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Kann ziviler Ungehorsam in Zeiten einer Pandemie moralisch gerechtfertigt sein?

Yoann Della Croce, Ophelia Nicole-Berva
24th Februar 2022

Die Pandemie hatte eine spaltende Wirkung auf die Beziehung zwischen den Bürger:innen und ihrer Regierung. So setzen einige die Maßnahmen ihrer Regierung perfekt um und bedauern sogar, dass sie zu spät durchgesetzt wurden, während andere der Ansicht sind, dass der Staat die Grenzen seiner Macht überschreitet, indem er im Namen der kollektiven Gesundheit die individuellen Freiheiten einschränkt. Dieser Artikel untersucht und bewertet eine besondere Form der Beziehung zwischen dem Staat und seinen Bürger:innen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie, nämlich den Gehorsam gegenüber dem Gesetz und sein damit verbundenes Recht auf Protest durch zivilen Ungehorsam.

Kontraktualistische Moraltheorie

Einschränkende Massnahmen im Zuge der Pandemie werden nicht einfach mit pragmatischen und sachlichen Elementen oder dem Appell an eine vage Vorstellung von öffentlicher Sicherheit gerechtfertigt. Da diese Maßnahmen notwendigerweise eine wesentliche Einschränkung von Grundrechten wie der Bewegungs-, Vereinigungs- oder Versammlungsfreiheit mit sich bringen, müssen sie im Hinblick auf ein anderes entsprechendes moralisches Grundrecht gerechtfertigt werden. Mit anderen Worten: Es muss gezeigt werden, dass es hinreichend starke moralische Gründe gibt, welche die einschränkenden Massnahmen, welche wiederum die Bewegungsfreiheit begrenzen, rechtfertigen. Die kontraktualistische Moraltheorie hilft dabei, diese Rechtfertigung zu konkretisieren.

Die kontraktualistische Theorie hilft uns, die moralische Grundlage für einschränkende Maßnahmen als eine Reihe von Beziehungen zwischen den Rechten und Pflichten eines jeden, einer jeden und den Rechten und Pflichten anderer zu begreifen – wobei diese Rechte und Pflichten unter Bedingungen des gegenseitigen Einvernehmens klar definiert wurden. Der Kontraktualismus besagt, dass eine Handlung als schlecht zu betrachten ist, wenn sie vernünftigerweise aufgrund von Prinzipien verboten werden kann, zu denen freie und informierte Bürger:innen durch einen Prozess der allgemeinen Übereinkunft gelangt sind (Scanlon, 1998). Im Fall der COVID-19-Pandemie zeigt sich also, dass die von der Pandemiepolitik geförderten Handlungen, zu Hause zu bleiben und die Bewegungsfreiheit einzuschränken, gleichzeitig die negative Pflicht, keinen Schaden anzurichten, der die Gesundheit anderer Individuen gefährdet, und die positive Pflicht, Hilfe zu leisten, erfüllen. Es ist zu betonen, dass der in dieser Situation verursachte Schaden direkt oder indirekt sein kann. Direkt ist er, wenn eine Person durch fahrlässiges Handeln eine andere Person infiziert, was zu einer Verschlechterung der Gesundheit dieser Person führen kann. Indirekt ist es, wenn diese Person durch dieselben fahrlässigen Handlungen eine andere Person infiziert, die schließlich zur Behandlung ins Krankenhaus eingeliefert wird, wodurch die Ressourcen des Gesundheitssystems erschöpft werden und anderen Menschen, die eine Behandlung benötigen, möglicherweise der Zugang dazu verwehrt wird. Das Recht auf Gesundheit umfasst im Zusammenhang mit der aktuellen Pandemie notwendigerweise das Recht, nicht infiziert zu werden, und nach der kontraktualistischen Theorie auch die Pflicht, andere nicht zu infizieren. Da man vernünftigerweise davon ausgehen kann, dass freie und informierte Bürger:innen eine allgemeine Übereinkunft über den Grundsatz der Aufrechterhaltung einer guten Gesundheit treffen werden, und dass es der Aufrechterhaltung einer guten Gesundheit zuwiderläuft, infiziert zu werden, folgt daraus, dass sie auch eine allgemeine Übereinkunft über den Grundsatz der Nicht-Infektion treffen sollten.

