Das Wählerpotenzial der Schweizer Sozialdemokratie

Fast die Hälf­te aller Wähler:innen in der Schweiz könn­ten sich vor­stel­len, die SP zu wäh­len, aber nur etwa zwei von fünf die­ser poten­zi­el­len Wähler:innen tun es auch. Die SP ver­fügt also über ein beträcht­li­ches unaus­ge­schöpf­tes Wäh­ler­po­ten­zi­al. Über­lap­pun­gen in den Wäh­ler­po­ten­zia­len zei­gen sich im links-grü­nen Par­tei­en­spek­trum, aber kaum mit rech­ten Par­tei­en: Die poten­zi­ell zusätz­lich gewinn­ba­ren SP-Wähler:innen fin­den sich vor allem in den Wäh­ler­schaf­ten der Grü­nen und Grün­li­be­ra­len und bei den jun­gen Nicht­wäh­len­den, aber kaum in rech­ten Parteien.

Wer sind denn aber die­se poten­zi­ell gewinn­ba­ren Wähler:innen? Sie sind in der Ten­denz jung, mehr­heit­lich weib­lich und hoch gebil­det. The­ma­tisch hal­ten die­se Wähler:innen umwelt­po­li­ti­sche, gesell­schafts­po­li­ti­sche, inter­na­tio­na­le und insti­tu­tio­nel­le Her­aus­for­de­run­gen für die wich­tigs­ten poli­ti­schen Pro­ble­me der Schweiz. Im Ein­klang mit die­ser Pro­blem­wahr­neh­mung fin­den im sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Wäh­ler­po­ten­zi­al pro­gres­si­ve gesell­schafts­po­li­ti­sche Posi­tio­nen die gröss­te posi­ti­ve Reso­nanz, stär­ker noch als sozi­al­po­li­tisch-lin­ke Posi­tio­nen. Das Spie­gel­bild der poten­zi­el­len Gewin­ne bil­den hohe poten­zi­el­le Ver­lus­te zu den bei­den grü­nen Par­tei­en: Gut sieb­zig Pro­zent der SP-Wäh­len­den kön­nen sich auch vor­stel­len, die grü­ne Par­tei zu wäh­len, fast vier­zig Pro­zent kön­nen sich auch vor­stel­len, die grün­li­be­ra­le Par­tei zu wählen.

1: Grosses Wählerpotenzial, aber tiefe Ausschöpfung 

Das Wäh­ler­po­ten­zi­al einer Par­tei umfasst alle Wähler:innen, wel­che sich vor­stel­len kön­nen, die­se Par­tei jemals zu wäh­len. Für Par­tei­en ist es stra­te­gisch wich­tig, ihr Wäh­ler­po­ten­zi­al zu ken­nen. So kön­nen sie abschät­zen, wie gut sie die Wähler:innen für sich zu mobi­li­sie­ren ver­mö­gen, ob es noch Wachs­tums­po­ten­zi­al gibt, und wer die­je­ni­gen Wähler:innen sind, die ihre Stim­me dann letzt­lich eben doch einer ande­ren Par­tei geben. 

Abbildung 1: Wählerpotenzial und Ausschöpfungsquote der wichtigsten Parteien in der Schweiz. Respondent*innen mit einer Wahlwahrscheinlichkeit von mind. 60% werden als potenzielle Wähler:innen codiert.

Daten: Wählerpotenzial gemessen anhand der SELECTS Daten 2015 und 2019. Ausschöpfung gemessen an den effektiven Wahlresultaten in den zwei entsprechenden nationalen Wahlengängen.
Lesebeispiel: 42 % der Befragten in der Schweiz geben eine Wahlwahrscheinlichkeit für die SP Schweiz von mindestens 6 (auf einer Skala von 1–10) an. Der effektive Wähleranteil der SP Schweiz im Durchschnitt der Nationalratswahlen 2015 und 2019 lag hingegen bei 17.8%.

