Verfassungsreform im Wallis: Ein Proporz mit Sitzgarantie für den Walliser Staatsrat?

Im Wal­lis wird eine Ver­fas­sungs­re­form dis­ku­tiert. Sie sieht zwei gros­se Ände­run­gen vor: Die Anzahl Sit­ze in der Kan­tons­re­gie­rung wird von fünf auf sie­ben erhöht und die Mit­glie­der sol­len neu mit­tels Pro­porz­sys­tem bestimmt wer­den. Trotz­dem behält das Ober­wal­lis sei­ne Sitz­ga­ran­tie. Geht das über­haupt? Und was wären mög­li­che Aus­wir­kung auf die Par­tei­en und ande­re sozia­le Grup­pen? Die­sen Fra­gen geht unser Bei­trag nach.

Wenn es dar­um geht, Per­so­nen zu bestim­men, die ein offi­zi­el­les Amt mit­tels direk­ter Volks­wahl erhal­ten, ste­hen grund­sätz­li­che zwei Mög­lich­kei­ten zur Aus­wahl. Der Leit­ge­dan­ke eines pro­por­tio­na­len Wahl­sys­tems ist eine mög­lichst genaue Über­tra­gung der ver­schie­de­nen poli­ti­schen Prä­fe­ren­zen in die zu wäh­len­de Insti­tu­ti­on. Die Sitz­zu­tei­lung erfolgt in abge­stuf­ter Form zuerst an die Par­tei­en gemäss ihren Stimm­an­tei­len, allen­falls ab einer offi­zi­el­len Schwel­le von 1 (Schwyz), 3 (Neu­en­burg) oder 7 (Genf) Pro­zent aller Stim­men bei Par­la­ments­wah­len. Anschlies­send wer­den die so errun­ge­nen Sit­ze den Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten mit dem bes­ten Score auf den ent­spre­chen­den Lis­ten zuge­wie­sen. In der Regel reicht ein Stimm­an­teil von 100% geteilt durch die Anzahl Sit­ze eines Wahl­krei­ses plus 1 (effek­ti­ve Hür­de oder «natür­li­ches Quorum»).

Die Grund­idee des Mehr­heits­wahl­sys­tems hin­ge­gen ist das Her­vor­brin­gen kla­rer Sie­ge­rin­nen und Sie­ger. Die­se gehö­ren zwar aller­meis­tens eben­falls einer Par­tei an, wer­den aber pri­mär als Ein­zel­per­so­nen aus- oder abge­wählt. Das für die Schweiz typi­sche Mehr­heits­wahl­recht ver­langt eine abso­lu­te Mehr­heit in der ers­ten Run­de, im Wal­lis z.B. gegen­wär­tig alle gül­ti­gen Stim­men geteilt durch zwei und dann die nächst­hö­he­re gan­ze Zahl, und das ein­fa­che Mehr in einer zwei­ten Run­de. Wenn der Wal­li­ser Staats­rat – die kan­to­na­le Regie­rung – nun neu nach Pro­porz und nicht mehr nach Majorz gewählt wird, was könn­te das bedeu­ten? Und wie lies­se sich das mit der Sitz­ga­ran­tie für das Ober­wal­lis vereinen?

Proporz und Majorz in der Schweiz

Ums vor­weg­zu­neh­men: Der Pro­porz­ge­dan­ke wird umso bes­ser ver­wirk­licht, je mehr Sit­ze in einem Wahl­kreis zur Ver­tei­lung anste­hen. So gilt zwar seit 100 Jah­ren das Pro­porz­wahl­recht für fast alle Sit­ze im Natio­nal­rat – Aus­nah­men sind die gegen­wär­tig sechs Kan­to­ne mit je einem Sitz. Aber wirk­lich zum Tra­gen kommt die mög­lichst genaue Abbil­dung der poli­ti­schen Viel­falt nur in den gros­sen Kan­to­nen. In sei­ner Beur­tei­lung von kan­to­na­len Wahl­sys­te­men hat das Bun­des­ge­richt die Faust­re­gel von 10% auf­ge­stellt (Lutz 2016). Das heisst, dass über­all dort, wo weni­ger als 9 Sit­ze ver­teilt wer­den, der Pro­porz sich nicht wirk­lich ent­fal­tet. Ange­wen­det auf die Natio­nal­rats­wah­len vom Herbst 2019 hies­se das, dass nur die sie­ben gröss­ten Kan­to­ne (ZH, BE, VD, AG, GE, SG und LU) die­ses Kri­te­ri­um erfüll­ten (Abbil­dung 1).