Klärung des Konzepts des zivilen Ungehorsams

Ziviler Ungehorsam kann als "Nichtübereinstimmung" mit dem, was von uns als Bürger:in erwartet wird, verstanden werden (Brownlee, 2012, S. 104). In einer demokratischen Gesellschaft unterliegen die Bürger:innen Gesetzen, die ihre Beziehung zum Staat und ihren Mitbürger:innen regeln. Wenn man der festen Überzeugung ist, dass ein Gesetz ungerecht ist und die zuständigen Behörden es überarbeiten sollten, ist ziviler Ungehorsam also eine Möglichkeit, seine Bedenken zum Ausdruck zu bringen. Wenn also eine Person ein Gesetz (egal welches) missachtet, handelt sie so, wie man es von ihr nicht erwartet: Sie hält sich nicht an die Regeln. Durch ihren zivilen Ungehorsam informiert sie andere über ihre Unzufriedenheit und distanziert sich außerdem von einem Gesetz, einer Politik oder einem Ereignis (Brownlee, 2012, S. 104). Brownlees Ansatz zum zivilen Ungehorsam ermöglicht somit den Aufbau eines soliden theoretischen Apparats, indem er den zivilen Ungehorsam als bewussten und kommunikativen Akt darstellt (Brownlee, 2004, 2012). Sein Ansatz hebt zwei grundlegende Elemente des zivilen Ungehorsams hervor: Gewissenhaftigkeit und Kommunikation. Auf der einen Seite ist Gewissenhaftigkeit eine Haltung, die sich durch Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit auszeichnet. Man handelt gewissenhaft, wenn man aufrichtig und ernsthaft in seinem Engagement oder seinen Überzeugungen ist (Brownlee, 2004, 2012, S. 16n2). Auf der anderen Seite beweist laut Brownlee die Person, die ihren Einwand offen bekundet, indem sie gegen das Gesetz verstößt, in Wirklichkeit eine moralische Übereinstimmung mit ihren Verpflichtungen. Das Hauptinteresse der Kommunikation besteht zunächst darin, ein Gesetz zu verurteilen und sich davon zu distanzieren, und dann sein Publikum (sei es das Parlament, die Universität, Wissenschaftler oder die Gesellschaft als Ganzes) in ein Gespräch über den Dissens zu verwickeln (Brownlee, 2004, 2007).

Um die Rechtfertigung einer Handlung des zivilen Ungehorsams zu bewerten, werden wir ihre Verhältnismäßigkeit untersuchen, die als Verhältnis zwischen den Mitteln des Protests und ihrem anschließenden Schaden verstanden wird. Diese Konzepte sind teilweise aus Brownlees Ansatz entnommen und beziehen sich weitgehend auf die kontraktualistische Theorie. Wir argumentieren, dass das, was eine Handlung des zivilen Ungehorsams moralisch vertretbar macht, die Tatsache ist, dass die Mittel des Protests angemessen und nicht übertrieben sind und dass sie ein Minimum an Schaden für andere mit sich bringen. Da wir davon ausgehen, dass Ungehorsame legitime und vertretbare Anliegen haben, schlagen wir vor, die Gesamtverhältnismäßigkeit ihrer Forderungen, verstanden als vernünftige und angemessene Verwendung von Mitteln und Schaden, zu bewerten, um festzustellen, ob ihre Handlung moralisch gerechtfertigt ist oder nicht.

Zwei Fälle, die den zivilen Ungehorsam in Zeiten einer Pandemie veranschaulichen

Der Ungehorsam der Beschäftigten im Gesundheitswesen

Es gibt angeblich keine Hierarchie zwischen den als systemrelevant angesehenen Arbeitnehmer:innen. Dennoch scheint die Weigerung einer Gesundheitsfachkraft, aufgrund eines unzureichenden klinischen Umfelds zur Arbeit zu gehen, problematischer zu sein als die Weigerung einer anderen systemrelevanten Arbeitnehmer:in, aus demselben Grund zur Arbeit zu gehen. Tatsächlich besitzen Gesundheitsfachkräfte zusätzlich zu allen allgemeinen Pflichten, die von den Bürger:innen erfüllt werden müssen, aufgrund ihres Berufs eine zusätzliche Pflicht zur Pflege (duty to care) gegenüber den Patient:innen (auch Behandlungspflicht (duty to treat) genannt) (Clark, 2005). Gemäß der Idee der «multiplen Agentivität» sind Gesundheitsfachkräfte jedoch nicht nur Gesundheitsfachkräfte, sondern auch gewöhnliche Bürger:innen mit eigenen Rechten und Pflichten gegenüber anderen, einschließlich z. B. ihrer eigenen Familie und Angehörigen (Dwyer & Tsai, 2008). Die Pflicht zur Pflege ist komplementär, aber nicht übergeordnet und kann nicht den grundlegenden politischen und moralischen Rechten widersprechen, die Gesundheitsfachkräften als Bürger:innen zustehen. Schließlich sind sie Teil der allgemeinen Vereinbarung, von der wir zuvor gesprochen haben. Daher gilt der Einschließungsgrundsatz für Gesundheitsfachkräfte in gleicher Weise wie für andere Bürger:innen. Daraus folgt natürlich, dass sie, da Gesundheitsfachkräfte die gleichen grundlegenden Rechte und Pflichten wie andere Bürger:innen besitzen und das moralische Recht auf politische Partizipation eines dieser Rechte ist, auch ihr moralisches Recht auf zivilen Ungehorsam wie jeder andere Bürger:in ausüben können. So wie Gesundheitsfachkräfte immer ihr Streikrecht behalten (Chima, 2013), ist das moralische Recht auf zivilen Ungehorsam eine Art von Recht, das ihnen nicht genommen werden kann. Wie wir gezeigt haben, ist die Pflicht zur Gesundheitsversorgung in der Tat nicht absolut, sondern pro tanto. Eine Ärztin oder ein Arzt hat zwar eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Patient:innen, aber diese Pflicht bedeutet nicht, dass er oder sie ihnen beispielsweise eine Niere spenden muss, um sein oder ihr Wohlbefinden zu verbessern (Sokol, 2006). Es gibt also auf den ersten Blick keine Unvereinbarkeit zwischen der Pflicht zur Pflege und dem Akt des Ungehorsams durch das spezifische Mittel der Weigerung, zur Arbeit zu gehen.