Wie aus Abbil­dung 1 her­vor­geht, ver­fügt die SP – gleich­auf mit der FDP - über das gröss­te Wäh­ler­po­ten­zi­al von allen Par­tei­en in der Schweiz: Über vier­zig Pro­zent der Schwei­zer Wäh­ler­schaft kön­nen sich vor­stel­len, ihre Stim­me der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei zu geben. Die­se Zahl steht jedoch im deut­li­chen Gegen­satz zum tat­säch­li­chen Stimm­an­teil der SP, wel­cher in den letz­ten zwei Jahr­zehn­ten mit unter zwan­zig Pro­zent weni­ger als halb so gross war.

Dies deu­tet dar­auf hin, dass die SP ihr Wäh­ler­po­ten­zi­al bei wei­tem nicht aus­schöp­fen kann, und dass sie Par­tei durch­aus weit über die eige­ne Wäh­ler­schaft auf Zustim­mung stösst. Eine Betrach­tung der Wäh­ler­an­tei­le und Wäh­ler­po­ten­zia­le über die Zeit zeigt aus­ser­dem, dass das Poten­zi­al der SP seit 1995 unge­fähr kon­stant bei vier­zig Pro­zent geblie­ben ist. Der in der glei­chen Zeit zurück­ge­hen­de Wäh­ler­an­teil weist jedoch dar­auf hin, dass es der SP zuneh­mend schlech­ter zu gelin­gen scheint, ihr poten­zi­el­les Elek­to­ral für eine Wahl zu gewinnen.

Mit die­sen Zah­len bewegt sich die Schweiz in sehr ähn­li­chen Wer­ten wie die ande­ren sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en in Euro­pa, wel­che eben­falls sta­bil hohe Wäh­ler­po­ten­zia­le haben, aber zuneh­mend schwä­che­re Aus­schöp­fungs­quo­ten. Die sin­ken­de Mobi­li­sie­rungs­ka­pa­zi­tät liegt ins­be­son­de­re an der stär­ke­ren Kon­kur­renz im links-grü­nen Lager. In der Tat wei­sen grü­ne Par­tei­en – in der Schweiz die Grü­nen und die GLP – eben­falls (sehr) gros­se Wäh­ler­po­ten­zia­le auf. Ihre Aus­schöp­fungs­quo­te ist zwar noch tie­fer als die­je­ni­ge der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en, steigt aber ten­den­zi­ell an. Immer mehr Wähler:innen, die sich sel­ber im links-grü­nen Lager ver­or­ten, geben den grü­nen Par­tei­en ihre Stim­me. Auch die­se Ten­denz ist in der Schweiz und in den ande­ren euro­päi­schen Län­dern sehr ähn­lich zu beobachten.

In der Schweiz schöp­fen auch die Mit­te-rechts Par­tei­en ihr Wäh­ler­po­ten­zi­al nur eher schwach aus. Beson­ders gut mobi­li­siert nur die SVP. Etwa drei Vier­tel der Wähler:innen, die sich vor­stel­len kön­nen, jemals SVP zu wäh­len tun es auch effek­tiv. Aller­dings hat die SVP gleich­zei­tig ein ver­gleichs­wei­se ein­ge­grenz­tes und tie­fes Wäh­ler­po­ten­zi­al, was dar­auf hin­deu­tet, dass die Par­tei an Wachs­tums­gren­zen stösst.

 

2: Potenziell zu gewinnende Wähler:innen: jung, gebildet, progressiv

Wer sind also die Wähler:innen, die sich zwar vor­stel­len könn­ten SP zu wäh­len, dies aber nicht tun? Die unten­ste­hen­de Abbil­dung 2 illus­triert den Anteil der poten­zi­el­len Wähler:innen in den Par­tei­elek­to­ra­ten und bei den Nicht­wäh­len­den für das Jahr 2019. Tat­säch­lich ist der Anteil poten­zi­el­ler SP-Wähler:innen in der effek­ti­ven Wäh­ler­schaft der Grü­nen Par­tei sehr hoch: Drei Vier­tel der­je­ni­gen, die 2019 die Grü­ne Par­tei gewählt haben, kön­nen sich auch vor­stel­len, die SP zu wählen.

