Wählerwanderungen rund um die Schweizer Sozialdemokratie

Fast die Hälfte der Wähler:innen, die bei den nationalen Wahlen 2015 der SP Schweiz noch ihre Stimme gegeben hatten, entschieden sich bei den nationalen Wahlen von 2019 anders. Wer der Urne 2019 nicht gleich gänzlich fernblieb, wanderte vornehmlich von der SP zu den Grünen ab. Wie unsere nachfolgenden Analysen zeigen, sind die medial oft beschworenen Wanderungen von der SP zur SVP praktisch inexistent. 

1: Verluste an die Grünen, aber nicht an die SVP

Für eine Partei ist es bei jeder Wahl wichtig, neue Wähler:innen zu mobilisieren. Genauso entscheidend ist aber, dass sie Wähler:innen halten kann, die sie bei den letzten Wahlen für sich gewinnen konnte. Abbildung 1 zeigt, dass die SP Schweiz letztere Aufgabe bei den eidgenössischen Wahlen 2019 weniger gut erfüllte als in jeder anderen Wahl seit 1995.

In Abbildung 1 steht jeder Balken für eine der eidgenössischen Wahlen seit 1995. Der gesamte Balken umfasst alle Wähler:innen, die sich bei den Wahlen, die im unter dem Balken vermerkten Wahljahr vorangingen, für die SP entschieden hatten. Die Einfärbung des Balkens in verschiedenen Farben gibt Aufschluss darüber, wem diese bestehenden SP-Wähler:innen in der unter dem Balken vermerkten Wahljahr ihre Stimme gaben.

Abbildung 1. Wahlentscheid von Personen, die bei der letzten Wahl die SP Schweiz wählten, 1995-2019
 
Lesebeispiel: Im Jahr 1995 wählen etwa 70 Prozent der Personen, die 1991 SP gewählt hatten, wiederum die SP, während knapp 20 Prozent ins Lager der Nichtwähler:innen wechseln. Etwa 2 Prozent der SP-Wähler:innen von 1991 wechseln 1995 zur GPS, etwa 1 Prozent zur CVP, etwa 4 Prozent zur FDP und etwa 3 Prozent zur SVP.
Eigene Darstellung basierend auf Daten der Schweizer Wahlstudie Selects.

 

Während Verluste ins Lager der Nichtwähler:innen (hellgrauer Balkenabschnitt) über die Zeit tendenziell abnehmen, sticht in Abbildung 1 in erster Linie die Zunahme des mittelgrünen Balkenabschnitts hervor, der für Wählerwanderungen hin zur GPS steht. Insbesondere bei der «Klimawahl» 2019 ist der Anteil dieser Abwanderungen beachtlich. Auch die zweite Gewinnerin der Wahlen von 2019, die GLP, entwickelte 2019 eine viel stärkere Sogwirkung auf ehemaligen SP-Wähler:innen als in allen vorangegangenen Wahlen – wenn auch auf klar tieferem Niveau als die GPS (im Policy Brief zum «Wählerpotenzial der Schweizer Sozialdemokratie» zeigen wir aber, dass die Attraktivität der GLP unter aktuellen und potentiellen SP-Wähler:innen nicht zu unterschätzen ist). Umgekehrt war es 2019 aber eben nicht so, dass sich unter den zugewanderten SP-Wähler:innen vor allem ehemalige Wähler:innen der Grünen fanden.

Abbildung 2 macht deutlich, dass es auch einige Nicht-Wähler:innen sind, welche die SP von einer Wahl zur nächsten dazuzugewinnen vermag.

Beim Abwerben von Wähler:innen anderer Parteien wird die SP demgegenüber über die Zeit immer weniger erfolgreich. Was uns Abbildungen 1 und 2 zudem lehren, ist, dass Abwanderungen von der SP ins rechte Lager in den letzten drei Jahrzehnten kaum stattfanden: Verluste an SVP und FDP sind seit Mitte der 1990er-Jahre marginal. Am meisten Abwanderungen in ein anderes ideologisches Lager sehen wir hin zu den Parteien der neugebildeten «Mitte», insbesondere als die BDP 2011 als neue politische Kraft erstmals zu nationalen Wahlen antrat.

