Kann ziviler Ungehorsam in Zeiten einer Pandemie moralisch gerechtfertigt sein?

Die Pan­de­mie hat­te eine spal­ten­de Wir­kung auf die Bezie­hung zwi­schen den Bürger:innen und ihrer Regie­rung. So set­zen eini­ge die Maß­nah­men ihrer Regie­rung per­fekt um und bedau­ern sogar, dass sie zu spät durch­ge­setzt wur­den, wäh­rend ande­re der Ansicht sind, dass der Staat die Gren­zen sei­ner Macht über­schrei­tet, indem er im Namen der kol­lek­ti­ven Gesund­heit die indi­vi­du­el­len Frei­hei­ten ein­schränkt. Die­ser Arti­kel unter­sucht und bewer­tet eine beson­de­re Form der Bezie­hung zwi­schen dem Staat und sei­nen Bürger:innen im Zusam­men­hang mit der COVID-19-Pan­de­mie, näm­lich den Gehor­sam gegen­über dem Gesetz und sein damit ver­bun­de­nes Recht auf Pro­test durch zivi­len Ungehorsam.

Kon­trak­tua­lis­ti­sche Moraltheorie 

Ein­schrän­ken­de Mass­nah­men im Zuge der Pan­de­mie wer­den nicht ein­fach mit prag­ma­ti­schen und sach­li­chen Ele­men­ten oder dem Appell an eine vage Vor­stel­lung von öffent­li­cher Sicher­heit gerecht­fer­tigt. Da die­se Maß­nah­men not­wen­di­ger­wei­se eine wesent­li­che Ein­schrän­kung von Grund­rech­ten wie der Bewegungs‑, Ver­ei­ni­gungs- oder Ver­samm­lungs­frei­heit mit sich brin­gen, müs­sen sie im Hin­blick auf ein ande­res ent­spre­chen­des mora­li­sches Grund­recht gerecht­fer­tigt wer­den. Mit ande­ren Wor­ten: Es muss gezeigt wer­den, dass es hin­rei­chend star­ke mora­li­sche Grün­de gibt, wel­che die ein­schrän­ken­den Mass­nah­men, wel­che wie­der­um die Bewe­gungs­frei­heit begren­zen, recht­fer­ti­gen. Die kon­trak­tua­lis­ti­sche Moral­theo­rie hilft dabei, die­se Recht­fer­ti­gung zu konkretisieren.

Die kon­trak­tua­lis­ti­sche Theo­rie hilft uns, die mora­li­sche Grund­la­ge für ein­schrän­ken­de Maß­nah­men als eine Rei­he von Bezie­hun­gen zwi­schen den Rech­ten und Pflich­ten eines jeden, einer jeden und den Rech­ten und Pflich­ten ande­rer zu begrei­fen – wobei die­se Rech­te und Pflich­ten unter Bedin­gun­gen des gegen­sei­ti­gen Ein­ver­neh­mens klar defi­niert wur­den. Der Kon­trak­tua­lis­mus besagt, dass eine Hand­lung als schlecht zu betrach­ten ist, wenn sie ver­nünf­ti­ger­wei­se auf­grund von Prin­zi­pi­en ver­bo­ten wer­den kann, zu denen freie und infor­mier­te Bürger:innen durch einen Pro­zess der all­ge­mei­nen Über­ein­kunft gelangt sind (Scan­lon, 1998). Im Fall der COVID-19-Pan­de­mie zeigt sich also, dass die von der Pan­de­mie­po­li­tik geför­der­ten Hand­lun­gen, zu Hau­se zu blei­ben und die Bewe­gungs­frei­heit ein­zu­schrän­ken, gleich­zei­tig die nega­ti­ve Pflicht, kei­nen Scha­den anzu­rich­ten, der die Gesund­heit ande­rer Indi­vi­du­en gefähr­det, und die posi­ti­ve Pflicht, Hil­fe zu leis­ten, erfül­len. Es ist zu beto­nen, dass der in die­ser Situa­ti­on ver­ur­sach­te Scha­den direkt oder indi­rekt sein kann. Direkt ist er, wenn eine Per­son durch fahr­läs­si­ges Han­deln eine ande­re Per­son infi­ziert, was zu einer Ver­schlech­te­rung der Gesund­heit die­ser Per­son füh­ren kann. Indi­rekt ist es, wenn die­se Per­son durch die­sel­ben fahr­läs­si­gen Hand­lun­gen eine ande­re Per­son infi­ziert, die schließ­lich zur Behand­lung ins Kran­ken­haus ein­ge­lie­fert wird, wodurch die Res­sour­cen des Gesund­heits­sys­tems erschöpft wer­den und ande­ren Men­schen, die eine Behand­lung benö­ti­gen, mög­li­cher­wei­se der Zugang dazu ver­wehrt wird. Das Recht auf Gesund­heit umfasst im Zusam­men­hang mit der aktu­el­len Pan­de­mie not­wen­di­ger­wei­se das Recht, nicht infi­ziert zu wer­den, und nach der kon­trak­tua­lis­ti­schen Theo­rie auch die Pflicht, ande­re nicht zu infi­zie­ren. Da man ver­nünf­ti­ger­wei­se davon aus­ge­hen kann, dass freie und infor­mier­te Bürger:innen eine all­ge­mei­ne Über­ein­kunft über den Grund­satz der Auf­recht­erhal­tung einer guten Gesund­heit tref­fen wer­den, und dass es der Auf­recht­erhal­tung einer guten Gesund­heit zuwi­der­läuft, infi­ziert zu wer­den, folgt dar­aus, dass sie auch eine all­ge­mei­ne Über­ein­kunft über den Grund­satz der Nicht-Infek­ti­on tref­fen sollten.