Sehr deut­lich zeigt sich auch, dass der Anteil «Gewinn­ba­rer» im Par­tei­en­spek­trum von links nach rechts stark abnimmt: Wäh­rend noch gut die Hälf­te der grün­li­be­ra­len Wäh­ler­schaft sich vor­stel­len kann, die SP zu wäh­len, sind dies bei der FDP gera­de noch etwas weni­ger als zwan­zig Pro­zent. Inner­halb der Wäh­ler­schaft der SVP kann es sich schliess­lich weni­ger als jede zehn­te Per­son vor­stel­len, der SP jemals ihre Stim­me zu geben.

Die­se enorm star­ke Aus­dif­fe­ren­zie­rung der Wäh­ler­schaf­ten hat sich in den letz­ten zwan­zig Jah­ren ver­stärkt und reflek­tiert die star­ke Pola­ri­sie­rung der Schwei­zer Par­tei­en­land­schaft. Zusam­men­ge­fasst heisst das, dass die SP inner­halb der pro­gram­ma­tisch ver­wand­ten links-grü­nen Par­tei­land­schaft Wähler:innen anspre­chen kann, aber bei den rech­ten Par­tei­en der Schweiz kaum elek­to­ra­le Attrak­ti­vi­tät geniesst. Das gros­se, nicht aus­ge­schöpf­te Poten­zi­al liegt also pri­mär inner­halb des brei­te­ren pro­gres­si­ven Blocks der Schweiz.

Abbildung 2: Wahlwahrscheinlichkeiten für die SP Schweiz in den Elektoraten der Schweizer Parteien 2019.
Lesebeispiel: Etwa 6% der Wähler:innen der SVP zählten sich 2019 auch zum potenziellen Elektorat der SP Schweiz.

Betrach­ten wir als nächs­tes das Pro­fil die­ser poten­zi­ell gewinn­ba­ren Wähler:innen. Ein Blick auf die sozio­de­mo­gra­fi­schen Cha­rak­te­ris­ti­ka der poten­zi­el­len Wäh­ler­schaft, die nicht SP wählt, zeigt, dass das gros­se Wäh­ler­po­ten­zi­al ins­be­son­de­re bei den Wäh­len­den mit mitt­le­rem und höhe­rem Aus­bil­dungs­grad liegt. Fast die Hälf­te der heu­te poten­zi­ell mobi­li­sier­ba­ren SP-Wähler:innen ver­fügt über einen ter­tiä­ren Bil­dungs­grad (sie­he Abbil­dung 3). Die­ser Anteil ist über die letz­ten zwei Jahr­zehn­te kon­ti­nu­ier­lich ange­stie­gen und hat sich nahe­zu ver­dop­pelt, sowohl im Zug der Bil­dungs­ex­pan­si­on, als auch als Resul­tat der grund­le­gen­den Umwäl­zun­gen in den Schwei­zer Par­tei­wäh­ler­schaf­ten (sie­he der Poli­cy Brief zu den Wäh­ler­schaf­ten und ihren Präferenzen).

Es lässt sich also fest­hal­ten, dass das elek­to­ra­le Wachs­tums­po­ten­zi­al der Schwei­zer Sozi­al­de­mo­kra­tie pri­mär in der Grup­pe der mit­tel- und hoch Gebil­de­ten liegt, wel­che in den letz­ten Jah­ren im Zuge der fort­schrei­ten­den Bil­dungs­ex­pan­si­on und Deindus­tria­li­sie­rung stark gewach­sen ist. Im Umkehr­schluss wider­spricht die­ser Befund sehr klar der Idee, dass die Sozi­al­de­mo­kra­tie pri­mär mit­tels einer ver­stärk­ten Hin­wen­dung zu tie­fer gebil­de­ten sozia­len Schich­ten wach­sen könn­te bzw. soll­te. Auch wenn die Par­tei und ihre Wähler:innen nach wie vor die mate­ri­el­len Inter­es­sen die­ser sozia­len Schich­ten ver­tre­ten, speist sich ihre Wäh­ler­stär­ke doch pri­mär und vor allem über die Zeit zuneh­mend aus der gut gebil­de­ten Mittelschicht.

Abbildung 3: Bildungsgrad der potenziellen, aber nicht tatsächlichen SP-Wählenden
Lesebeispiel: Von den Befragten, die sich selber zum potenziellen Elektorat der SP Schweiz zählen, die Partei aber nicht effektiv gewählt haben, haben 2019 etwa 45% einen tertiären Bildungsabschluss.