Kurz: Die SP verliert immer häufiger Wähler:innen an die Grünen, verliert sie aber beständig nicht an die SVP. Die SP vermag gleichzeitig immer weniger Wähler:innen der GPS davon zu überzeugen, bei einer Folgewahl sozialdemokratisch zu wählen, was dazu führt, dass die GPS die SP über die Zeit als Nettogewinnerin der Wählerströme im linken Parteispektrum ablöst. In den Daten von SELECTS zeigt sich, dass die SP vornehmlich gutverdienende, hochgebildete und weibliche Wähler:innen verliert. Und genau diese Wählergruppen scheinen sich bei den Grünen besonders gut aufgehoben zu fühlen, wie der nächste Abschnitt zeigt.

Abbildung 2. Vorheriger Wahlentscheid zugewanderter SP-Wähler:innen, 1995-2019
 
Lesebeispiel: Von den im Jahr 1995 neu gewonnenen SP-Wähler:innen, wandern 17 Prozent von der GPS zu, 6 Prozent von der CVP, 21 Prozent von der FDP und 4 Prozent von der SVP. Über 50 Prozent der neu SP-Wählenden sind 1995 vormalige Nichwähler:innen oder Neuwähler:innen.
Eigene Darstellung basierend auf Daten der Schweizer Wahlstudie Selects.
 
2: Wer wählt heute SP?

Es sind Schweizer:innen über 60, Abgänger:innen von Unis und Fachhochschulen, Städter:innen, gut qualifizierte Arbeitnehmer:innen in interpersonellen Berufen (also bspw. Lehrer:innen, Ärzt:innen oder Sozialarbeiter:innen) und Wähler:innen mit mittleren Einkommen, die heute die Wählerschaft der SP prägen (siehe Tabelle 1). Die gleichen Merkmale machen auch die (im Schnitt aber jüngere) Wählerschaft der Grünen aus. Erklären also die Ähnlichkeiten zwischen Wähler:innen von SP und Grünen die Wählerwanderungen von der SP zu den Grünen?

Tabelle 1. Vergleich zwischen Kernelektoraten der SP und anderer Schweizer Parteien

  Partei 
  SPGPSGLPMitteFDPSVPNichtwähler:innen
MerkmalBildungHochgebildet==.=TiefTief
KlasseSoziokulturelle
Spezialist:innen
=Manager:innen.Manager:innenProduktions-
arbeiter:innen/
Kleingewerbe
Diensleistungs-/
Produktions-
arbeiter:innen
Alter60+JüngerJünger===Jünger
GeschlechtBalanceFrauen==MännerMännerFrauen
WohnortStadt=AgglomerationLandAgglomerationLand.
Legende:
= bezeichnet eine Übereinstimmung zwischen der Wählerschaft von SP und in der Spalte vermerkter Partei hinsichtlich des in der Zeile besprochenen Merkmals.
. signalisiert, dass es in der entsprechenden Spalte vermerkten Wählerschaft hinsichtlich des in der Zeile vermerkten Merkmals keine markante Gruppe gibt, bzw. die Wählerschaft hin-sichtlich der Merkmalverteilung hier der Gesamtwählerschaft gleicht.
Lesebeispiel: Die Wählerschaft der SP ist tendenziell hochgebildet. Bei GPS, GLP und FDP verhält es sich gleich. Wähler:innen von SVP und Nichtwähler:innen verfügen demgegenüber eher über ein tiefes Bidlungsniveau. Bei der Mitte sind alle Bildungsschichten inetwa gleich, bzw. so wie in der Gesamtwählerschaft, vertreten.
Eigene Darstellung basierend auf Daten der Schweizer Wahlstudie Selects.

