Stellt die «Kantonsfrage», aber stellt sie richtig!

Im Vor­feld von Bun­des­rats­wah­len wird immer wie­der aus­gie­big über die Her­kunft der Kan­di­da­ten und Kan­di­da­tin­nen dis­ku­tiert. Ein rein sta­tis­ti­scher Rück­blick in die Kan­tons­zu­ge­hö­rig­keit von Bun­des­rä­ten sagt aber wenig über den Ein­fluss der Stän­de in Bun­des­bern aus.

«Eine Zen­tral­schwei­ze­rin soll es sein!», «Ein Nord­west­schwei­zer!». Und über­haupt: «Eine Ber­ner Dop­pel­ver­tre­tung habe der Schweiz noch nie gescha­det, im Gegen­teil!». «Irr­lich­tert nicht», mahnt man der­weil in Zürich, spä­ter in Zug, mit stets erho­be­nem Warn­fin­ger gegen die weni­ger geseg­ne­ten Freund­eid­ge­nos­sen. In Zei­ten, in denen sich (Noch-)Bundesräte öffent­lich über das «schwin­den­de Ver­ständ­nis für wirt­schaft­li­che Zusam­men­hän­ge» bekla­gen, gebie­te es im Min­des­ten einen «NFA-Geber-Sitz». Land­auf, land­ab erklin­gen aktu­ell For­de­run­gen, wer wie in der Lan­des­re­gie­rung ver­tre­ten sein soll­te – ja, müss­te. Zwei­fel­los ist es wich­tig und rich­tig, auch die «Kan­tons­fra­ge» zu stel­len. Des­sen, dass die Bun­des­rats­zu­sam­men­set­zung auch unter föde­ra­len Gesichts­punk­ten rele­vant ist, waren sich schon die Ver­fas­sungs­vä­ter bewusst. Ansons­ten hät­ten sie auf die «Kan­tons­klau­sel» ver­zich­tet; eine Nicht­wähl­bar­keits­be­stim­mung, die über mehr als 150 Jah­re Bun­des­staats­ge­schich­te mehr als ein Bun­des­rat pro Kan­ton ver­bat. Eben­so wich­tig wäre es jedoch, die «Kan­tons­fra­ge» rich­tig zu stel­len.

Ver­kürzt gestellt ist sie näm­lich dann, wenn man sich mit der amt­li­chen Sta­tis­tik begnügt und dar­aus einen Ver­tre­tungs­an­spruch ablei­tet. Der­ar­ti­ge For­de­run­gen ver­ken­nen, wie viel Unschär­fe sich hin­ter den nur ver­meint­lich simp­len Zah­len ver­birgt. Ist Guy Par­me­lin (SVP/VD) nun eigent­lich der 15. oder 16. Bun­des­rat aus der Waadt? Je nach­dem, ob man in Pierre Gra­ber (SP/NE) nur einen «Papier-Neu­en­bur­ger» erkennt, der sei­ne gan­ze poli­ti­sche Kar­rie­re in der Waadt durch­lief oder einen ech­ten, weil in La Chaux-de-Fonds hei­mat­be­rech­tig­ten «citoy­en neu­châ­te­lois», wird die Ant­wort anders aus­fal­len. Denn: Die Aus­le­gung der eins­ti­gen «Kan­tons­klau­sel» hat sich über die Zeit ver­än­dert. Wel­cher Bun­des­rat wel­chem Kan­ton zuge­ord­net wur­de, bestimm­te sich zunächst nach dem Bür­ger­recht. Schon in den frü­hen 1970er Jah­ren stimm­ten Bür­ger- und Wohn­kan­ton aber nur noch bei weni­ger als der Hälf­te der Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner über­ein. Inwie­fern sich aus dem Hei­mat­schein ech­te hei­mat­li­che Gefüh­le ablei­ten las­sen, wur­de immer frag­li­cher. Als die Frau­en ab 1971 auf die natio­na­le Polit­büh­ne dräng­ten, haf­te­te dem Kri­te­ri­um end­gül­ti­ge Will­kür an. Weil die Frau durch ihre Hei­rat nach damals gel­ten­dem Recht durch ihren Ver­mähl­ten sozu­sa­gen «künst­lich» einen neu­en Hei­mat­ort erwarb, wur­de es gera­de­zu belie­big. So fiel Lilia­ne Uch­ten­ha­gen-Brun­ner (SP/ZH), der ers­ten offi­zi­el­len Bund­e­rats­kan­di­da­tin, der Basel­bie­ter Bür­ger­ort ihres Gat­ten zu, obwohl sie selbst im solo­thur­ni­schen Olten gebo­ren wur­de und zeit­le­bens im Kan­ton Zürich poli­tisch enga­giert war. Zur eigent­li­chen Fik­ti­on ver­kom­men, muss­te eine zeit­ge­mäs­se­re Inter­pre­ta­ti­on der Wahl­schran­ke her. Ab 1987 gab anstel­le des Bür­ger­rechts künf­tig in ers­ter Linie der Ort der poli­ti­schen Tätig­keit den Aus­schlag (bzw. der Wohn­sitz, wenn eine Quer­ein­stei­ge­rin ins Ren­nen um einen Bun­des­rats­sitz stieg). Doch auch so ritz­te die Pra­xis wei­ter­hin am Geist der Bun­des­ver­fas­sung. Das bewies nicht zuletzt die Wahl der in St. Gal­len ver­bür­ger­ten, einst dem ber­ni­schen Stadt­rat ange­hö­ren­den und durch Ver­le­gung ihrer Nie­der­las­sungs­pa­pie­re über Nacht flugs zur Gen­fe­rin gewor­de­nen Bun­des­rä­tin Ruth Drei­fuss (SP/GE). Wer die bis­he­ri­gen Bun­des­rats­mit­glie­der anhand der offi­zi­el­len Anga­ben auf­sum­miert, ver­kennt also, wie mobil deren Bio­gra­fien eigent­lich sind – und wie «wort­hül­sig» juris­tisch bestimm­te «Kan­tons­zu­ge­hö­rig­keit» ist.