 

Eine eher gros­se poten­zi­ell gewinn­ba­re Grup­pe stel­len auch die zahl­rei­chen Nicht­wäh­len­den dar. Die­se Grup­pe ist in der Schweiz – gera­de im Ver­gleich mit dem Aus­land – bei­spiel­los gross: Wäh­rend sich in Deutsch­land 2021 78% oder in Öster­reich 2019 75.5% der Stimm­be­rech­tig­ten an den natio­na­len Wah­len betei­lig­ten, nah­men in der Schweiz mit 45% im Jahr 2019 nicht ein­mal die Hälf­te der Stimm­be­rech­tig­ten an den natio­na­len Wah­len teil. Die­se sehr tie­fe Wahl­be­tei­li­gung sug­ge­riert auf den ers­ten Blick, dass eine sehr gros­se Grup­pe an Wähler:innen zusätz­lich mobi­li­sier­bar wäre. Tat­säch­lich kann sich – wie oben gezeigt – jede drit­te Per­son aus der Grup­pe der Nicht­wäh­len­den vor­stel­len, die SP zu wählen.

Die Fra­ge ist, wer die­se nicht teil­neh­men­den, poten­zi­el­len SP-Wähler:innen sind? Fin­den sich hier viel­leicht «ver­lo­re­ne», älte­re Wähler:innen, die sich von der Sozi­al­de­mo­kra­tie abge­wandt haben? – eine Hypo­the­se, die nach wie vor in der öffent­li­chen Debat­te oft geäus­sert wird. Wir haben die sozio­de­mo­gra­fi­sche Cha­rak­te­ris­ti­ka genau die­ser Grup­pe unter­sucht und fest­ge­stellt, dass sie im Gegen­teil deut­lich jün­ger sind als die Grup­pe der tat­säch­lich mobi­li­sier­ten SP-Wähler:innen. Aus­ser­dem sind deut­lich mehr Frau­en in die­ser Grup­pe ver­tre­ten als im heu­ti­gen SP-Elek­to­rat und mehr Men­schen mit tie­fe­rem Bil­dungs­grad. Gera­de letz­te­re Beob­ach­tung ist im Ein­klang mit der grund­sätz­li­chen Tat­sa­che, dass in der Schweiz die Wahl­be­tei­li­gung struk­tu­rell und kon­stant stark nach sozia­ler Schicht ver­zerrt ist. Wähler:innen in tie­fe­ren sozia­len Schich­ten neh­men deut­lich sel­te­ner an Wah­len teil und sind auch nur sehr schwer zu mobilisieren.

Abbildung 4: Nennungen der „wichtigsten politische Probleme für die Schweiz“ durch diejenigen Wählenden, die trotz hoher Wahlwahrscheinlichkeit nicht SP wählen
Datenbasis: Selects 2019
Lesebeispiel: Von den Befragten, die sich selber zum potenziellen Elektorat der SP Schweiz zählen, die Partei aber nicht effektiv gewählt haben, nennen 2019 etwa zwei Drittel gesellschaftspolitische Themen (EU, Zuwanderung, Umwelt) als wichtigstes politisches Problem der Schweiz.

 

Schliess­lich wen­den wir uns noch den Erwar­tun­gen und Ein­stel­lun­gen der poten­zi­ell gewinn­ba­ren Wähler:innen für die SP zu. Dazu betrach­ten wir, wel­che The­men die­se Wähler:innen für beson­ders wich­tig hal­ten und in wel­chen Berei­chen sie die drän­gends­ten poli­ti­schen Pro­ble­me und Her­aus­for­de­run­gen für die Schweiz sehen. Die­se Infor­ma­tio­nen geben uns Hin­wei­se dar­auf, mit wel­chen The­men zusätz­li­che Wähler:innen wohl am ehes­ten anzu­spre­chen wären.

