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Das Wählerpotenzial der Schweizer Sozialdemokratie

Silja Häusermann, Reto Mitteregger, Tarik Abou-Chadi, Reto Bürgisser, Matthias Enggist, Nadja Mosimann, Delia Zollinger
16th November 2022

Fast die Hälfte aller Wähler:innen in der Schweiz könnten sich vorstellen, die SP zu wählen, aber nur etwa zwei von fünf dieser potenziellen Wähler:innen tun es auch. Die SP verfügt also über ein beträchtliches unausgeschöpftes Wählerpotenzial. Überlappungen in den Wählerpotenzialen zeigen sich im links-grünen Parteienspektrum, aber kaum mit rechten Parteien: Die potenziell zusätzlich gewinnbaren SP-Wähler:innen finden sich vor allem in den Wählerschaften der Grünen und Grünliberalen und bei den jungen Nichtwählenden, aber kaum in rechten Parteien.

Wer sind denn aber diese potenziell gewinnbaren Wähler:innen? Sie sind in der Tendenz jung, mehrheitlich weiblich und hoch gebildet. Thematisch halten diese Wähler:innen umweltpolitische, gesellschaftspolitische, internationale und institutionelle Herausforderungen für die wichtigsten politischen Probleme der Schweiz. Im Einklang mit dieser Problemwahrnehmung finden im sozialdemokratischen Wählerpotenzial progressive gesellschaftspolitische Positionen die grösste positive Resonanz, stärker noch als sozialpolitisch-linke Positionen. Das Spiegelbild der potenziellen Gewinne bilden hohe potenzielle Verluste zu den beiden grünen Parteien: Gut siebzig Prozent der SP-Wählenden können sich auch vorstellen, die grüne Partei zu wählen, fast vierzig Prozent können sich auch vorstellen, die grünliberale Partei zu wählen.

1: Grosses Wählerpotenzial, aber tiefe Ausschöpfung

Das Wählerpotenzial einer Partei umfasst alle Wähler:innen, welche sich vorstellen können, diese Partei jemals zu wählen. Für Parteien ist es strategisch wichtig, ihr Wählerpotenzial zu kennen. So können sie abschätzen, wie gut sie die Wähler:innen für sich zu mobilisieren vermögen, ob es noch Wachstumspotenzial gibt, und wer diejenigen Wähler:innen sind, die ihre Stimme dann letztlich eben doch einer anderen Partei geben. 

Abbildung 1: Wählerpotenzial und Ausschöpfungsquote der wichtigsten Parteien in der Schweiz. Respondent*innen mit einer Wahlwahrscheinlichkeit von mind. 60% werden als potenzielle Wähler:innen codiert.

Daten: Wählerpotenzial gemessen anhand der SELECTS Daten 2015 und 2019. Ausschöpfung gemessen an den effektiven Wahlresultaten in den zwei entsprechenden nationalen Wahlengängen.
Lesebeispiel: 42 % der Befragten in der Schweiz geben eine Wahlwahrscheinlichkeit für die SP Schweiz von mindestens 6 (auf einer Skala von 1-10) an. Der effektive Wähleranteil der SP Schweiz im Durchschnitt der Nationalratswahlen 2015 und 2019 lag hingegen bei 17.8%.

Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, verfügt die SP – gleichauf mit der FDP – über das grösste Wählerpotenzial von allen Parteien in der Schweiz: Über vierzig Prozent der Schweizer Wählerschaft können sich vorstellen, ihre Stimme der sozialdemokratischen Partei zu geben. Diese Zahl steht jedoch im deutlichen Gegensatz zum tatsächlichen Stimmanteil der SP, welcher in den letzten zwei Jahrzehnten mit unter zwanzig Prozent weniger als halb so gross war.

Dies deutet darauf hin, dass die SP ihr Wählerpotenzial bei weitem nicht ausschöpfen kann, und dass sie Partei durchaus weit über die eigene Wählerschaft auf Zustimmung stösst. Eine Betrachtung der Wähleranteile und Wählerpotenziale über die Zeit zeigt ausserdem, dass das Potenzial der SP seit 1995 ungefähr konstant bei vierzig Prozent geblieben ist. Der in der gleichen Zeit zurückgehende Wähleranteil weist jedoch darauf hin, dass es der SP zunehmend schlechter zu gelingen scheint, ihr potenzielles Elektoral für eine Wahl zu gewinnen.