Klä­rung des Kon­zepts des zivi­len Ungehorsams

Zivi­ler Unge­hor­sam kann als “Nicht­über­ein­stim­mung” mit dem, was von uns als Bürger:in erwar­tet wird, ver­stan­den wer­den (Brown­lee, 2012, S. 104). In einer demo­kra­ti­schen Gesell­schaft unter­lie­gen die Bürger:innen Geset­zen, die ihre Bezie­hung zum Staat und ihren Mitbürger:innen regeln. Wenn man der fes­ten Über­zeu­gung ist, dass ein Gesetz unge­recht ist und die zustän­di­gen Behör­den es über­ar­bei­ten soll­ten, ist zivi­ler Unge­hor­sam also eine Mög­lich­keit, sei­ne Beden­ken zum Aus­druck zu brin­gen. Wenn also eine Per­son ein Gesetz (egal wel­ches) miss­ach­tet, han­delt sie so, wie man es von ihr nicht erwar­tet: Sie hält sich nicht an die Regeln. Durch ihren zivi­len Unge­hor­sam infor­miert sie ande­re über ihre Unzu­frie­den­heit und distan­ziert sich außer­dem von einem Gesetz, einer Poli­tik oder einem Ereig­nis (Brown­lee, 2012, S. 104). Brown­lees Ansatz zum zivi­len Unge­hor­sam ermög­licht somit den Auf­bau eines soli­den theo­re­ti­schen Appa­rats, indem er den zivi­len Unge­hor­sam als bewuss­ten und kom­mu­ni­ka­ti­ven Akt dar­stellt (Brown­lee, 2004, 2012). Sein Ansatz hebt zwei grund­le­gen­de Ele­men­te des zivi­len Unge­hor­sams her­vor: Gewis­sen­haf­tig­keit und Kom­mu­ni­ka­ti­on. Auf der einen Sei­te ist Gewis­sen­haf­tig­keit eine Hal­tung, die sich durch Auf­rich­tig­keit und Ernst­haf­tig­keit aus­zeich­net. Man han­delt gewis­sen­haft, wenn man auf­rich­tig und ernst­haft in sei­nem Enga­ge­ment oder sei­nen Über­zeu­gun­gen ist (Brown­lee, 2004, 2012, S. 16n2). Auf der ande­ren Sei­te beweist laut Brown­lee die Per­son, die ihren Ein­wand offen bekun­det, indem sie gegen das Gesetz ver­stößt, in Wirk­lich­keit eine mora­li­sche Über­ein­stim­mung mit ihren Ver­pflich­tun­gen. Das Haupt­in­ter­es­se der Kom­mu­ni­ka­ti­on besteht zunächst dar­in, ein Gesetz zu ver­ur­tei­len und sich davon zu distan­zie­ren, und dann sein Publi­kum (sei es das Par­la­ment, die Uni­ver­si­tät, Wis­sen­schaft­ler oder die Gesell­schaft als Gan­zes) in ein Gespräch über den Dis­sens zu ver­wi­ckeln (Brown­lee, 2004, 2007).