Die in Abbil­dung 4 grün gefärb­ten The­men kön­nen dabei der Gesell­schafts­po­li­tik zuge­ord­net wer­den, wäh­rend die blau­en oder vio­let­ten The­men eher dem sozi­al­po­li­ti­schen The­men­kom­plex zuge­rech­net wer­den kön­nen. Dabei wird ersicht­lich, dass ins­be­son­de­re in den letz­ten zwei Jah­ren die mit Abstand gröss­te Grup­pe der gewinn­ba­ren Wähler:innen gesell­schafts­po­li­ti­sche The­men als die wich­tigs­ten genannt hat. Zwar gibt es auch eine sub­stan­zi­el­le Grup­pe, wel­che die Sozi­al- Wirt­schafts- oder Arbeits­markt­po­li­tik als drän­gends­tes poli­ti­sches Pro­blem in der Schweiz nennt, aber die­se Grup­pe ist deut­lich klei­ner als die­je­ni­gen, wel­che Fra­gen der Umwelt- Euro­pa- oder Immi­gra­ti­ons­po­li­tik als zen­tra­le Her­aus­for­de­run­gen benen­nen. Im nächs­ten Abschnitt ver­fol­gen wir die­se Erwar­tun­gen und Ein­stel­lun­gen etwas tie­fer, indem wir betrach­ten, wel­che Art von Poli­tik­ent­schei­dun­gen bei die­sen Wähler:innen beson­ders viel Anklang finden.

 

3: Bei potenziellen Wähler:innen «ziehen» progressive Positionen

Wel­che poli­ti­schen Vor­schlä­ge und Posi­tio­nen stos­sen im tat­säch­li­chen und poten­zi­el­len Elek­to­rat der Sozi­al­de­mo­kra­tie auf beson­ders viel posi­ti­ve Reso­nanz? Um die­se Fra­ge zu beant­wor­ten, haben wir soge­nann­te Con­joint-Expe­ri­men­te durch­ge­führt. Dazu wer­den den Befrag­ten jeweils zwei sich unter­schei­de­ne sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Posi­tio­nen zu aus­ge­wähl­ten poli­ti­schen The­men vor­ge­legt, wel­che die Befrag­ten mit­ein­an­der ver­glei­chen und bewer­ten müssen.

Die aus­ge­wähl­ten Poli­tik­fel­der reprä­sen­tie­ren dabei The­men, die in nahe­zu sämt­li­chen west­eu­ro­päi­schen Par­tei­en­sys­te­men von Rele­vanz sind und exem­pla­risch für bestimm­te poli­ti­sche Kon­flikt­di­men­sio­nen ste­hen: Auf der einen Sei­te sind das (klas­si­sche) ver­tei­lungs- und sozi­al­po­li­ti­sche Fra­gen nach dem Ren­ten­ein­tritts­al­ter, der poten­zi­el­len Höhe einer Erb­schafts­steu­er und der Stär­kung des Beschäf­ti­gungs­schut­zes in der Industrie.

Auf der ande­ren Sei­te wer­den den Befrag­ten Posi­tio­nen zu gesell­schafts­po­li­ti­schen The­men wie Zuwan­de­rung, Inte­gra­ti­ons­po­li­tik, Frau­en­quo­ten und CO2-Besteue­rung prä­sen­tiert. Schliess­lich legen wir den Befrag­ten auch neue­re sozi­al­po­li­ti­sche Vor­schlä­ge vor im Bereich der Ver­ein­ba­rungs- und Woh­nungs­po­li­tik. Exem­pla­risch dafür steht in unse­rer Ana­ly­se der Aus­bau der öffent­li­chen Kin­der­be­treu­ungs­struk­tu­ren, wel­cher in der Schweiz deut­lich weni­ger fort­ge­schrit­ten ist als im inter­na­tio­na­len Ver­gleich. Mit dem Ein­be­zug der Fra­ge nach staat­li­chen Ein­grif­fen in Miet­prei­se grei­fen wir ein wei­te­res sozi­al­po­li­ti­sches The­ma auf, wel­ches in ver­gan­ge­nen Jah­ren an Rele­vanz gewon­nen hat.