 

In Tabelle 1 sind einige Merkmale aufgelistet, durch welche sich Wähler:innen zusammenfassend beschreiben lassen: Bildung, Berufsklasse, Alter, Geschlecht und Wohnort. Für jedes dieser Merkmale gibt die Tabelle in einer ersten Spalte an, welche Bildungs‑, Berufsklassen‑, Alters- oder Geschlechtergruppe in der SP-Wählerschaft am stärksten vertreten ist und wo SP-Wähler:innen vornehmlich wohnen.

In weiteren Spalten werden diese Kernelektorate der SP mit den Kernelektoraten der anderen grössten Schweizer Parteien, sowie der Gruppe der Nichtwähler:innen verglichen. Hat eine andere Partei die gleiche Kernwählerschaft wie die SP, ist das durch ein Gleichzeichen markiert. Ist eine Partei in der Tendenz durch eine andere Wählergruppe dominiert als die SP, so vermerkt die Tabelle das. Ein Punkt signalisiert, dass eine Partei auf diesem Merkmal keine dominierende Gruppe aufweist.

Tabelle 1 zeigt eindrücklich, dass die SP Wähler:innen keinen anderen Wähler:innen so ähnlich sind wie jenen der GPS: Beide Wählerschaften sind vornehmlich hochgebildet, als soziokulturelle Spezialist:innen tätig und in Städten wohnhaft. Die Wählerschaft der Grünen ist einzig jünger und weiblicher als jene der SP. Auch sehen wir die grossen Unterschiede zwischen Wähler:innen von SP und SVP. Einen tut sie nur die Altersstruktur ihrer Wählerschaften. Wie alle etablierte Parteien in der Schweiz (und anderswo) sind es vor allem Wähler:innen im oder nahe am Rentenalter, die sie überdurchschnittlich anzuziehen vermögen.

3: Was wollen SP-Wähler:innen?

Wiederspiegelt sich die Ähnlichkeit von Wähler:innen der SP und der GPS beziehungsweise die Verschiedenheit von Wähler:innen der SP und der SVP auch darin, was die entsprechenden Wählerschaften wollen? Oder gibt es Themen, bei denen sich die Einstellungen von SP- und GPS-Wählenden unterscheiden oder Themen, bei welchen sich Wählende von SP und SVP gar nicht so uneinig sind?

Abbildungen 3 und 4 zeigen basierend auf Daten des European Social Surveys von 2016 die Wahlwahrscheinlichkeit für die SP und GPS (Abbildung 3) sowie für die SVP (Abbildung 4) in Abhängigkeit der Einstellungen zu sechs verschiedenen Themenfeldern an (Einstellungen zu Immigration, Rechten von Frauen und sexuellen Minderheiten, Europäischer Integration, Renten, Arbeitslosenversicherung und staatlicher Förderung von Kinderbetreuungsplätzen). Dabei geben die Abbildungen einerseits Aufschluss darüber, ob die Wählerschaft dieser Parteien einem Thema stärker zustimmend oder ablehnend gegenübersteht als die Gesamtbevölkerung. Andererseits lässt die Steigung der Linie erkennen, wie stark Einstellungen zu einem bestimmten Thema die Wahl für eine Partei vorhersagt: Je steiler die Linie, desto stärker sind Einstellungen zu diesem Thema dafür verantwortlich, dass jemand die entsprechende Partei wählt.

In Abbildung 3 wird ersichtlich, dass in allen hier untersuchten Themenbereichen sowohl verteilungspolitisch linke als auch gesellschaftspolitisch progressive Einstellungen die Wahl der SP wahrscheinlicher machen. Die SP ist beliebter bei Personen, welche für grosszügige Renten, Leistungen für Arbeitslose und staatliche Kinderbetreuung einstehen als bei Personen, welche den Staat in diesen Bereichen nicht in der Verantwortung sehen.