Daten: BFS

Auch 21 – mit Grau­bün­den bald 22 – von 26 kan­to­na­len Par­la­men­te wer­den durch Pro­porz­wah­len bestimmt; in Genf, Neu­en­burg und im Tes­sin ist dabei gar der gan­ze Kan­ton ein ein­zi­ger Wahl­kreis. Ein­zig Appen­zell-Inner­rho­den nutzt den Majorz; Uri, Basel-Stadt und Appen­zell-Aus­ser­rho­den haben Misch­sys­te­me. Das Majorz­sys­tem hin­ge­gen fin­det vor allem beim Stän­de­rat (Aus­nah­men: Jura und Neu­en­burg, wobei es eigent­lich wenig Sinn hat, von «Pro­porz» in einem 2er-Wahl­kreis zu spre­chen) sowie bei kan­to­na­len Exe­ku­ti­ven Anwen­dung. Ein­zig das Tes­sin – und bis 2013 Zug – ver­wen­det zur Aus­wahl sei­ner fünf Regie­rungs­mit­glie­der das Pro­porz­sys­tem. Und neu dann eben auch das Wal­lis, wenn es denn beim gegen­wär­ti­gen Vor­schlag des Ver­fas­sungs­ra­tes bleibt.

Mögliche Auswirkungen auf die Parteien…

Die poli­tik­wis­sen­schaft­li­che Lite­ra­tur ist sich einig, dass pro­por­tio­na­le Sys­tem die Par­tei­en­viel­falt för­dern. Dies vor allem des­we­gen, weil es auf der Sei­te der poli­ti­schen Eli­te ein­fa­cher ist, mit einer neu­en Par­tei schnell ein, zwei Sit­ze zu ergat­tern und dar­auf auf­bau­end zu wach­sen. Auch für Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler fal­len im Pro­porz­sys­tem in der Regel weni­ger ver­schwen­de­te Stim­men an, will heis­sen Stim­men für eine Par­tei oder Kan­di­da­tin wel­che dann trotz­dem nichts gewinnt. Das wie­der­um för­dert die Teil­nah­me und die Ver­tre­tung von poli­ti­schen und ande­ren Min­der­hei­ten. Wie gesagt ist aber die Wir­kung all die­ser Ein­flüs­se stark von der Anzahl zu ver­tei­len­der Sit­ze pro Wahl­kreis abhän­gig. Mit ande­ren Wor­ten: Die erwünsch­ten Aus­wir­kun­gen des Pro­por­zes sind vor allem bei Par­la­ments­wah­len in gros­sen Wahl­krei­sen ersicht­lich. Bei kan­to­na­len Regie­rungs­rats­wah­len mit zwi­schen fünf und sie­ben Mit­glie­dern wäre das kaum der Fall.