Die­se Ver­glei­che ermög­li­chen es uns in der sta­tis­ti­schen Ana­ly­se zu ermit­teln, wel­che Posi­tio­nen dazu füh­ren, dass ein Par­tei­pro­gramm bevor­zugt bzw. abge­lehnt wird. So kön­nen wir ermit­teln, wel­che The­men einen beson­ders star­ken posi­ti­ven oder nega­ti­ven Ein­fluss auf die Unter­stüt­zung eines sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­pro­gramms haben bzw. wel­che poli­ti­schen Posi­tio­nen in der Wäh­ler­schaft beson­ders gut ankommen.

Dabei betrach­ten wir, ob tat­säch­li­che Wähler:innen der SP von den poten­zi­el­len (aber nicht effek­ti­ven) Wähler:innen abwei­chen und ob es gewis­se Posi­tio­nen gibt, wel­che poten­zi­el­le Wähler:innen regel­recht abschre­cken würden.

Abbildung 5: Conjoint Experiment für die Schweiz. Koeffizienten (Marginal Means) zeigen wie das Vorhandensein einer Position im vorgelegten Programm die Wahrscheinlichkeit beeinflusst, dass die Respondent:innen dieses Programm bevorzugen.

Lesebeispiel: Wenn ein SP-Programm eine 50%-Frauenquote vorsieht, steigert dies die Zustimmung zu diesem Programm bei potenziellen (linkes Panel) und tatsächlichen (rechtes Panel) SP-Wähler:innen deutlich.

Die Ana­ly­se zeigt, dass tat­säch­li­che und poten­zi­el­le Wähler:innen auf die Vor­schlä­ge ähn­lich reagie­ren. Genau wie bei den tat­säch­li­chen Wähler:innen führt auch bei den poten­zi­el­len SP-Wähler:innen eine pro­gres­si­ve Zuwan­de­rungs- und Inte­gra­ti­ons­po­li­tik, sowie die For­de­rung nach einer Frau­en­quo­te in Unter­neh­men zu einer höhe­ren Wahr­schein­lich­keit, dass sie ein Pro­gramm der SP einem Pro­gramm vor­zie­hen, wel­che in die­sen Berei­chen weni­ger pro­gres­si­ve Vor­schlä­ge ent­hält. Poten­zi­ell mobi­li­sier­ba­re Wähler:innen reagie­ren aus­ser­dem sehr posi­tiv auf Pro­gram­me, die einen Aus­bau der Kin­der­be­treu­ung ver­spre­chen, und wel­che Miet­preis-Erhö­hun­gen in Städ­ten zu ver­lang­sa­men trach­ten. Bei den tat­säch­li­chen Wähler:innen kom­men die­se bei­den letz­te­ren Vor­schlä­ge weni­ger gut an.

Zusam­men­fas­send zei­gen die Befun­de kon­sis­tent, dass die SP eher mit gesell­schafts­po­li­tisch pro­gres­si­ven Posi­tio­nen gewinn­ba­re Wähler:innen mobi­li­sie­ren könn­te. Aus­ser­dem sind sozia­le Inves­ti­ti­ons­po­li­ti­ken rele­van­te Fak­to­ren. Klas­sisch ver­tei­lungs­po­li­ti­sche For­de­run­gen sind hin­ge­gen weni­ger kla­re Fak­to­ren, um ein gewinn­ba­res Elek­to­rat neu und zusätz­lich zu mobi­li­sie­ren. Wich­tig ist schliess­lich auch, dass die effek­ti­ve Wäh­ler­schaft nur begrenzt von der poten­zi­el­len diver­giert. Es gibt also kaum Evi­denz für Ziel­kon­flik­te, d.h. dass die SP mit einer Poli­tik, die sich an gewinn­ba­re Wähler:innen rich­tet, aktu­el­le Wähler:innen ver­lie­ren könn­te. Eher scheint es so, dass die gewinn­ba­ren Wähler:innen eine ähn­li­che Ein­stel­lun­gen haben, aber noch aus­ge­präg­ter als die Tat­säch­li­chen auf pro­gres­si­ve, eher neu­lin­ke The­men ansprechen.