Mit diesen Zahlen bewegt sich die Schweiz in sehr ähnlichen Werten wie die anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa, welche ebenfalls stabil hohe Wählerpotenziale haben, aber zunehmend schwächere Ausschöpfungsquoten. Die sinkende Mobilisierungskapazität liegt insbesondere an der stärkeren Konkurrenz im links-grünen Lager. In der Tat weisen grüne Parteien – in der Schweiz die Grünen und die GLP – ebenfalls (sehr) grosse Wählerpotenziale auf. Ihre Ausschöpfungsquote ist zwar noch tiefer als diejenige der sozialdemokratischen Parteien, steigt aber tendenziell an. Immer mehr Wähler:innen, die sich selber im links-grünen Lager verorten, geben den grünen Parteien ihre Stimme. Auch diese Tendenz ist in der Schweiz und in den anderen europäischen Ländern sehr ähnlich zu beobachten.

In der Schweiz schöpfen auch die Mitte-rechts Parteien ihr Wählerpotenzial nur eher schwach aus. Besonders gut mobilisiert nur die SVP. Etwa drei Viertel der Wähler:innen, die sich vorstellen können, jemals SVP zu wählen tun es auch effektiv. Allerdings hat die SVP gleichzeitig ein vergleichsweise eingegrenztes und tiefes Wählerpotenzial, was darauf hindeutet, dass die Partei an Wachstumsgrenzen stösst.

 

2: Potenziell zu gewinnende Wähler:innen: jung, gebildet, progressiv

Wer sind also die Wähler:innen, die sich zwar vorstellen könnten SP zu wählen, dies aber nicht tun? Die untenstehende Abbildung 2 illustriert den Anteil der potenziellen Wähler:innen in den Parteielektoraten und bei den Nichtwählenden für das Jahr 2019. Tatsächlich ist der Anteil potenzieller SP-Wähler:innen in der effektiven Wählerschaft der Grünen Partei sehr hoch: Drei Viertel derjenigen, die 2019 die Grüne Partei gewählt haben, können sich auch vorstellen, die SP zu wählen.

Sehr deutlich zeigt sich auch, dass der Anteil «Gewinnbarer» im Parteienspektrum von links nach rechts stark abnimmt: Während noch gut die Hälfte der grünliberalen Wählerschaft sich vorstellen kann, die SP zu wählen, sind dies bei der FDP gerade noch etwas weniger als zwanzig Prozent. Innerhalb der Wählerschaft der SVP kann es sich schliesslich weniger als jede zehnte Person vorstellen, der SP jemals ihre Stimme zu geben.

Diese enorm starke Ausdifferenzierung der Wählerschaften hat sich in den letzten zwanzig Jahren verstärkt und reflektiert die starke Polarisierung der Schweizer Parteienlandschaft. Zusammengefasst heisst das, dass die SP innerhalb der programmatisch verwandten links-grünen Parteilandschaft Wähler:innen ansprechen kann, aber bei den rechten Parteien der Schweiz kaum elektorale Attraktivität geniesst. Das grosse, nicht ausgeschöpfte Potenzial liegt also primär innerhalb des breiteren progressiven Blocks der Schweiz.

Abbildung 2: Wahlwahrscheinlichkeiten für die SP Schweiz in den Elektoraten der Schweizer Parteien 2019.
Lesebeispiel: Etwa 6% der Wähler:innen der SVP zählten sich 2019 auch zum potenziellen Elektorat der SP Schweiz.

Betrachten wir als nächstes das Profil dieser potenziell gewinnbaren Wähler:innen. Ein Blick auf die soziodemografischen Charakteristika der potenziellen Wählerschaft, die nicht SP wählt, zeigt, dass das grosse Wählerpotenzial insbesondere bei den Wählenden mit mittlerem und höherem Ausbildungsgrad liegt. Fast die Hälfte der heute potenziell mobilisierbaren SP-Wähler:innen verfügt über einen tertiären Bildungsgrad (siehe Abbildung 3). Dieser Anteil ist über die letzten zwei Jahrzehnte kontinuierlich angestiegen und hat sich nahezu verdoppelt, sowohl im Zug der Bildungsexpansion, als auch als Resultat der grundlegenden Umwälzungen in den Schweizer Parteiwählerschaften (siehe der Policy Brief zu den Wählerschaften und ihren Präferenzen).