Eben­so falsch ist die «Kan­tons­fra­ge» von den­je­ni­gen gestellt, die aus der (feh­len­den) Bun­des­rats­ver­tre­tung (feh­len­de) bun­des­po­li­ti­sche Zugangs­chan­cen ablei­ten. In die­ser ver­kürz­ten Les­art fin­de ein Stand nur dann Gehör, wenn sich einer der «Ihri­gen» unter den Sie­ben ein­rei­he. Anders gesagt, funk­tio­nie­re das «rote Tele­fon» nach «Bun­des­bern» für den St. Gal­ler Regie­rungs­rat nur des­halb, weil die St. Gal­ler Bun­des­rä­tin einst dem­sel­ben Kreis ange­hör­te. Der­ar­ti­ge Deu­tun­gen über­se­hen, wie man­nig­fach und viel­ge­stal­tig die Bemü­hun­gen der Kan­tons­re­gie­run­gen heut­zu­ta­ge sind, um an der Wil­lens­bil­dung des Bun­des mit­zu­wir­ken (Art. 45 Abs. 1 BV). Enge per­sön­li­che Ban­de zum zustän­di­gen eid­ge­nös­si­schen Depar­te­ments­vor­ste­her zu pfle­gen, ist bloss ein Pfei­ler ihrer mehr­glei­si­gen Inter­es­sen­ver­tre­tung. Dar­über hin­aus laden die Kan­to­ne «ihre» Dele­ga­ti­on in Natio­nal- und Stän­de­rat regel­mäs­sig zu «Ses­si­ons­tref­fen», lob­by­ie­ren die Bun­des­amts­di­rek­to­rin unver­fro­ren direkt und/oder tre­ten im Ver­bund an; orches­triert über das inter­kan­to­na­le Kon­fe­renz­ge­fü­ge. Doch just über­all dort zei­gen sich die eigent­li­chen Reprä­sen­ta­ti­ons­de­fi­zi­te: Wäh­rend die Bun­des­rats­ver­tre­tung der unter­schied­li­chen Lan­des­ge­gen­den auf lan­ge Sicht rela­tiv aus­ge­gli­chen ist, ist sie unter den Kader­po­si­tio­nen der Bun­des­ver­wal­tung umso schie­fer. Auch die Prä­si­di­en der gewich­ti­gen inter­kan­to­na­len Kon­fe­ren­zen wer­den meist unter nur einem klei­nen Zir­kel an «regi­ments­fä­hi­gen» Kan­to­nen aus­ge­macht. Dass etwa Basel-Stadt wäh­rend der COVID-19-Pan­de­mie zeit­gleich die GDK und die VDK anführ­te, sorg­te iro­ni­scher­wei­se kaum für Irri­ta­tio­nen. Im glei­chen Mas­se, wie den weni­ger «ver­tre­tungs­ver­wöhn­ten» Kan­to­nen die Türen anders­wo ver­sperrt sind, gewann der Direkt­kon­takt zur Lan­des­re­gie­rung an Bedeu­tung. Über die Zeit wur­den Unter­re­dun­gen zwi­schen Bun­des­rat und Kan­tons­re­gie­run­gen durch­wegs häu­fi­ger. Letz­te­re sind dabei rein funk­tio­nal moti­viert: Der Gesund­heits­mi­nis­ter ver­han­delt mit der Gesund­heits­di­rek­to­rin; die UREK-Vor­ste­he­rin tauscht sich infor­mell mit dem das Ener­gie­dos­sier ver­ant­wor­ten­den Staats­rat aus. Ob man das­sel­be Kan­tons­wap­pen trägt, ist weit­ge­hend uner­heb­lich. Als Bun­des­rats­mit­glied kön­ne man heut­zu­ta­ge «kaum noch so offen für so ein Gross­bau­pro­jekt im eige­nen Kan­ton wei­beln, wie das Adolf Ogi für den Lötsch­berg-Basis­tun­nel tun konn­te», bilan­zier­te eine frü­he­re Ber­ner Regie­rungs­rä­tin denn auch nüchtern.

Die «Kan­tons­fra­ge» rich­tig zu stel­len, hies­se also ers­tens, den Blick nicht auf den Kan­tons- bzw. Regio­nen­pro­porz im Bun­des­rat zu ver­en­gen. Und zwei­tens beding­te es, dar­über zu sin­nie­ren, wie sich der früh­zei­ti­ge, sach­ge­rech­te und chan­cen­glei­chen Ein­be­zug aller Kan­to­ne lang­fris­tig sicher­stel­len lies­se – fern­ab des müs­si­gen «Kan­tons­mas­ken­balls», der sich rund um Bundesrats(-ersatz)wahlen abspielt.

Hin­weis: Die­ser Bei­trag erschien in gekürz­ter Fas­sung am 2. Novem­ber 2022 als Gast­kom­men­tar in der NZZ-Print­aus­ga­be.


Refe­ren­zen:

Frei­burg­haus, Rahel: Lob­by­ie­ren­de Kan­to­ne? Sub­na­tio­na­le Inter­es­sen­ver­tre­tung in der Schweiz. Dis­ser­ta­ti­ons­vor­ha­ben, Uni­ver­si­tät Bern.

Bild: wiki­me­dia commons

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