Auch wenn die Wählerschaft der SP – wie oben beschrieben – heute stark durch Personen mit hoher Bildung und mittlerem Einkommen geprägt ist und Personen mit tiefer Bildung und Einkommen in der SP nicht (mehr) übervertreten sind, scheint ihre aktuelle Wählerschaft die SP nicht trotz, sondern auch wegen ihrer verteilungspolitisch linken Positionen zu wählen. Ebenso ist die SP aber beliebt bei Personen, welche stark für die Rechte von sexuellen Minderheiten und Frauen, für eine stärkere Anbindung der Schweiz an die EU sowie für Immigration einstehen.

Daneben stechen insbesondere Fragen zur Zuwanderung als bedeutendster Faktor für eine SP-Wahl hervor. Stark immigrationsskeptische Haltungen verhindern die Wahl der SP fast gänzlich (und sind entsprechend in der SP-Wählerschaft kaum vertreten), während die SP bei stark zuwanderungsfreundlichen Personen auf einen Wähleranteil von beinahe vierzig Prozent kommt. Genau wie die verteilungspolitisch linken sind also auch die gesellschaftspolitisch progressiven Positionen für eine Wahl der SP entscheidend. Zumindest im Aggregat scheint die aktuelle SP-Wählerschaft weder bereit, auf verteilungspolitische linke, noch auf gesellschaftspolitisch progressive Politik zu verzichten – sie will explizit beides.

Abbildung 3. Wahlwahrscheinlichkeit der SP und der Grünen Partei (GPS) in Abhängigkeit von Einstellungen zu verschiedenen Themen

Lesebeispiel: Eine Person, die findet, dass die Anbindung der Schweiz an die EU deutlich verstärkt werden soll, wählt die SP mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp 30 Prozent. Je stärker jemand denkt, dass diese bereits zu weit gegangen ist desto tiefer sinkt die Wahrscheinlichkeit, SP zu wählen. Von den Personen, die eindeutig der Meinung sind, dass die Anbindung der Schweiz an die EU bereits zu weit gegangen ist, geben knapp 10 Prozent der SP die Stimme. Je steiler eine Kurve ansteigt, desto bedeutsamer ist die Einstellung zum entsprechenden Thema für die Wahl oder Nichtwahl der Partei.
Eigene Darstellung basierend auf Daten des European Social Survey (ESS 2016).

 

Abbildung 4. Wahlwahrscheinlichkeit der SVP in Abhängigkeit von Einstellungen zu verschiedenen Themen

Eigene Darstellung basierend auf Daten des European Social Survey (ESS 2016).

Der Vergleich der Einstellungen von SP‑, GPS- und SVP-Wählerschaften, gibt weiteren Aufschluss darüber, wieso Wählerwanderungen zwischen SP und GPS häufig, zwischen SP und SVP aber selten vorkommen. Auch die GPS schneidet bei Wähler:innen mit verteilungspolitisch linken und vor allem bei Wähler:innen mit gesellschaftspolitisch progressiven Positionen besonders gut ab. Demgegenüber vertreten die Wählerschaften von SP und SVP in jedem der sechs hier untersuchten Themenbereiche gegensätzliche Haltungen. Keine einzige Einstellung erhöht sowohl die Wahrscheinlichkeit einer SVP- als auch einer SP-Wahl. Inhaltliche Überschneidungspunkte, welche Wählende von SP und SVP verbinden, gibt es hier keine, wie Abbildung 4 aufzeigt.

Wie stark sich die Wählerschaften von SP und SVP unterscheiden, verdeutlicht das Thema Immigration eindrücklich. Wie bei der SP, nimmt dieses Thema auch bei der SVP eine zentrale Rolle ein. Unter den stark zuwanderungsskeptischen Wähler:innen erreicht die SVP einen Wähleranteil von fast achtzig Prozent. SVP und SP punkten also beide stark mit dem Thema Zuwanderung, aber eben mit gegensätzlichen Positionen zu diesem Politikfeld.