Es lässt sich also festhalten, dass das elektorale Wachstumspotenzial der Schweizer Sozialdemokratie primär in der Gruppe der mittel- und hoch Gebildeten liegt, welche in den letzten Jahren im Zuge der fortschreitenden Bildungsexpansion und Deindustrialisierung stark gewachsen ist. Im Umkehrschluss widerspricht dieser Befund sehr klar der Idee, dass die Sozialdemokratie primär mittels einer verstärkten Hinwendung zu tiefer gebildeten sozialen Schichten wachsen könnte bzw. sollte. Auch wenn die Partei und ihre Wähler:innen nach wie vor die materiellen Interessen dieser sozialen Schichten vertreten, speist sich ihre Wählerstärke doch primär und vor allem über die Zeit zunehmend aus der gut gebildeten Mittelschicht.

Abbildung 3: Bildungsgrad der potenziellen, aber nicht tatsächlichen SP-Wählenden
Lesebeispiel: Von den Befragten, die sich selber zum potenziellen Elektorat der SP Schweiz zählen, die Partei aber nicht effektiv gewählt haben, haben 2019 etwa 45% einen tertiären Bildungsabschluss.

 

Eine eher grosse potenziell gewinnbare Gruppe stellen auch die zahlreichen Nichtwählenden dar. Diese Gruppe ist in der Schweiz – gerade im Vergleich mit dem Ausland – beispiellos gross: Während sich in Deutschland 2021 78% oder in Österreich 2019 75.5% der Stimmberechtigten an den nationalen Wahlen beteiligten, nahmen in der Schweiz mit 45% im Jahr 2019 nicht einmal die Hälfte der Stimmberechtigten an den nationalen Wahlen teil. Diese sehr tiefe Wahlbeteiligung suggeriert auf den ersten Blick, dass eine sehr grosse Gruppe an Wähler:innen zusätzlich mobilisierbar wäre. Tatsächlich kann sich – wie oben gezeigt – jede dritte Person aus der Gruppe der Nichtwählenden vorstellen, die SP zu wählen.

Die Frage ist, wer diese nicht teilnehmenden, potenziellen SP-Wähler:innen sind? Finden sich hier vielleicht «verlorene», ältere Wähler:innen, die sich von der Sozialdemokratie abgewandt haben? – eine Hypothese, die nach wie vor in der öffentlichen Debatte oft geäussert wird. Wir haben die soziodemografische Charakteristika genau dieser Gruppe untersucht und festgestellt, dass sie im Gegenteil deutlich jünger sind als die Gruppe der tatsächlich mobilisierten SP-Wähler:innen. Ausserdem sind deutlich mehr Frauen in dieser Gruppe vertreten als im heutigen SP-Elektorat und mehr Menschen mit tieferem Bildungsgrad. Gerade letztere Beobachtung ist im Einklang mit der grundsätzlichen Tatsache, dass in der Schweiz die Wahlbeteiligung strukturell und konstant stark nach sozialer Schicht verzerrt ist. Wähler:innen in tieferen sozialen Schichten nehmen deutlich seltener an Wahlen teil und sind auch nur sehr schwer zu mobilisieren.

Abbildung 4: Nennungen der „wichtigsten politische Probleme für die Schweiz“ durch diejenigen Wählenden, die trotz hoher Wahlwahrscheinlichkeit nicht SP wählen
Datenbasis: Selects 2019
Lesebeispiel: Von den Befragten, die sich selber zum potenziellen Elektorat der SP Schweiz zählen, die Partei aber nicht effektiv gewählt haben, nennen 2019 etwa zwei Drittel gesellschaftspolitische Themen (EU, Zuwanderung, Umwelt) als wichtigstes politisches Problem der Schweiz.

 

Schliesslich wenden wir uns noch den Erwartungen und Einstellungen der potenziell gewinnbaren Wähler:innen für die SP zu. Dazu betrachten wir, welche Themen diese Wähler:innen für besonders wichtig halten und in welchen Bereichen sie die drängendsten politischen Probleme und Herausforderungen für die Schweiz sehen. Diese Informationen geben uns Hinweise darauf, mit welchen Themen zusätzliche Wähler:innen wohl am ehesten anzusprechen wären.