Wie wir festgestellt haben, müssen Gesundheitsfachkräfte den Grundsatz der Eindämmung wie jeder andere Bürger:in respektieren. Unter unangemessenen Arbeitsbedingungen gehen die Gründe, warum eine Gesundheitsfachkraft nicht zur Arbeit geht, über sein/ihr reines Eigeninteresse hinaus. Vielmehr umfassen diese auch Interessen am Wohlergehen der Patient:innen, die nicht unbedingt an COVID-19 erkrankt sind und daher Gefahr laufen würden, sich zu infizieren. Es liegt auch im Interesse der Öffentlichkeit, insbesondere in Zeiten einer Pandemie, dass Gesundheitsfachkräfte so gesund wie möglich gehalten werden. Die Proteste gegen den Mangel an angemessener Ausrüstung sollen verhindern, dass dies geschieht. Sie sollen auch das Recht auf Gesundheit der Angehörigen der Gesundheitsberufe schützen und gleichzeitig sicherstellen, dass sie ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Patient:innen sauber erfüllen können und sie nicht durch ihre bloße Anwesenheit aufgrund einer unzureichenden klinischen Umgebung gefährden.

Der Ungehorsam gewöhnlicher Bürger:innen

Betrachten wir nun den Fall der gewöhnlichen Bürger:in, die keine zusätzlichen Pflichten aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit haben. Manche sind der Ansicht, dass Einschränkungen verfassungswidrig sind und dass sie tatsächlich eine Entschuldigung für den Staat sein können, um die Bevölkerung besser zu kontrollieren. Stellen wir uns folgenden Fall vor: Vor einem Parlament findet eine Demonstration statt, und etwa 150 Personen versammeln sich auf dem Platz. Die soziale Distanz sowie das Tragen von Masken werden nicht eingehalten. Die Demonstrant:innen bewerten diese außergewöhnlichen und zeitlich begrenzten Pandemiemaßnahmen daher nach ihren eigenen Werten und kommen zu dem Schluss, dass man sich nicht an diese Maßnahmen halten sollte. Um ihre Ablehnung zum Ausdruck zu bringen, verstoßen sie direkt gegen die Pflicht, zu Hause zu bleiben, und missachten darüber hinaus die damit verbundenen Sicherheitsmaßnahmen, wie z. B. die soziale Distanzierung. Einige der Demonstrant:innen werden festgenommenoder zu einer Geldstrafe verurteilt und werden somit für ihr Verhalten bestraft, was somit festlegt, dass, obwohl die Einschließungsmaßnahmen an sich kein eigenes Recht darstellen, sie in Bezug auf den Ungehorsam in dieselbe analytische Kategorie fallen, da ihre Übertretung als illegal angesehen wird. Die Wahl des Standorts vor dem Gebäude des Kommunalparlaments macht deutlich, dass sie den Gesetzgeber und die politischen Entscheidungsträger:innen auffordern, ihre Entscheidung zu überdenken. Die Verwendung von Schildern mit kurzen Sätzen ist ebenfalls Teil der Performance, und sie fassen die Forderungen auf sehr direkte Weise zusammen. Gleichzeitig stellen die Berichterstattung in den Medien sowie die Nachrichten in den sozialen Medien sicher, dass die Demonstrant:innen mit ihrer Botschaft verschiedene Zielgruppen erreichen.

