker:innen (Umfrage unter Parlamentsmitgliedern). Die Qualität der Wahrnehmung der Parlamentsmitglieder wurde dann als die absolute Differenz zwischen dem Prozentsatz der Wählerschaft, die einen politischen Vorschlag unterstützt, und dem von den Politiker:innen geschätzten Prozentsatz definiert. Ein gewählter Parlamentarier liegt beispielsweise um 35 Prozentpunkte daneben, wenn er glaubt, dass eine klare Mehrheit von 65 Prozent seiner eigenen Wählerschaft einen Vorschlag unterstützt, während nur 30 Prozent der Wählerschaft angeben, dass sie den Vorschlag befürworten. In diesem Fall ist seine Wahrnehmung schwer fehlerhaft, denn das Parlamentsmitglied irrt sich nicht nur um 35 Prozentpunkte, sondern kann auch nicht richtig einschätzen, wo die Mehrheit seiner eigenen Wählerschaft liegt.
Dieses methodische Vorgehen wurde nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland, Belgien und Kanada angewandt. Insgesamt führten 866 gewählte Politiker:innen in diesen vier Ländern über 10’000 Schätzungen zur Unterstützung der Wählerschaft für konkrete politische Vorschläge durch.
Gewählte Volksvertreter:innen haben verzerrte Wahrnehmungen
Welche Erkenntnisse lassen sich aus dieser Untersuchung über die Qualität der Wahrnehmung der Präferenzen der Wählerschaft durch Parlamentsmitglieder ziehen?
Erstens schätzen Politiker:innen die Präferenzen ihrer Wählerschaft oft ungenau ein. Im Durchschnitt liegen sie um eine Größenordnung von 18 Prozentpunkten falsch, wenn sie die Unterstützung ihrer Wählerschaft für einen konkreten politischen Vorschlag einschätzen. Mehr noch: In knapp einem Drittel ihrer Schätzungen können sie auch nicht richtig einschätzen, wo die Mehrheit ihrer Wählerschaft steht. Die Analysen zeigen ebenfalls, dass die Elite der Parteien, d.h. Parteivorsitzende, Fraktionsvorsitzende im Parlament und andere hochrangige Parteifunktionär:innen, die Präferenzen ihrer eigenen Wählerschaft nicht besser einschätzen können als Parlamentsmitglieder. Dieser erste Befund ist ziemlich überraschend, wenn nicht sogar alarmierend, und deutet darauf hin, dass gewählte Politiker:innen die öffentliche Meinung ziemlich schlecht antizipieren.
Auch die befragten Bürger:innen wurden gebeten, die Präferenzen des Volks einzuschätzen. Dabei zeigt sich sogar, dass Durchschnittsbürger:innen nicht mehr Fehler bei der Einschätzung der Mehrheitsverhältnisse machen als gewählte Politiker:innen.
Zweitens sind die gewählten Parlamentsmitglieder unabhängig von Land, Partei oder politischem Thema von einem systematischen “Konservatismus-Bias” betroffen. So glauben die Parlamentsmitglieder, dass ihre Wählerschaft bei wirtschaftlichen Themen wie z. B. Steuerpolitik weiter rechts auf der klassischen Links-Rechts-Achse steht, als sie es tatsächlich ist. Auch bei gesellschaftspolitischen Themen wie Einwanderung oder ethischen Fragen schätzen Parlamentsmitglieder ihre Wählerschaft konservativer ein als es tatsächlich der Fall ist. Die Gründe für diese systematische Verzerrung, die im Rahmen anderer Untersuchungen auch in den USA bei republikanischen und demokratischen Abgeordneten beobachtet wurde, müssen noch erforscht werden.
Projektion der eigenen Präferenzen
Drittens wurde der Hauptmechanismus identifiziert, der die begrenzte Fähigkeit der gewählten Parlamentsmitglieder, zu wissen, was die Wählerschaft will, erklärt. Es handelt sich dabei um das Phänomen der sozialen Projektion, das aus der Psychologie bekannt ist. Parlamentsmitglieder schätzen die Haltung der Wählerschaft falsch ein, weil sie ihre eigenen Präferenzen auf die ihrer Wählerschaft projizieren, indem sie (fälschlicherweise) annehmen, dass die Wählerschaft genau wie sie denkt und daher ihre Haltung zu einem bestimmten politischen Vorschlag teilt. Diese kognitive Verzerrung wirkt sich erheblich auf gewählte Politiker:innen aus, die in der Tat nicht besser als normale Bürger:innen in der Lage sind, falsche Projektionen zu vermeiden.