Ande­rer­seits gilt es zu beto­nen, dass auch in den 25 Majorz-Kan­to­nen die Regie­run­gen fast nie rein rech­te oder lin­ke sind: Die spe­zi­el­le Mecha­nik der Wahl – jede Kan­di­da­tin, jeder Kan­di­dat wird ein­zeln und nicht in Blö­cken gewählt – sorgt dafür, dass alle wich­ti­gen Kräf­te in der Exe­ku­ti­ve ver­tre­ten sind. Poli­to­lo­gin­nen und Poli­to­lo­gen haben dafür den Aus­druck «frei­wil­li­ger Pro­porz» gefun­den. Bloss so frei­wil­lig ist die­se Frei­wil­lig­keit nun auch wie­der nicht. Eine Par­tei, die nur eine rela­ti­ve Mehr­heit in der Wäh­ler­schaft besitzt, wür­de einen rie­si­gen Feh­ler bege­hen, wenn sie ver­such­te, die abso­lu­te Mehr­heit der Sit­ze im Regie­rungs­rat zu errin­gen. Denn wenn zu vie­le Kan­di­da­tIn­nen zur Wahl auf­ge­stellt wer­den ver­grös­sert sich das Risi­ko, dass sich die Stim­men der Par­tei­an­hän­ger­schaft zer­split­tern. So ver­such­te zum Bei­spiel die SVP im Kan­ton Bern 2006 mit vier Kan­di­da­ten einen Sitz dazu­zu­ge­win­nen und die Mehr­heit im Regie­rungs­rat zu erobern. Am Ende hat sie einen Sitz ver­lo­ren – aus­ge­rech­net an die SP.

Schliess­lich gibt es wei­te­re, im Vor­aus zu klä­ren­de Details: Dür­fen die Par­tei­en ihre Lis­ten ver­bin­den, um so ihre Chan­cen auf einen Sitz zu erhö­hen, weil je nach genau­er Berech­nung gros­se Blö­cke bevor­teilt wer­den? Kön­nen die Wäh­le­rin­nen strei­chen, pana­schie­ren und kumu­lie­ren, wie das bei den Natio­nal­rats­wah­len erlaubt ist? Wenn nun genau die­ses Regeln auch für die nächs­ten Wal­li­ser Staats­rats­wah­len zur Anwen­dung kämen und die Wäh­le­rin­nen gleich stimm­ten (was alles ande­re als sicher ist), wür­de des­sen Zusam­men­set­zung wohl stark der aktu­el­len Natio­nal­rats­de­le­ga­ti­on mit 8 Sit­zen glei­chen (Abbil­dung 2). Somit wür­den die lin­ken und rech­ten Pole gewin­nen und die C‑Parteien sowie die FDP an Sitz­an­tei­len ver­lie­ren. Wären damit aller­dings Lin­ke und C‑Parteien ziem­lich genau ihrer Stär­ke im Wal­li­ser Gross­rat ent­spre­chend ver­tre­ten, wür­de die SVP zu stark und die FDP zu schwach.

Abbildung 2: Sitzanteil nach Parteien, Sprachen und Geschlecht im Wallis, 2019–21

Daten: BFS & Kan­ton Wallis

…und andere Gruppen

Auch für zwei ande­re Arten von Grup­pen, die deutsch­spra­chi­ge Min­der­heit und Frau­en, las­sen sich unter­schied­li­che Erwar­tun­gen ablei­ten, wenn die ver­gan­ge­nen Wah­len als Mass­stab genom­men wer­den. Gegen­wär­tig sind Deutsch­spra­chi­ge mit zwei von fünf Sit­zen in der Regie­rung über‑, die Frau­en hin­ge­gen gar nicht ver­tre­ten. Die Anwen­dung des Pro­porz­sys­tems könn­te somit den Deutsch­spra­chi­gen zum Nach­teil gerei­chen, wenn es dar­um geht, die tat­säch­li­chen Mehr­heits­ver­hält­nis­se mög­lichst genau abzu­bil­den. Den Frau­en wie­der­um ver­spricht der Pro­porz im bes­ten Fall einen Sprung von 0 auf 35%, wie in den letz­ten kan­to­na­len Par­la­ments­wah­len (sie­he Abb. 2; Schwei­zer Durch­schnitt: 31%), oder das Ver­har­ren bei 0, wie in der gegen­wär­ti­gen Wal­li­ser Natio­nal­rats­de­le­ga­ti­on, im schlimms­ten. Auch die Tes­si­ner Regie­rung ist übri­gens seit 2015 (wie auch vor 1995) 100% männ­lich – trotz des Proporzes.

