«Tausche Wohlstand für politischen Einfluss». Die Abwägungen der Stimmbevölkerung bei Gemeindefusionen

Gemein­de­fu­sio­nen in der Schweiz schei­tern regel­mäs­sig am Wider­stand der betrof­fe­nen Bevöl­ke­rung. Fusio­nen haben einen beson­ders schwe­ren Stand in Gemein­den, denen durch eine Fusi­on eine Erhö­hung des Steu­er­fus­ses dro­hen könn­te, oder in Gemein­den, die auf­grund einer Fusi­on mit einer grös­se­ren Gemein­de poli­ti­schen Ein­fluss ver­lie­ren könn­ten. Die­ser Bei­trag zeigt basie­rend auf einer Ana­ly­se aller Schwei­zer Gemein­de­fu­si­ons­ent­schei­de seit 1999, dass die Stimmbürger:innen bereit sind, einen poli­ti­schen Ein­fluss­ver­lust zu akzep­tie­ren, wenn sie Aus­sicht auf eine Steu­er­sen­kung haben.

Gemein­de­fu­sio­nen haben in der Schweiz nach wie vor Kon­junk­tur. Auch 2021 sind 60 Gemein­den von der poli­ti­schen Land­kar­te ver­schwun­den. Was die kon­ti­nu­ier­li­che Abnah­me der Gemein­de­zahl in den letz­ten zwei Jahr­zehn­ten jedoch ver­birgt, ist, dass längst nicht alle geplan­ten Gemein­de­fu­sio­nen auch umge­setzt wer­den. Ein Drit­tel der geplan­ten Gemein­de­fu­sio­nen seit 1999 konn­te nicht umge­setzt wer­den, weil sich die Stimm­be­völ­ke­rung min­des­tens einer der betei­lig­ten Gemein­den dage­gen aus­ge­spro­chen hat. Jüngs­tes pro­mi­nen­tes Bei­spiel einer geschei­ter­ten Fusi­on ist das Pro­jekt «Grand Fri­bourg», wel­ches im Sep­tem­ber von sechs der neun betei­lig­ten Gemein­den in einer Kon­sul­ta­tiv­ab­stim­mung an der Urne abge­lehnt und danach beer­digt wurde.

Abbildung 1: Ergebnis der Konsultativabstimmung zum Projekt “Grand Fribourg”, 26.09.2021
Wohlstand und politischer Einfluss

Oft wer­den zwei Grün­de für die Ableh­nung von Gemein­de­fu­sio­nen durch die betrof­fe­ne Bevöl­ke­rung ins Feld geführt. Zum einen die Angst vor poli­ti­schem Ein­fluss­ver­lust. Je klei­ner die Ein­woh­ner­zahl einer Gemein­de ist im Ver­hält­nis zur Gesamt­be­völ­ke­rung eines Fusi­ons­pro­jekts, des­to weni­ger Gewicht haben die Stimmbürger:innen die­ser Gemein­de in der poli­ti­schen Ent­scheid­fin­dung in der neu­en Gemeinde.

Zum ande­ren die Angst ums Porte­mon­naie. Je tie­fer der Steu­er­fuss einer Gemein­de im Ver­hält­nis zu den ande­ren, am Pro­jekt betei­lig­ten, Gemein­den ist, des­to eher lehnt die Stimm­be­völ­ke­rung eine Fusi­on ab, da sie befürch­tet, nach einer Fusi­on tie­fer in die Tasche grei­fen zu müs­sen. Die Angst ums Porte­mon­naie scheint auch aus­schlag­ge­bend gewe­sen zu sein für die Ableh­nung der Fusi­on von «Grand Fri­bourg»: alle Gemein­den, wel­che mit einer Steu­er­erhö­hung rech­nen muss­ten, haben die Fusi­on abge­lehnt, wie aus Abbil­dung 1 her­vor­geht (posi­ti­ve Wer­te auf x‑Achse).