Um die Recht­fer­ti­gung einer Hand­lung des zivi­len Unge­hor­sams zu bewer­ten, wer­den wir ihre Ver­hält­nis­mä­ßig­keit unter­su­chen, die als Ver­hält­nis zwi­schen den Mit­teln des Pro­tests und ihrem anschlie­ßen­den Scha­den ver­stan­den wird. Die­se Kon­zep­te sind teil­wei­se aus Brown­lees Ansatz ent­nom­men und bezie­hen sich weit­ge­hend auf die kon­trak­tua­lis­ti­sche Theo­rie. Wir argu­men­tie­ren, dass das, was eine Hand­lung des zivi­len Unge­hor­sams mora­lisch ver­tret­bar macht, die Tat­sa­che ist, dass die Mit­tel des Pro­tests ange­mes­sen und nicht über­trie­ben sind und dass sie ein Mini­mum an Scha­den für ande­re mit sich brin­gen. Da wir davon aus­ge­hen, dass Unge­hor­sa­me legi­ti­me und ver­tret­ba­re Anlie­gen haben, schla­gen wir vor, die Gesamt­ver­hält­nis­mä­ßig­keit ihrer For­de­run­gen, ver­stan­den als ver­nünf­ti­ge und ange­mes­se­ne Ver­wen­dung von Mit­teln und Scha­den, zu bewer­ten, um fest­zu­stel­len, ob ihre Hand­lung mora­lisch gerecht­fer­tigt ist oder nicht.

Zwei Fäl­le, die den zivi­len Unge­hor­sam in Zei­ten einer Pan­de­mie veranschaulichen

Der Unge­hor­sam der Beschäf­tig­ten im Gesundheitswesen

Es gibt angeb­lich kei­ne Hier­ar­chie zwi­schen den als sys­tem­re­le­vant ange­se­he­nen Arbeitnehmer:innen. Den­noch scheint die Wei­ge­rung einer Gesund­heits­fach­kraft, auf­grund eines unzu­rei­chen­den kli­ni­schen Umfelds zur Arbeit zu gehen, pro­ble­ma­ti­scher zu sein als die Wei­ge­rung einer ande­ren sys­tem­re­le­van­ten Arbeitnehmer:in, aus dem­sel­ben Grund zur Arbeit zu gehen. Tat­säch­lich besit­zen Gesund­heits­fach­kräf­te zusätz­lich zu allen all­ge­mei­nen Pflich­ten, die von den Bürger:innen erfüllt wer­den müs­sen, auf­grund ihres Berufs eine zusätz­li­che Pflicht zur Pfle­ge (duty to care) gegen­über den Patient:innen (auch Behand­lungs­pflicht (duty to tre­at) genannt) (Clark, 2005). Gemäß der Idee der «mul­ti­plen Agen­ti­vi­tät» sind Gesund­heits­fach­kräf­te jedoch nicht nur Gesund­heits­fach­kräf­te, son­dern auch gewöhn­li­che Bürger:innen mit eige­nen Rech­ten und Pflich­ten gegen­über ande­ren, ein­schließ­lich z. B. ihrer eige­nen Fami­lie und Ange­hö­ri­gen (Dwy­er & Tsai, 2008). Die Pflicht zur Pfle­ge ist kom­ple­men­tär, aber nicht über­ge­ord­net und kann nicht den grund­le­gen­den poli­ti­schen und mora­li­schen Rech­ten wider­spre­chen, die Gesund­heits­fach­kräf­ten als Bürger:innen zuste­hen. Schließ­lich sind sie Teil der all­ge­mei­nen Ver­ein­ba­rung, von der wir zuvor gespro­chen haben. Daher gilt der Ein­schlie­ßungs­grund­satz für Gesund­heits­fach­kräf­te in glei­cher Wei­se wie für ande­re Bürger:innen. Dar­aus folgt natür­lich, dass sie, da Gesund­heits­fach­kräf­te die glei­chen grund­le­gen­den Rech­te und Pflich­ten wie ande­re Bürger:innen besit­zen und das mora­li­sche Recht auf poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on eines die­ser Rech­te ist, auch ihr mora­li­sches Recht auf zivi­len Unge­hor­sam wie jeder ande­re Bürger:in aus­üben kön­nen. So wie Gesund­heits­fach­kräf­te immer ihr Streik­recht behal­ten (Chi­ma, 2013), ist das mora­li­sche Recht auf zivi­len Unge­hor­sam eine Art von Recht, das ihnen nicht genom­men wer­den kann. Wie wir gezeigt haben, ist die Pflicht zur Gesund­heits­ver­sor­gung in der Tat nicht abso­lut, son­dern pro tan­to. Eine Ärz­tin oder ein Arzt hat zwar eine Für­sor­ge­pflicht gegen­über sei­nen Patient:innen, aber die­se Pflicht bedeu­tet nicht, dass er oder sie ihnen bei­spiels­wei­se eine Nie­re spen­den muss, um sein oder ihr Wohl­be­fin­den zu ver­bes­sern (Sokol, 2006). Es gibt also auf den ers­ten Blick kei­ne Unver­ein­bar­keit zwi­schen der Pflicht zur Pfle­ge und dem Akt des Unge­hor­sams durch das spe­zi­fi­sche Mit­tel der Wei­ge­rung, zur Arbeit zu gehen.