Während ein Vergleich zwischen den politischen Einstellungen der Wählerschaften von SP und GPS hauptsächlich Ähnlichkeiten offenbart, lassen sich bei der Wichtigkeit spezifischer Themen für den Wahlentscheid doch auch Unterschiede feststellen. Insbesondere scheinen Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung als klassische Sozialpolitik (und etwas weniger klar zu staatlicher Kinderbetreuung) die Wahl der SP besser vorherzusagen als die Wahl der GPS, während Einstellungen zu Rechten von Frauen und sexuellen Minderheiten einen leicht stärkeren Einfluss auf die GPS- als auf die SP-Wahl ausüben. Solche Unterschiede zwischen sozialdemokratischen und grünen Parteien zeigen sich auch im westeuropäischen Vergleich: sozialdemokratische Parteien mobilisieren ihre Wähler:innen eher aufgrund verteilungspolitischer Themen; grüne Parteien profilieren sich eher mit gesellschaftspolitischen Themen. Es ist aber bemerkenswert, dass Personen mit klar immigrationsfreundlichen Einstellungen häufiger die SP als die GPS wählen.

 4: Mit welchen Themen kann die SP punkten?

Nachdem wir bis jetzt hauptsächlich Ähnlichkeiten zwischen SP und GPS (bezüglich Zusammensetzung und Einstellungen ihrer Wählerschaft) festgehalten haben, welche den Wechsel von rot zu grün erklären könnten, ist es natürlich relevant zu wissen, was Wähler:innen denn zur Wahl der einen oder anderen Partei veranlasst. Neben der unterschiedlichen Altersstruktur haben die vorherigen Abschnitte vor allem bezüglich der Wichtigkeit verschiedener Themen Unterschiede zwischen SP und GPS ans Licht gebracht. In diesem letzten Abschnitt vertiefen wir diese Befunde anhand einer Frage aus SELECTS, welche alle Personen danach fragt, welche Partei sie in einem bestimmten Politikbereich am kompetentesten einschätzen.

Abbildung 5. Themenkompetenz der Parteien

Lesebeispiel: In den Jahren 2011, 2015 und 2019 haben durchschnittlich 26 Prozent aller Befragten die FDP als kompetenteste Partei in der EU-Frage bezeichnet. 24 Prozent entschieden sich für die SVP und 16 Prozent nannten die SP als kompetenteste Partei. 23 Prozent der Befragten konnten sich nicht für eine Partei entscheiden oder nannten eine andere als die sechs aufgeführten Parteien.
Eigene Darstellung basierend auf Daten der Schweizer Wahlstudie Selects 2011, 2015 und 2019.

Abbildung 5 zeigt für fünf Politikbereiche den Anteil der Schweizer Stimmberechtigten, welche eine Partei in diesem Bereich am kompetentesten wahrnimmt (gezeigt wird der Durchschnitt der Jahre 2011, 2015 und 2019). Zwar sind sich Wähler:innen naturgemäss nicht einig, welche Partei in welchem Thema am kompetentesten ist, dennoch zeigen sich spannende Unterschiede zwischen den Themen. Mit einem Fokus auf die SP (rot eingefärbt) lässt sich feststellen, dass die SP eine herausragende Stellung im Bereich Sozialpolitik einnimmt, wo sie von 44 Prozent und damit weit über ihre Wählerschaft hinaus als kompetenteste Partei (und sogar von 75 Prozent als die engagierteste Partei in diesem Bereich) wahrgenommen wird.

Darüber hinaus wird die SP aber auch in weiteren Themen von einem relevanten Teil der Bevölkerung als kompetent erachtet, so beispielsweise in der Europapolitik (16%) und insbesondere in der Migrationspolitik (26%), wo die SP wiederum über ihre Wählerschaft hinaus bei Personen, welche der Immigration gegenüber positiv eingestellt sind, die klare Themenherrschaft innehat (insgesamt teilt sie sich diese mit der SVP). In all diesen Themenbereichen schnitt die GPS im vergangenen Jahrzehnt vergleichsweise schlecht ab. Sie wird von jeweils weniger als fünf Prozent (und damit nicht einmal von ihrer eigenen Gesamtwählerschaft) als kompetenteste Partei in diesen Bereichen wahrgenommen. Die Themenherrschaft im linken Lager scheint in diesen Themen eher bei der SP als bei der GPS zu liegen.