Die Ana­ly­se aller Gemein­de­fu­si­ons­ent­schei­de seit 1999 bestä­tigt die­ses Bild. Abbil­dung 2 zeigt die Ergeb­nis­se einer linea­ren Regres­si­ons­ana­ly­se, die den Zusam­men­hang zwi­schen den bei­den oben genann­ten Fak­to­ren und der Zustim­mung zu einem Fusi­ons­pro­jekt untersucht.

Abbildung 2: Lineare Regressionsanalyse aller Gemeindefusionsabstimmungen seit 1999

Legende: Punkte repräsentieren die Effekte der beiden Variablen aus der linearen Regressionsanalyse unter Konstanthaltung aller anderen Faktoren, Linien repräsentieren 95%-Vertrauensintervalle.

Ein höhe­rer Bevöl­ke­rungs­an­teil in einem Fusi­ons­pro­jekt geht mit einer höhe­ren Zustim­mung zur Fusi­on ein­her. Ver­hält­nis­mäs­sig gros­se Gemein­den sagen eher «Ja» zu einem Fusi­ons­pro­jek­tals als ver­hält­nis­mäs­sig klei­ne. Für jeden Pro­zent­punkt, um den die Ein­woh­ner­zahl einer Gemein­de in der Fusi­ons­ko­ali­ti­on steigt, steigt die Zustim­mung zur Fusi­on um 0.4 Prozentpunkte.

Steu­er­fuss­un­ter­schie­de schei­nen auch eine Rol­le zu spie­len. Je tie­fer der Steu­er­fuss einer Gemein­de im Ver­gleich zu ihren Fusi­ons­part­ne­rin­nen ist, des­to tie­fer ist der Ja-Stim­men-Anteil. Wenn der Steu­er­fuss der ande­ren im Ver­gleich zur eige­nen Gemein­de um einen Pro­zent­punkt zunimmt, sinkt der Ja-Stim­men-Anteil um 0.5 Prozentpunkte.

Wohlstand vs. politischer Einfluss

Die Resul­ta­te aus Abbil­dung 2 bestä­ti­gen die The­sen der Angst ums Porte­mon­naie und des poli­ti­schen Ein­flus­ses: Die Gemein­den, die einer Fusi­on am ehes­ten zustim­men, haben im Ver­hält­nis zu ihren Fusi­ons­part­ne­rin­nen einen höhe­ren Steu­er­fuss und ein gros­ses Bevöl­ke­rungs­ge­wicht in der neu­en Gemein­de. Fusio­nen sind am erfolg­reichs­ten in ver­hält­nis­mäs­sig armen und gros­sen Gemein­den. Damit eine Gemein­de in einer Fusi­on ver­hält­nis­mäs­sig arm bezie­hungs­wei­se gross sein kann, braucht sie ver­hält­nis­mäs­sig rei­che und klei­ne Fusi­ons­part­ne­rin­nen. Letz­te­re wer­den aber einer Fusi­on eher nicht zustim­men, wie aus Abbil­dung 2 hervorgeht.

Eine Fra­ge, die sich auf­drängt, ist, ob Ver­lus­te des poli­ti­schen Ein­flus­ses durch Gewin­ne im Porte­mon­naie aus­ge­gli­chen wer­den kön­nen und umge­kehrt. Man könn­te sich bei­spiels­wei­se vor­stel­len, dass die Stimm­be­völ­ke­rung einer ver­hält­nis­mäs­sig klei­nen und armen Gemein­de bereit ist, poli­ti­schen Ein­fluss abzu­ge­ben, indem sie mit einer grös­se­ren Gemein­de fusio­niert, wenn dies mit einer Steu­er­fuss­sen­kung einhergeht.

Umge­kehrt akzep­tiert womög­lich eine gros­se, rei­che Gemein­de eine mög­li­che Steu­er­fuss­erhö­hung, wenn sich dafür ihr poli­ti­scher Ein­fluss­be­reich aus­dehnt. Um zu unter­su­chen, ob sol­che Abwä­gun­gen von den Stimmbürger:innen getrof­fen wer­den, wur­de hier der Steu­er­fuss­un­ter­schied mit der rela­ti­ven Grös­se inter­agiert. Die Resul­ta­te die­ser Ana­ly­se fin­den sich in den Abbil­dun­gen 3 und 4.