Wie wir fest­ge­stellt haben, müs­sen Gesund­heits­fach­kräf­te den Grund­satz der Ein­däm­mung wie jeder ande­re Bürger:in respek­tie­ren. Unter unan­ge­mes­se­nen Arbeits­be­din­gun­gen gehen die Grün­de, war­um eine Gesund­heits­fach­kraft nicht zur Arbeit geht, über sein/ihr rei­nes Eigen­in­ter­es­se hin­aus. Viel­mehr umfas­sen die­se auch Inter­es­sen am Wohl­erge­hen der Patient:innen, die nicht unbe­dingt an COVID-19 erkrankt sind und daher Gefahr lau­fen wür­den, sich zu infi­zie­ren. Es liegt auch im Inter­es­se der Öffent­lich­keit, ins­be­son­de­re in Zei­ten einer Pan­de­mie, dass Gesund­heits­fach­kräf­te so gesund wie mög­lich gehal­ten wer­den. Die Pro­tes­te gegen den Man­gel an ange­mes­se­ner Aus­rüs­tung sol­len ver­hin­dern, dass dies geschieht. Sie sol­len auch das Recht auf Gesund­heit der Ange­hö­ri­gen der Gesund­heits­be­ru­fe schüt­zen und gleich­zei­tig sicher­stel­len, dass sie ihre Für­sor­ge­pflicht gegen­über den Patient:innen sau­ber erfül­len kön­nen und sie nicht durch ihre blo­ße Anwe­sen­heit auf­grund einer unzu­rei­chen­den kli­ni­schen Umge­bung gefährden.

Der Unge­hor­sam gewöhn­li­cher Bürger:innen

Betrach­ten wir nun den Fall der gewöhn­li­chen Bürger:in, die kei­ne zusätz­li­chen Pflich­ten auf­grund ihrer beruf­li­chen Tätig­keit haben. Man­che sind der Ansicht, dass Ein­schrän­kun­gen ver­fas­sungs­wid­rig sind und dass sie tat­säch­lich eine Ent­schul­di­gung für den Staat sein kön­nen, um die Bevöl­ke­rung bes­ser zu kon­trol­lie­ren. Stel­len wir uns fol­gen­den Fall vor: Vor einem Par­la­ment fin­det eine Demons­tra­ti­on statt, und etwa 150 Per­so­nen ver­sam­meln sich auf dem Platz. Die sozia­le Distanz sowie das Tra­gen von Mas­ken wer­den nicht ein­ge­hal­ten. Die Demonstrant:innen bewer­ten die­se außer­ge­wöhn­li­chen und zeit­lich begrenz­ten Pan­de­mie­maß­nah­men daher nach ihren eige­nen Wer­ten und kom­men zu dem Schluss, dass man sich nicht an die­se Maß­nah­men hal­ten soll­te. Um ihre Ableh­nung zum Aus­druck zu brin­gen, ver­sto­ßen sie direkt gegen die Pflicht, zu Hau­se zu blei­ben, und miss­ach­ten dar­über hin­aus die damit ver­bun­de­nen Sicher­heits­maß­nah­men, wie z. B. die sozia­le Distan­zie­rung. Eini­ge der Demonstrant:innen wer­den fest­ge­nom­menoder zu einer Geld­stra­fe ver­ur­teilt und wer­den somit für ihr Ver­hal­ten bestraft, was somit fest­legt, dass, obwohl die Ein­schlie­ßungs­maß­nah­men an sich kein eige­nes Recht dar­stel­len, sie in Bezug auf den Unge­hor­sam in die­sel­be ana­ly­ti­sche Kate­go­rie fal­len, da ihre Über­tre­tung als ille­gal ange­se­hen wird. Die Wahl des Stand­orts vor dem Gebäu­de des Kom­mu­nal­par­la­ments macht deut­lich, dass sie den Gesetz­ge­ber und die poli­ti­schen Entscheidungsträger:innen auf­for­dern, ihre Ent­schei­dung zu über­den­ken. Die Ver­wen­dung von Schil­dern mit kur­zen Sät­zen ist eben­falls Teil der Per­for­mance, und sie fas­sen die For­de­run­gen auf sehr direk­te Wei­se zusam­men. Gleich­zei­tig stel­len die Bericht­erstat­tung in den Medi­en sowie die Nach­rich­ten in den sozia­len Medi­en sicher, dass die Demonstrant:innen mit ihrer Bot­schaft ver­schie­de­ne Ziel­grup­pen erreichen.

