Kontexte und Desiderate zum Nikab in der Schweiz

Replik auf die Debat­ten­bei­trä­ge von Elham Manea und Nadia Baghdadi

Zunächst dan­ke ich den geschätz­ten Kol­le­gin­nen Elham Manea und Nadia Baghda­di. Bei­de haben das von mir und fünf Mit­au­torin­nen publi­zier­te Werk «Ver­hül­lung – Die Bur­ka-Debat­te in der Schweiz» gele­sen und in je einem eige­nen Bei­trag dis­ku­tiert. Eine kur­ze Ant­wort ist angezeigt.

Elham Manea kri­ti­siert in ihrem Bei­trag, das Buch eben­so wie die dar­in zitier­ten Stu­di­en igno­rier­ten die «ideo­lo­gi­schen, poli­ti­schen und sozia­len Kon­tex­te» rund um das Tra­gen des Nik­abs in Euro­pa. Sie führt breit aus, wel­chen ideo­lo­gi­schen Kon­text sie für rele­vant hält, näm­lich sala­fis­ti­sche Leh­ren, wie sie in Schrif­ten bestimm­ter Gelehr­ter aus Sau­di-Ara­bi­en zu fin­den sind. Die­se Schrif­ten wür­den im Wes­ten in «vom Golf finan­zier­ten Madra­sas und Moscheen unter­rich­tet und beworben».

Einfluss der Salafisten kleiner als angenommen

Ich bestrei­te nicht die Exis­tenz die­ser Schrif­ten noch deren Inhalt, der für Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in West­eu­ro­pa teils inak­zep­ta­bel sein muss. Die­se Schrif­ten sind teils­wei­se auch tat­säch­lich in man­chen Schwei­zer Moscheen zu fin­den und im Inter­net sind sie ohne­hin zugäng­lich. Ich bestrei­te jedoch, dass ihr Ein­fluss so umfas­send, gerad­li­nig und unge­fil­tert ist, wie Manea dies anzu­neh­men scheint.

Es gibt mei­nes Erach­tens dafür zwei Haupt­grün­de: Ers­tens ist die eigent­li­che Sala­fi-Sze­ne, die sich eng an Gelehr­ten wie den von Manea genann­ten ori­en­tiert, in der Schweiz sehr klein. Es gibt zwar dane­ben eine grös­se­re Sze­ne, die jene Gelehr­ten eben­falls zur Kennt­nis nimmt. Aber – dies ist der zwei­te Haupt­grund – in die­sem Teil des Fel­des sind die­se Schrif­ten nur Teil eines brei­te­ren Ange­bots, aus dem sich ein Teil der Schwei­zer Mus­li­min­nen und Mus­li­me ihr per­sön­li­ches Menu zusammenstellen.

Dane­ben fin­den sich dort bis­wei­len Vor­stel­lun­gen aus Denk­schu­len, deren Expo­nen­ten sich scharf bekämp­fen, etwa zwi­schen sau­di­schen Sala­fis und Mus­lim­brü­dern. Zudem ist immer damit zu rech­nen, dass die Ver­satz­stü­cke der Ideo­lo­gie auf ihrem Weg von Sau­di-Ara­bi­en oder Ägyp­ten in die Schweiz Form, Gewicht und Gehalt ver­än­dern. Es ist der Lebens­kon­text des Emp­fän­gers, der ihre Rele­vanz und Wir­kungs­wei­se mass­geb­lich bestimmt, und nur sehr begrenzt die Inten­ti­on der fer­nen Autoren. Die Emp­fän­ger leben in der Schweiz und fin­den die Authen­ti­zi­tät, die sie in reli­giö­sen Din­gen suchen, bei jenen fer­nen Absen­dern. Dies kommt einem Spa­gat gleich, der jeweils sehr indi­vi­du­ell ausfällt.

Junge Muslime sind in der Schweiz sehr eigenständig

Wie sich jun­ge Mus­li­min­nen und Mus­li­me in der Schweiz in Ange­le­gen­heit der Reli­gi­on Ori­en­tie­rung holen, hat das Luzer­ner For­schungs­team, dem ich ange­hö­re, in den letz­ten zehn Jah­ren erforscht und dar­ge­legt (End­res et al. 2013, Bau­mann et al., 2017). Eine wich­ti­ge Erkennt­nis: Die jun­ge Genera­ti­on ent­schei­det sehr eigen­stän­dig, sie lässt sich nicht ein­fach etwas vor­ge­ben, son­dern ver­gleicht kri­tisch und akzep­tiert letzt­lich nur das, was zum All­tag und Lebens­ent­wurf passt. Mit ihrem Vor­schlag, die trans­na­tio­na­len sala­fis­ti­schen Ein­flüs­se auf die Schweiz zu unter­su­chen, rennt Manea bei mir offe­ne Türen ein: Das ent­spre­chen­de Pro­jekt ist längst im Gang.