 

4: Verluste drohen nach links, nicht nach rechts

Natür­lich gibt es nicht nur poten­zi­el­le Wäh­ler­ge­win­ne, son­dern es gibt auch vie­le Wähler:innen, die zwar SP gewählt haben, sich aber auch vor­stel­len kön­nen, ande­ren Par­tei­en ihre Stim­me zu geben. In der Tat hat die SP – genau wie ihre euro­päi­schen Schwes­ter­par­tei­en – in den letz­ten Jahr­zehn­ten deut­lich mehr Wähler:innen ver­lo­ren als gewon­nen, und es gibt wenig Grund zur Annah­me, dass die­ses Risi­ko künf­tig gebannt ist. Ins­be­son­de­re stellt sich die Fra­ge, ob eine aus­ge­prägt pro­gres­si­ve Agen­da auch gewis­se eher kon­ser­va­ti­ve­re Wäh­ler­grup­pen abschre­cken könnte.

Abbildung 6: An welche Parteien drohen potenzielle Verluste? Welche anderen Parteien die SP-Wählenden in der Schweiz sich auch zu wählen vorstellen können-

Daten: Wählerpotenzial und Wahlentscheid gemessen anhand der SELECTS Daten 2015 und 2019. Lesebeispiel: 71.1% der Befragten, welche die SP Schweiz gewählt haben, geben auch eine Wahlwahrscheinlichkeit von mindestens 60% für die Grüne Partei der Schweiz an.

In einem letz­ten Schritt zei­gen wir des­halb auf, wohin poten­zi­el­le Ver­lus­te für die SP dro­hen. Dabei wird ersicht­lich, dass die poten­zi­el­len Ver­lus­te zu Par­tei­en am wahr­schein­lichs­ten sind, wel­che eben­falls für eine pro­gres­si­ve gesell­schafts­po­li­ti­sche Agen­da ste­hen, oder sich sogar noch stär­ker über die­se The­men defi­nie­ren als die Sozialdemokratie.

Wie Abbil­dung 6 zu ent­neh­men ist, hat ledig­lich fünf Pro­zent der SP-Wäh­ler­schaft eine hohe Wahl­wahr­schein­lich­keit für die SVP. Die­se Zahl ist ähn­lich tief wie die­je­ni­ge der SVP-Wähler:innen bezüg­lich der SP-Wahl­wahr­schein­lich­keit. Hin­ge­gen geben fast drei Vier­tel der SP-Wäh­ler­schaft eine hohe Wahl­wahr­schein­lich­keit für die Grü­nen an, und mehr als ein Drit­tel der SP-Wähler:innen kann sich eben­so gut vor­stel­len, die vor allem öko­no­misch zen­tris­ti­scher posi­tio­nier­ten Grün­li­be­ra­len zu wäh­len. Dies unter­streicht, dass die SP pri­mär mit der Grü­nen Par­tei und mit deut­lich gerin­ge­rem Aus­mass mit den Grün­li­be­ra­len um ähn­li­che Wäh­ler­seg­men­te kämpft.

Auch die­se letz­te Ana­ly­se reiht sich daher schlüs­sig in das Bild ein, das die Befun­de zu Wäh­ler­wan­de­run­gen (hier dann ein Link : sie­he Poli­cy Brief zur Wäh­ler­struk­tur) und zu Wäh­ler­po­ten­zia­len in die­sem kur­zen Poli­cy Brief erge­ben: die lang­fris­ti­gen ver­gan­ge­nen Trends und künf­ti­gen Per­spek­ti­ven zei­gen, dass die Zukunft der Sozi­al­de­mo­kra­tie in der Schweiz sich im öko­no­misch und vor allem gesell­schafts­po­li­tisch pro­gres­si­ven Wäh­ler­seg­ment entscheidet.


Hin­weis: Der vor­lie­gen­de Bei­trag beruht auf dem Poli­cy Brief “Das Wäh­ler­po­ten­zi­al der Schwei­zer Sozi­al­de­mo­kra­tie”, her­aus­ge­ge­ben von der Anny-Kla­wa-Morf Stif­tung Bern. Es han­delt sich dabei um eine Zusam­men­stel­lung wich­tigs­ter Erkennt­nis­se aus dem soeben im NZZ Libro erschie­ne­nen Werk.

Refe­renz

Bild: Uni­ver­si­tät Zürich, © Ursu­la Meisser

 

 

 

 

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