Para­do­xer­wei­se sieht nun aber der aktu­el­le Ver­fas­sungs­ent­wurf durch­aus eine regio­na­le und de fac­to Sprach‑, aber kei­ne Geschlech­ter­quo­te vor. So soll wei­ter­hin je ein Mit­glied des Staats­ra­tes aus dem Ober- (neue Regio­nen Brig und Visp), Mit­tel- (Siders und Sit­ten) und Unter­wal­lis (Mar­ti­n­ach und Mon­they) kom­men. Wie heu­te hät­ten Deutsch­spra­chi­ge also zumin­dest einen Sitz auf sicher – aber eben nur von ins­ge­samt sie­ben, nicht fünf. Was zudem hier nicht beach­tet wird ist der Umstand, dass zwar «aus den Stimm­be­rech­tig­ten» des Ober­wal­lis aus­ge­wählt wird, aber nicht unbe­dingt von ihnen. Rein theo­re­tisch könn­te die fran­zö­sisch­spra­chi­ge Mehr­heit der deutsch­spra­chi­gen Min­der­heit also eine Ver­tre­tung aufdrücken.

So gesche­hen 1986 im Kan­ton Bern, wenn auch mit ver­tausch­ten Rol­len: Obwohl Geneviè­ve Aubry im fran­zö­sisch­spra­chi­gen Ber­ner Jura knapp dop­pelt so vie­le Stim­men wie Ben­ja­min Hof­stet­ter erhielt, errang letz­te­rer den garan­tier­ten Regie­rungs­rats­sitz – den Stim­men aus dem deutsch­spra­chi­gen Rest des Kan­tons sei Dank. Als Fol­ge davon wur­de eine neue Berech­nungs­me­tho­de, das geo­me­tri­sche Mit­tel, ein­ge­führt. Die­se Metho­de gewich­tet die Stim­men aus dem Ber­ner Jura höher.

Abbildung 3: Simulation Proporzwahl eines 7er-Gremiums mit regionaler Sitzgarantie

Wie sich ein garan­tier­ter Sitz für eine Per­son aller­dings mit dem pri­mär auf Par­tei­en aus­ge­rich­te­ten Pro­porz­wahl­sys­tem ver­bin­den lies­se, ist eine kom­ple­xe Fra­ge. Eine ein­fa­che Lösung wäre, das Pana­schie­ren zu unter­sa­gen, so dass Wäh­le­rin­nen ihre Prä­fe­renz­stim­men nur an die Kan­di­da­tin­nen einer Par­tei­lis­te ver­tei­len dür­fen. So könn­ten dann zum Bei­spiel ein­zig die Wäh­le­rIn­nen der SP Ober­wal­lis ent­schei­den, wer von den eige­nen Kan­di­da­tIn­nen – wenn über­haupt – den Sitz in der Regie­rung erhält. Zusätz­lich dazu – oder auch ande­rer­seits – könn­te jeder Par­tei­lis­te die Vor­ga­be gemacht wer­den, aus jeder der drei Regio­nen min­des­tens eineN Kan­di­da­tIn auf­zu­stel­len. Eine sol­che Per­son wür­de aller­dings nur dann von der Quo­ten­re­ge­lung pro­fi­tie­ren, wenn nach «nor­ma­ler» Zutei­lung noch Bedarf bestün­de – zum Bei­spiel auf Kos­ten jener ver­meint­lich bereits gewähl­ten Per­son aus einer dop­pelt ver­tre­ten Regi­on mit dem schlech­tes­ten per­sön­li­chen Sko­re. So wür­de die Sitz­ga­ran­tie wenigs­tens nicht dazu füh­ren, dass sich die Par­tei­en gegen­sei­tig Sit­ze am grü­nen Tisch abneh­men, son­dern die regio­na­le Umver­tei­lung fän­de – wenn über­haupt – inner­halb der (erfolg­reichs­ten) Par­tei­lis­te statt (Abb. 3). Wei­te­re Ideen nimmt die Kom­mis­si­on 8 des Wal­li­ser Ver­fas­sungs­ra­tes sicher eben­falls ger­ne ent­ge­gen – ab Som­mer 2022 steht die 2. Lesung an.


Lite­ra­tur:

 

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