Die Demonstrant:innen ver­sto­ßen nicht nur gegen das Ver­bot und kom­mu­ni­zie­ren ihre Urtei­le, son­dern sie ver­sto­ßen auch gegen den Grund­satz der Ein­däm­mung. Zu beach­ten ist, dass die­ser Man­gel an Ver­hält­nis­mä­ßig­keit nicht bedeu­tet, dass die Grün­de für ihre Hand­lun­gen ille­gi­tim oder ungül­tig sind, son­dern viel­mehr, dass die ein­ge­setz­ten Pro­test­mit­tel im Ver­gleich zu die­sen Grün­den eine zu gro­ße Bedro­hung für ande­re dar­stel­len. Indem sie die Sicher­heits­maß­nah­men nicht anwen­den, brin­gen sich die Demonstrant:innen nicht nur selbst in Gefahr (was nicht pro­ble­ma­tisch ist, da dies als Teil der Auf­rich­tig­keit ihres Enga­ge­ments ver­stan­den wer­den kann), son­dern gefähr­den auch ande­re Bürger:innen. In die­sem Sin­ne zeigt der Unge­hor­sam gegen­über Sicher­heits­maß­nah­men eine Dis­kre­panz zum Recht auf Gesund­heit, von dem wir anneh­men, dass es sich um eine mora­li­sche Norm han­delt, der alle Bürger:innen unter­wor­fen sind und die sie genie­ßen soll­ten, und stellt daher ein unver­hält­nis­mä­ßi­ges Mit­tel dar. Im Gegen­satz dazu hät­ten die Demonstrant:innen im Rah­men von Sicher­heits­maß­nah­men pro­tes­tie­ren kön­nen, indem sie sich bei­spiels­wei­se in klei­nen Grup­pen ver­sam­mel­ten, dabei aber kör­per­li­chen Abstand hiel­ten und Mas­ken tru­gen. Wenn sie so gehan­delt hät­ten, wäre die Pflicht, zu Hau­se zu blei­ben, trotz­dem ver­letzt wor­den, aber ohne ande­re nicht dis­si­den­ten Bürger:innen in die Fol­gen ihres Han­delns ein­zu­be­zie­hen. Aus die­sem Grund sind wir der Ansicht, dass das ver­wen­de­te Pro­test­mit­tel nicht als ver­hält­nis­mä­ßig ange­se­hen wer­den kann, da es ande­ren Bürger:innen über­mä­ßi­gen Scha­den zufü­gen kann. Es stimmt, dass Gewalt, Nöti­gung oder Schä­di­gung in gewis­sem Maße oder um den Demonstrant:innen zu ermög­li­chen, die Auf­merk­sam­keit auf ihr Anlie­gen zu len­ken, als akzep­ta­bel ange­se­hen wur­den. Aller­dings kann, eben­falls laut Brown­lee, eine Hand­lung des zivi­len Unge­hor­sams nicht gerecht­fer­tigt wer­den, wenn sie ande­re Per­so­nen über­mä­ßi­gen Risi­ken oder nega­ti­ven Kon­se­quen­zen aus­setzt (Brown­lee, 2007). Wir kom­men daher zu dem Schluss, dass die ver­ur­sach­ten Schä­den exzes­siv sind, da sie sowohl direkt als auch indi­rekt sind, indem sie das Grund­recht der nicht dis­si­den­ten Bürger:innen auf Gesund­heit und Zugang zu medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung ernst­haft bedro­hen. Dar­über hin­aus steht die­ser beson­de­re Fall von zivi­lem Unge­hor­sam weder in einem ange­mes­se­nen Ver­hält­nis zu sei­nen Zie­len (da die Frei­hei­ten zu einem bestimm­ten Zeit­punkt wie­der­erlangt wer­den) noch zu dem Gesetz, des­sen Über­ar­bei­tung gefor­dert wird (das zeit­lich begrenzt ist und die Wah­rung ande­rer Grund­frei­hei­ten för­dert). Folg­lich kann die­se beson­de­re Hand­lung des zivi­len Unge­hor­sams nicht mora­lisch gerecht­fer­tigt werden.

Biblio­gra­phie

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Refe­renz:

Del­la Cro­ce, Yoann, Nico­le-Ber­va, Ophe­lia. Civil Dis­obe­dience in Times of Pan­de­mic: Cla­ri­fy­ing Rights and Duties. Cri­mi­nal Law, Phi­lo­so­phy (2021). https://doi-org.eui.idm.oclc.org/10.1007/s11572-021–09592‑7

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