Die in Abbildung 4 grün gefärbten Themen können dabei der Gesellschaftspolitik zugeordnet werden, während die blauen oder violetten Themen eher dem sozialpolitischen Themenkomplex zugerechnet werden können. Dabei wird ersichtlich, dass insbesondere in den letzten zwei Jahren die mit Abstand grösste Gruppe der gewinnbaren Wähler:innen gesellschaftspolitische Themen als die wichtigsten genannt hat. Zwar gibt es auch eine substanzielle Gruppe, welche die Sozial- Wirtschafts- oder Arbeitsmarktpolitik als drängendstes politisches Problem in der Schweiz nennt, aber diese Gruppe ist deutlich kleiner als diejenigen, welche Fragen der Umwelt- Europa- oder Immigrationspolitik als zentrale Herausforderungen benennen. Im nächsten Abschnitt verfolgen wir diese Erwartungen und Einstellungen etwas tiefer, indem wir betrachten, welche Art von Politikentscheidungen bei diesen Wähler:innen besonders viel Anklang finden.

 

3: Bei potenziellen Wähler:innen «ziehen» progressive Positionen

Welche politischen Vorschläge und Positionen stossen im tatsächlichen und potenziellen Elektorat der Sozialdemokratie auf besonders viel positive Resonanz? Um diese Frage zu beantworten, haben wir sogenannte Conjoint-Experimente durchgeführt. Dazu werden den Befragten jeweils zwei sich unterscheidene sozialdemokratische Positionen zu ausgewählten politischen Themen vorgelegt, welche die Befragten miteinander vergleichen und bewerten müssen.

Die ausgewählten Politikfelder repräsentieren dabei Themen, die in nahezu sämtlichen westeuropäischen Parteiensystemen von Relevanz sind und exemplarisch für bestimmte politische Konfliktdimensionen stehen: Auf der einen Seite sind das (klassische) verteilungs- und sozialpolitische Fragen nach dem Renteneintrittsalter, der potenziellen Höhe einer Erbschaftssteuer und der Stärkung des Beschäftigungsschutzes in der Industrie.

Auf der anderen Seite werden den Befragten Positionen zu gesellschaftspolitischen Themen wie Zuwanderung, Integrationspolitik, Frauenquoten und CO2-Besteuerung präsentiert. Schliesslich legen wir den Befragten auch neuere sozialpolitische Vorschläge vor im Bereich der Vereinbarungs- und Wohnungspolitik. Exemplarisch dafür steht in unserer Analyse der Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuungsstrukturen, welcher in der Schweiz deutlich weniger fortgeschritten ist als im internationalen Vergleich. Mit dem Einbezug der Frage nach staatlichen Eingriffen in Mietpreise greifen wir ein weiteres sozialpolitisches Thema auf, welches in vergangenen Jahren an Relevanz gewonnen hat.

Diese Vergleiche ermöglichen es uns in der statistischen Analyse zu ermitteln, welche Positionen dazu führen, dass ein Parteiprogramm bevorzugt bzw. abgelehnt wird. So können wir ermitteln, welche Themen einen besonders starken positiven oder negativen Einfluss auf die Unterstützung eines sozialdemokratischen Parteiprogramms haben bzw. welche politischen Positionen in der Wählerschaft besonders gut ankommen.

Dabei betrachten wir, ob tatsächliche Wähler:innen der SP von den potenziellen (aber nicht effektiven) Wähler:innen abweichen und ob es gewisse Positionen gibt, welche potenzielle Wähler:innen regelrecht abschrecken würden.

Abbildung 5: Conjoint Experiment für die Schweiz. Koeffizienten (Marginal Means) zeigen wie das Vorhandensein einer Position im vorgelegten Programm die Wahrscheinlichkeit beeinflusst, dass die Respondent:innen dieses Programm bevorzugen.

Lesebeispiel: Wenn ein SP-Programm eine 50%-Frauenquote vorsieht, steigert dies die Zustimmung zu diesem Programm bei potenziellen (linkes Panel) und tatsächlichen (rechtes Panel) SP-Wähler:innen deutlich.

Die Analyse zeigt, dass tatsächliche und potenzielle Wähler:innen auf die Vorschläge ähnlich reagieren. Genau wie bei den tatsächlichen Wähler:innen führt auch bei den potenziellen SP-Wähler:innen eine progressive Zuwanderungs- und Integrationspolitik, sowie die Forderung nach einer Frauenquote in Unternehmen zu einer höheren Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Programm der SP einem Programm vorziehen, welche in diesen Bereichen weniger progressive Vorschläge enthält. Potenziell mobilisierbare Wähler:innen reagieren ausserdem sehr positiv auf Programme, die einen Ausbau der Kinderbetreuung versprechen, und welche Mietpreis-Erhöhungen in Städten zu verlangsamen trachten. Bei den tatsächlichen Wähler:innen kommen diese beiden letzteren Vorschläge weniger gut an.