Demgegenüber zeigt Abbildung 5, dass die SP beim Umweltthema einen schweren Stand hat. Lediglich vier Prozent nennen die SP als kompetenteste Partei im Bereich Umwelt. Die GPS (mit 44%) und auch die GLP (mit 25%) haben in diesem Thema aus Sicht der Stimmberechtigten eine unangefochtene Spitzenposition inne. Dieser Befund dürfte mindestens mitverantwortlich dafür sein, dass von Wählerwanderungen innerhalb des linken Lagers in den vergangenen Jahren (und besonders stark natürlich im Klimawahljahr 2019) zunehmend die GPS profitiert und sich die SP eher mit Abwanderungen zur GPS anstatt mit Zugewinnen von der GPS konfrontiert sieht.

Zusammenfassend zeigt Abbildung 5, dass die SP zumindest in naher Zukunft wohl kaum auf Stimmengewinne aufgrund der Umweltthematik hoffen darf, dass sie aber auch nicht wie manch andere sozialdemokratische Parteien in Europa ausschliesslich mit sozial- und wirtschaftspolitischen Themen punkten kann. In vielen westeuropäischen Ländern werden gesellschaftspolitische Themen wie Migration, Multikulturalismus oder europäische Integration stärker mit grünen oder anderen sozialliberalen Parteien assoziiert, während sozialdemokratische Parteien sich schwerer tun, kohärente und klare Positionen zu diesen Themen zu vermitteln und Personen, denen diese Themen besonders wichtig sind, für sich zu gewinnen.

Für die SP in der Schweiz ist es sicher kein Nachteil, thematisch breit aufgestellt zu sein, wenn es darum geht, die Vormachtstellung im linken Lager (die sozialdemokratischen Parteien in Zukunft alles andere als sicher ist) zu behalten. Im Vergleich zur GPS wird die SP in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich weniger als Ein-Themen-Partei wahrgenommen. Gleichzeitig bedeutet diese grundsätzlich angenehme Ausgangslage für die SP aber auch, dass sie in etlichen Themen eine bestehende Reputation als kompetente Partei zu verteidigen hat und sich durch markante Kurskorrekturen oder öffentlich ausgetragene, innerparteiliche Konflikte zu Themen wie Europa- oder Migrationspolitik in Schwierigkeiten bringen könnte.

Insbesondere eine Annäherung an die SVP in diesen Themen dürfte auf die bestehende SP-Wählerschaft abschreckend wirken, ohne dass sie gleichzeitig eine Vielzahl heutiger SVP-Wähler:innen für die SP zu begeistern vermag (siehe dazu den Policy Brief zum «Wählerpotenzial der Schweizer Sozialdemokratie»). Damit gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich Wählerwanderungen zwischen SP und SVP in Zukunft intensivieren werden. Wie in den vergangenen dreissig Jahren dürften Wahlergebnisse der SP auch künftig hauptsächlich davon abhängen, inwiefern es der SP einerseits gelingt, Neuwählende und Nichtwählende zu mobilisieren und es ihr andererseits gelingt, Wählerwanderungen zwischen SP, GPS und (in kleinerem Masse) GLP zu ihren Gunsten zu entscheiden.

Hinweis: Der vorliegende Beitrag beruht auf dem Policy Brief “Wählerwanderungen rund um die Schweizer Sozialdemokratie“, herausgegeben von der Anny-Klawa-Morf Stiftung Bern. Es handelt sich dabei um eine Zusammenstellung wichtigster Erkenntnisse aus dem soeben im NZZ Libro erschienenen Werk.


Referenz

Bild: Unsplash

 

 

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