Die Demonstrant:innen verstoßen nicht nur gegen das Verbot und kommunizieren ihre Urteile, sondern sie verstoßen auch gegen den Grundsatz der Eindämmung. Zu beachten ist, dass dieser Mangel an Verhältnismäßigkeit nicht bedeutet, dass die Gründe für ihre Handlungen illegitim oder ungültig sind, sondern vielmehr, dass die eingesetzten Protestmittel im Vergleich zu diesen Gründen eine zu große Bedrohung für andere darstellen. Indem sie die Sicherheitsmaßnahmen nicht anwenden, bringen sich die Demonstrant:innen nicht nur selbst in Gefahr (was nicht problematisch ist, da dies als Teil der Aufrichtigkeit ihres Engagements verstanden werden kann), sondern gefährden auch andere Bürger:innen. In diesem Sinne zeigt der Ungehorsam gegenüber Sicherheitsmaßnahmen eine Diskrepanz zum Recht auf Gesundheit, von dem wir annehmen, dass es sich um eine moralische Norm handelt, der alle Bürger:innen unterworfen sind und die sie genießen sollten, und stellt daher ein unverhältnismäßiges Mittel dar. Im Gegensatz dazu hätten die Demonstrant:innen im Rahmen von Sicherheitsmaßnahmen protestieren können, indem sie sich beispielsweise in kleinen Gruppen versammelten, dabei aber körperlichen Abstand hielten und Masken trugen. Wenn sie so gehandelt hätten, wäre die Pflicht, zu Hause zu bleiben, trotzdem verletzt worden, aber ohne andere nicht dissidenten Bürger:innen in die Folgen ihres Handelns einzubeziehen. Aus diesem Grund sind wir der Ansicht, dass das verwendete Protestmittel nicht als verhältnismäßig angesehen werden kann, da es anderen Bürger:innen übermäßigen Schaden zufügen kann. Es stimmt, dass Gewalt, Nötigung oder Schädigung in gewissem Maße oder um den Demonstrant:innen zu ermöglichen, die Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu lenken, als akzeptabel angesehen wurden. Allerdings kann, ebenfalls laut Brownlee, eine Handlung des zivilen Ungehorsams nicht gerechtfertigt werden, wenn sie andere Personen übermäßigen Risiken oder negativen Konsequenzen aussetzt (Brownlee, 2007). Wir kommen daher zu dem Schluss, dass die verursachten Schäden exzessiv sind, da sie sowohl direkt als auch indirekt sind, indem sie das Grundrecht der nicht dissidenten Bürger:innen auf Gesundheit und Zugang zu medizinischer Versorgung ernsthaft bedrohen. Darüber hinaus steht dieser besondere Fall von zivilem Ungehorsam weder in einem angemessenen Verhältnis zu seinen Zielen (da die Freiheiten zu einem bestimmten Zeitpunkt wiedererlangt werden) noch zu dem Gesetz, dessen Überarbeitung gefordert wird (das zeitlich begrenzt ist und die Wahrung anderer Grundfreiheiten fördert). Folglich kann diese besondere Handlung des zivilen Ungehorsams nicht moralisch gerechtfertigt werden.

Bibliographie

Brownlee, K. (2004). Features of a Paradigm Case of Civil Disobedience. Res Publica, 10, 337–351.

Brownlee, K. (2007). The communicative aspects of civil disobedience and lawful punishment. Criminal Law and Philosophy, 1(2), 179–192. https://doi.org/10.1007/s11572-006-9015-9

Brownlee, K. (2012). Conscience and Conviction: The Case for Civil Disobedience. Oxford University Press.

Chima, S. C. (2013). Global medicine: Is it ethical or morally justifiable for doctors and other healthcare workers to go on strike? BMC Medical Ethics, 14(SUPPL.1), 1–10. https://doi.org/10.1186/1472-6939-14-S1-S5

Clark, C. (2005). In Harm’s Way: AMA Physicians and the Duty to Treat. Journal of Medicine and Philosophy, 30(1), 65–87.

Dwyer, J., & Tsai, D. F.-C. (2008). Developing the duty to treat: HIV, SARS, and the next epidemic. Journal of Medical Ethics, 34, 7–10. https://doi.org/10.1136/jme.2006.018978

Scanlon, T. M. (1998). What We Owe to Each Other. Harvard University Press.

Sokol, D. K. (2006). Virulent epidemics and scope of healthcare workers’ duty of care. Emerging Infectious Diseases, 12(8), 1238–1241. https://doi.org/10.3201/eid1208.060360

Referenz:

Della Croce, Yoann, Nicole-Berva, Ophelia. Civil Disobedience in Times of Pandemic: Clarifying Rights and Duties. Criminal Law, Philosophy (2021). https://doi-org.eui.idm.oclc.org/10.1007/s11572-021-09592-7