Ein Missverständnis darüber, was die eigene Parteiwählerschaft will, hat nicht die gleichen Folgen, je nachdem, ob der politische Vorschlag ein für die eigene Partei zentrales Thema betrifft (z. B. Migration für die SVP, Klimapolitik für die Grünen oder Sozialversicherungen für die SP) oder ein eher peripheres Thema.
Viertens zeigen die Analysen, dass Parlamentsmitglieder die Präferenzen ihrer Wählerschaft am besten einschätzen, wenn diese Themen betreffen, die für das Wahlprogramm ihrer Partei von zentraler Bedeutung sind. Dagegen scheint es nicht so, dass die (individuelle) Spezialisierung der Parlamentsmitglieder auf bestimmte politische Schwerpunkte die Qualität der Vorhersagen erhöht. Manchmal zeigt sich sogar das genaue Gegenteil: Je mehr sich ein Parlamentsmitglied auf ein Thema spezialisiert, desto weniger scheint es seiner Wählerschaft zuzuhören und deren Präferenzen richtig einschätzen zu können.
Unterschiedliche Auswirkungen von Lobbying
Fünftens wurde untersucht, ob die Informationen und anderen Ressourcen, die Lobbyist:innen den Parlamentsmitgliedern zur Verfügung stellen, deren Fähigkeit beeinflussen, die Präferenzen der Wählerschaft richtig wahrzunehmen. Eine solche Analyse ist in der Schweiz möglich, da die Parlamentsmitglieder ihre Interessenbindungen zu Wirtschaftsorganisationen, Gewerkschaften, öffentlichen Interessengruppen oder Identitätsgruppen offenlegen müssen.
Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass Interessengruppen die Nähe zwischen gewählten Volksvertreter:innen und Wähler:innen entweder schwächen oder verstärken können. Tatsächlich schätzen Parlamentarier:innen, die Wirtschaftsverbänden nahe stehen, im Allgemeinen weniger genau ein, was ihre Parteiwählerschaft will, während solche, die enge Beziehungen zu öffentlichen Interessengruppen aufgebaut haben, eher in der Lage sind, die politischen Präferenzen ihrer Wählerschaft angemessen wahrzunehmen.
Die Vorteile der direkten Demokratie und des Wahlwettbewerbs
Es wird allgemein angenommen, dass direktdemokratische Instrumente wie Volksinitiative und Referendum einen positiven Einfluss auf die Genauigkeit der Wahrnehmungen von Parlamentsmitgliedern haben. Letztere profitieren von zusätzlichen Indizien infolge von Abstimmungskampagnen und Ergebnissen von Volksabstimmungen zu zahlreichen politischen Themen.
Sechstens zeigen die Analysen, dass Parlamentsmitglieder die Präferenzen ihrer Wählerschaft bei politischen Vorschlägen, über die bereits direktdemokratisch abgestimmt wurde, korrekter wahrnehmen. Dieser positive Effekt ist besonders dann zu beobachten, wenn die Vorschläge konfliktreich waren und das Ergebnis der Volksabstimmung knapp ausfiel. Die direkte Demokratie fördert somit die politische Repräsentation, da das Ergebnis von Volksabstimmungen eine wichtige Informationsquelle für Parlamentsmitglieder darstellt und ihre Fähigkeit stärkt, die Präferenzen der Bürger:innen besser einzuschätzen.
Siebtens bringt die Studie zudem zu Tage, dass die Kandidat:innen, die bei der letzten eidgenössischen Wahlen am schlechtesten abgeschnitten haben, auch diejenigen sind, die nach ihrer Amtsübernahme wahrscheinlich die grössten Anstrengungen unternehmen, um die Präferenzen ihrer Wählerschaft besser zu kennen. Da sie auf diese Weise besser über die Erwartungen der Bürger:innen informiert sind, haben sie eine höhere Chance, bei der nächsten Wahl wiedergewählt zu werden. Die Untersuchung belegt also die erwarteten positiven Auswirkungen des Wahlkampfes zwischen Parteien und Kandidierenden: Die Wählerschaft bestraft Politiker:innen, die ihre Präferenzen nicht ausreichend kennen. Parlamentsmitglieder, die eine Abwahl fürchten, bemühen sich stärker darum, sich mit den Wünschen ihrer Wählerschaft vertraut zu machen.
Referenzen:
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