Abbildung 3: Effekt des Steuerfussunterschieds auf den Ja-Stimmen-Anteil in Abhängigkeit der relativen Gemeindegrösse

Legende: Durchgezogene Linie repräsentiert den Koeffizienten des Steuerfussunterschiedes; Graue Fläche repräsentiert 95%-Vertrauensintervall.

Aus die­sen bei­den Abbil­dun­gen geht her­vor, dass die Stimmbürger:innen tat­säch­lich das Gewicht ihrer Gemein­de in einer Fusi­ons­ko­ali­ti­on gegen Steu­er­fuss­un­ter­schie­de abzu­wä­gen scheinen.

Abbil­dung 3 zeigt, dass ein tie­fe­rer Steu­er­fuss im Ver­hält­nis zu den Part­ner­ge­mein­den vor allem für die Stimm­be­völ­ke­rung ver­hält­nis­mäs­sig klei­ner Gemein­den ein Grund zur Ableh­nung ist. Wenn bei­spiels­wei­se eine Gemein­de zwan­zig Pro­zent der Bevöl­ke­rung eines Fusi­ons­pro­jek­tes aus­macht, dann führt ein zusätz­li­cher Pro­zent­punkt Unter­schied im Steu­er­fuss zu ihren Unguns­ten zu einer Reduk­ti­on des Ja-Stim­men-Anteils um 0.4 Pro­zent­punk­te. Wenn die glei­che Gemein­de jedoch acht­zig Pro­zent der Bevöl­ke­rung eines Fusi­ons­pro­jekts aus­macht, dann führt der­sel­be Zuwachs im Steu­er­fuss­un­ter­schied nur noch zu einer Reduk­ti­on im Ja-Stim­men-Anteil von 0.1 Pro­zent­punk­ten. Letz­te­rer Effekt ist zudem sta­tis­tisch nicht signifikant.

In ande­ren Wor­ten: Für die Stimm­be­völ­ke­rung ver­hält­nis­mäs­sig gros­ser Gemein­den spielt der Steu­er­fuss­un­ter­schied kei­ne Rol­le mehr. Das­sel­be gilt umge­kehrt auch für den Effekt der Gemein­de­grös­se (Abbil­dung 4): Je grös­ser der Steu­er­fuss­un­ter­schied zu Guns­ten einer Gemein­de aus­fällt (Wer­te links der 0 auf der x‑Achse), des­to weni­ger bedeu­tend wird das Grös­sen­ver­hält­nis und je mehr der Steu­er­fuss­un­ter­schied zu ihren Unguns­ten aus­fällt, des­to höher die Bedeu­tung des Grössenverhältnisses.

Abbildung 4: Effekt der relativen Grösse auf den Ja-Stimmen Anteil in Abhängigkeit des Steuerfussunterschieds

Legende: Durchgezogene Linie repräsentiert den Koeffizienten der relativen Gemeindegrösse; Graue Fläche repräsentiert 95%-Vertrauensintervall.
Das Geheimnis erfolgreicher Fusionskoalitionen

Was ist das Erfolgs­re­zept, damit Gemein­de­fu­si­ons­pro­jek­te von der Stimm­be­völ­ke­rung akzep­tiert wer­den? Ein Teil der Ant­wort scheint zu sein, dass Ungleich­ge­wich­te nicht zuun­guns­ten nur einer Gemein­de aus­fal­len. Eine ver­hält­nis­mäs­sig klei­ne Gemein­de mit einem tie­fen Steu­er­fuss wird sich wohl gegen eine Fusi­on mit einer grös­se­ren Gemein­de mit hohen Steu­ern wehren.