Zusammenfassend zeigen die Befunde konsistent, dass die SP eher mit gesellschaftspolitisch progressiven Positionen gewinnbare Wähler:innen mobilisieren könnte. Ausserdem sind soziale Investitionspolitiken relevante Faktoren. Klassisch verteilungspolitische Forderungen sind hingegen weniger klare Faktoren, um ein gewinnbares Elektorat neu und zusätzlich zu mobilisieren. Wichtig ist schliesslich auch, dass die effektive Wählerschaft nur begrenzt von der potenziellen divergiert. Es gibt also kaum Evidenz für Zielkonflikte, d.h. dass die SP mit einer Politik, die sich an gewinnbare Wähler:innen richtet, aktuelle Wähler:innen verlieren könnte. Eher scheint es so, dass die gewinnbaren Wähler:innen eine ähnliche Einstellungen haben, aber noch ausgeprägter als die Tatsächlichen auf progressive, eher neulinke Themen ansprechen.

 

4: Verluste drohen nach links, nicht nach rechts

Natürlich gibt es nicht nur potenzielle Wählergewinne, sondern es gibt auch viele Wähler:innen, die zwar SP gewählt haben, sich aber auch vorstellen können, anderen Parteien ihre Stimme zu geben. In der Tat hat die SP – genau wie ihre europäischen Schwesterparteien – in den letzten Jahrzehnten deutlich mehr Wähler:innen verloren als gewonnen, und es gibt wenig Grund zur Annahme, dass dieses Risiko künftig gebannt ist. Insbesondere stellt sich die Frage, ob eine ausgeprägt progressive Agenda auch gewisse eher konservativere Wählergruppen abschrecken könnte.

Abbildung 6: An welche Parteien drohen potenzielle Verluste? Welche anderen Parteien die SP-Wählenden in der Schweiz sich auch zu wählen vorstellen können-

Daten: Wählerpotenzial und Wahlentscheid gemessen anhand der SELECTS Daten 2015 und 2019. Lesebeispiel: 71.1% der Befragten, welche die SP Schweiz gewählt haben, geben auch eine Wahlwahrscheinlichkeit von mindestens 60% für die Grüne Partei der Schweiz an.

In einem letzten Schritt zeigen wir deshalb auf, wohin potenzielle Verluste für die SP drohen. Dabei wird ersichtlich, dass die potenziellen Verluste zu Parteien am wahrscheinlichsten sind, welche ebenfalls für eine progressive gesellschaftspolitische Agenda stehen, oder sich sogar noch stärker über diese Themen definieren als die Sozialdemokratie.

Wie Abbildung 6 zu entnehmen ist, hat lediglich fünf Prozent der SP-Wählerschaft eine hohe Wahlwahrscheinlichkeit für die SVP. Diese Zahl ist ähnlich tief wie diejenige der SVP-Wähler:innen bezüglich der SP-Wahlwahrscheinlichkeit. Hingegen geben fast drei Viertel der SP-Wählerschaft eine hohe Wahlwahrscheinlichkeit für die Grünen an, und mehr als ein Drittel der SP-Wähler:innen kann sich ebenso gut vorstellen, die vor allem ökonomisch zentristischer positionierten Grünliberalen zu wählen. Dies unterstreicht, dass die SP primär mit der Grünen Partei und mit deutlich geringerem Ausmass mit den Grünliberalen um ähnliche Wählersegmente kämpft.

Auch diese letzte Analyse reiht sich daher schlüssig in das Bild ein, das die Befunde zu Wählerwanderungen (hier dann ein Link : siehe Policy Brief zur Wählerstruktur) und zu Wählerpotenzialen in diesem kurzen Policy Brief ergeben: die langfristigen vergangenen Trends und künftigen Perspektiven zeigen, dass die Zukunft der Sozialdemokratie in der Schweiz sich im ökonomisch und vor allem gesellschaftspolitisch progressiven Wählersegment entscheidet.


Hinweis: Der vorliegende Beitrag beruht auf dem Policy Brief “Das Wählerpotenzial der Schweizer Sozialdemokratie“, herausgegeben von der Anny-Klawa-Morf Stiftung Bern. Es handelt sich dabei um eine Zusammenstellung wichtigster Erkenntnisse aus dem soeben im NZZ Libro erschienenen Werk.

Referenz

Bild: Universität Zürich, © Ursula Meisser