Ich hal­te im Übri­gen eine all­zu star­re Fixie­rung auf den Sala­fis­mus als Hin­ter­grund für das Nik­ab­tra­gen im Wes­ten für unklug. Leicht ent­ge­hen einem dann näm­lich Fäl­le wie der­je­ni­ge von Clai­re in Agnès de Féos Buch «Der­riè­re le niqâb», die durch die Bur­ka-Debat­te erst auf den Gesichts­schlei­er auf­merk­sam wer­den und sich aus Soli­da­ri­tät mit einer stig­ma­ti­sier­ten Grup­pe über­haupt erst auf das Tra­gen des Nikab ein­las­sen, ganz ohne beson­de­res Inter­es­se an sala­fis­ti­schen Autoren. Zudem zei­gen die zahl­rei­chen Fäl­le von Frau­en, die den Gesichts­schlei­er nach eini­ger Zeit wie­der auf­ge­ben, wie stark die eige­ne Hand­lungs­macht im west­li­chen Kon­text erhal­ten bleibt.

Diskursanalyse bisher schwach rezipiert

Zurück zu unse­rem Buch: Es bean­sprucht nicht, die ers­te und zugleich ulti­ma­ti­ve Unter­su­chung zu Nik­ab­trä­ge­rin­nen in der Schweiz zu sein, son­dern es geht der Fra­ge nach, war­um die vor­find­li­che Rea­li­tät der weni­gen Nik­ab­trä­ge­rin­nen und das Bild in der media­len Debat­te in der Deutsch­schweiz (bis Früh­ling 2020) so auf­fäl­lig aus­ein­an­der­klaf­fen. Auf­merk­sam­keit fan­den bis­her vor allem die rund 35 Sei­ten zum For­schungs­stand und zu den Nik­ab­trä­ge­rin­nen in der Schweiz. Die Dis­kurs­ana­ly­se, die mit 46 Sei­ten immer­hin einen guten Drit­tel des Lauf­tex­tes unse­res Buches aus­macht, ist in der gegen­wär­ti­gen Pha­se der Debat­te prak­tisch nicht rezi­piert worden.

Auch Nadia Baghda­di for­mu­liert in ihrem Debat­ten­bei­trag als – von mir unter­stütz­tes – Desi­de­rat, dass wei­te­re For­schung zei­gen möge, «auf wel­che reli­giö­sen Auto­ri­tä­ten sich Nikab-Trä­ge­rin­nen bezie­hen und wie sie kon­kret prak­ti­zie­ren». Zugleich nimmt sie als ers­te Stim­me die Befun­de der Dis­kurs­ana­ly­se brei­ter auf und ver­knüpft sie mit dem Kon­zept des gen­der­na­ti­vism, das Jani­ne Dahin­den und Ste­fan Man­ser-Egli jüngst an die­ser Stel­le vor­ge­stellt haben. Die­sen Ansatz hal­te auch ich für lohnenswert.

Baghda­di stellt auch die wich­ti­ge Fra­ge, «wel­che Aus­wir­kun­gen die Bur­ka-Dis­kur­se auf die brei­te mus­li­mi­sche Bevöl­ke­rung haben». Die­se Aus­wir­kun­gen zu unter­su­chen, lag eben­so­we­nig im Anspruch des Buches wie die Fra­ge nach ideo­lo­gi­schen Ein­flüs­sen. Sie ist gleich­wohl nicht min­der wich­tig, denn womög­lich ist die rea­li­täts­for­men­de Kraft des vor­herr­schen­den Dis­kur­ses in der Mehr­heits­ge­sell­schaft noch wirk­sa­mer als Lehr­sät­ze fer­ner Scheichs.

Als Fazit zum aktu­el­len Stand der Debat­te unter Ange­hö­ri­gen der sci­en­ti­fic com­mu­ni­ty hal­te ich dem­nach als Ant­wort auf den Titel über Elham Mane­as Debat­ten­bei­trag fest: Ja, natür­lich ist der Kon­text wich­tig, aber dar­in sind eben Ideo­lo­gien nur ein Teil, den man gegen­über ande­ren Tei­len nicht über­be­wer­ten darf, will man den plum­pen Fal­len der öffent­li­chen Bur­ka-Debat­te ausweichen.


Refe­renz:

Bild: pana­sia­nism

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