Dies war die Kon­stel­la­ti­on bei der Abstim­mung zum Pro­jekt «Grand Fri­bourg». Die Stadt Frei­burg hat einen höhe­ren Steu­er­fuss als die meis­ten der ande­ren betei­lig­ten Gemein­den. Da letz­te­re also womög­lich fürch­te­ten, dass sie sowohl poli­ti­schen Ein­fluss ver­lie­ren und dann auch noch mehr dafür bezah­len müss­ten, hat­te es das Fusi­ons­pro­jekt schwer. Ein Fusi­ons­pro­jekt, in dem eine grös­se­re, rei­che­re Gemein­de mit einer klei­ne­ren und ärme­ren fusio­niert, scheint bes­se­re Chan­cen zu haben, um von der Stimm­be­völ­ke­rung akzep­tiert zu wer­den, da bei­de Gemein­den ein biss­chen gewin­nen und ein biss­chen verlieren.

Metho­di­sches Vorgehen
Grund­la­ge für die­se Ana­ly­se bil­den die Ergeb­nis­se aller Gemein­de­fu­si­ons­ent­schei­de, die in der Schweiz zwi­schen 1999 und 2020 in Ver­samm­lun­gen oder an der Urne getrof­fen wur­den. Ins­ge­samt waren 1541 Gemein­den in 443 Fusi­ons­pro­jek­te in vier­zehn ver­schie­de­nen Kan­to­nen invol­viert (die Fusi­on im Kan­ton Gla­rus 2011 wur­de nicht berück­sich­tigt, da sie nicht in Abstim­mun­gen auf Gemein­de­ebe­ne ent­schie­den wur­de). Die zu erklä­ren­de Varia­ble in der linea­ren Regres­si­ons­ana­ly­se ist der Pro­zent­satz der Ja-Stim­men in einer an einem Fusi­ons­pro­jekt betei­lig­ten Gemein­de und die Unter­su­chungs­ein­heit ist eine an einem Fusi­ons­pro­jekt betei­lig­te Gemein­de. Die Varia­ble «% Gemeindegrösse/Fusionsgrösse» gibt an, wie gross der pro­zen­tua­le Bevöl­ke­rungs­an­teil einer Gemein­de an der Gesamt­be­völ­ke­rung eines Fusi­ons­pro­jekts ist. Die Varia­ble «Steu­er­fuss­un­ter­schied» ist die Dif­fe­renz zwi­schen dem nach Bevöl­ke­rungs­grös­se gewich­te­ten Steu­er­fuss der Fusi­ons­part­ne­rin­nen und dem Steu­er­fuss einer Gemein­de. Posi­ti­ve Wer­te die­ser Varia­ble bedeu­ten also, dass eine Gemein­de einen tie­fe­ren Steu­er­fuss hat als der Durch­schnitt der ande­ren Gemein­den. Die hier prä­sen­tier­ten Model­le beinhal­ten eine Rei­he von Kon­troll­va­ria­blen: Abso­lu­te Bevöl­ke­rungs­grös­se, abso­lu­ter Steu­er­fuss, abso­lu­ter und rela­ti­ver Wäh­ler­an­teil der SP und der SVP bei Natio­nal­rats­wah­len (als Kon­trol­le für (Unter­schie­de in) poli­ti­schen Prä­fe­ren­zen), frü­he­re Betei­li­gung an einem Fusi­ons­pro­jekt, Urnen- oder Ver­samm­lungs­ab­stim­mung, sowie Indi­ka­to­ren für den Gemein­de­typ, den Kan­ton, und das Jahr der Ent­schei­dung. Alle hier prä­sen­tier­ten Resul­ta­te blei­ben unver­än­dert, wenn man anstel­le der Steu­er­fuss­un­ter­schie­de die Unter­schie­de in den Ein­nah­men aus der direk­ten Bun­des­steu­er als Indi­ka­tor für Wohl­stand nimmt.

Quel­le:

Der Arti­kel basiert auf einem wis­sen­schaft­li­chen Bei­trag, der in der Zeit­schrift “Ter­ri­to­ry, Poli­tics, Gover­nan­ce” erschie­nen ist.

Bild: Grandfribourg.ch

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