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Kontexte und Desiderate zum Nikab in der Schweiz

Andreas Tunger-Zanetti
23rd Februar 2021

Replik auf die Debattenbeiträge von Elham Manea und Nadia Baghdadi

Zunächst danke ich den geschätzten Kolleginnen Elham Manea und Nadia Baghdadi. Beide haben das von mir und fünf Mitautorinnen publizierte Werk «Verhüllung – Die Burka-Debatte in der Schweiz» gelesen und in je einem eigenen Beitrag diskutiert. Eine kurze Antwort ist angezeigt.

Elham Manea kritisiert in ihrem Beitrag, das Buch ebenso wie die darin zitierten Studien ignorierten die «ideologischen, politischen und sozialen Kontexte» rund um das Tragen des Nikabs in Europa. Sie führt breit aus, welchen ideologischen Kontext sie für relevant hält, nämlich salafistische Lehren, wie sie in Schriften bestimmter Gelehrter aus Saudi-Arabien zu finden sind. Diese Schriften würden im Westen in «vom Golf finanzierten Madrasas und Moscheen unterrichtet und beworben».

Einfluss der Salafisten kleiner als angenommen

Ich bestreite nicht die Existenz dieser Schriften noch deren Inhalt, der für Bürgerinnen und Bürger in Westeuropa teils inakzeptabel sein muss. Diese Schriften sind teilsweise auch tatsächlich in manchen Schweizer Moscheen zu finden und im Internet sind sie ohnehin zugänglich. Ich bestreite jedoch, dass ihr Einfluss so umfassend, geradlinig und ungefiltert ist, wie Manea dies anzunehmen scheint.

Es gibt meines Erachtens dafür zwei Hauptgründe: Erstens ist die eigentliche Salafi-Szene, die sich eng an Gelehrten wie den von Manea genannten orientiert, in der Schweiz sehr klein. Es gibt zwar daneben eine grössere Szene, die jene Gelehrten ebenfalls zur Kenntnis nimmt. Aber – dies ist der zweite Hauptgrund – in diesem Teil des Feldes sind diese Schriften nur Teil eines breiteren Angebots, aus dem sich ein Teil der Schweizer Musliminnen und Muslime ihr persönliches Menu zusammenstellen.

Daneben finden sich dort bisweilen Vorstellungen aus Denkschulen, deren Exponenten sich scharf bekämpfen, etwa zwischen saudischen Salafis und Muslimbrüdern. Zudem ist immer damit zu rechnen, dass die Versatzstücke der Ideologie auf ihrem Weg von Saudi-Arabien oder Ägypten in die Schweiz Form, Gewicht und Gehalt verändern. Es ist der Lebenskontext des Empfängers, der ihre Relevanz und Wirkungsweise massgeblich bestimmt, und nur sehr begrenzt die Intention der fernen Autoren. Die Empfänger leben in der Schweiz und finden die Authentizität, die sie in religiösen Dingen suchen, bei jenen fernen Absendern. Dies kommt einem Spagat gleich, der jeweils sehr individuell ausfällt.

Junge Muslime sind in der Schweiz sehr eigenständig

Wie sich junge Musliminnen und Muslime in der Schweiz in Angelegenheit der Religion Orientierung holen, hat das Luzerner Forschungsteam, dem ich angehöre, in den letzten zehn Jahren erforscht und dargelegt (Endres et al. 2013, Baumann et al., 2017). Eine wichtige Erkenntnis: Die junge Generation entscheidet sehr eigenständig, sie lässt sich nicht einfach etwas vorgeben, sondern vergleicht kritisch und akzeptiert letztlich nur das, was zum Alltag und Lebensentwurf passt. Mit ihrem Vorschlag, die transnationalen salafistischen Einflüsse auf die Schweiz zu untersuchen, rennt Manea bei mir offene Türen ein: Das entsprechende Projekt ist längst im Gang.

Ich halte im Übrigen eine allzu starre Fixierung auf den Salafismus als Hintergrund für das Nikabtragen im Westen für unklug. Leicht entgehen einem dann nämlich Fälle wie derjenige von Claire in Agnès de Féos Buch «Derrière le niqâb», die durch die Burka-Debatte erst auf den Gesichtsschleier aufmerksam werden und sich aus Solidarität mit einer stigmatisierten Gruppe überhaupt erst auf das Tragen des Nikab einlassen, ganz ohne besonderes Interesse an salafistischen Autoren. Zudem zeigen die zahlreichen Fälle von Frauen, die den Gesichtsschleier nach einiger Zeit wieder aufgeben, wie stark die eigene Handlungsmacht im westlichen Kontext erhalten bleibt.

Diskursanalyse bisher schwach rezipiert

Zurück zu unserem Buch: Es beansprucht nicht, die erste und zugleich ultimative Untersuchung zu Nikabträgerinnen in der Schweiz zu sein, sondern es geht der Frage nach, warum die vorfindliche Realität der wenigen Nikabträgerinnen und das Bild in der medialen Debatte in der Deutschschweiz (bis Frühling 2020) so auffällig auseinanderklaffen. Aufmerksamkeit fanden bisher vor allem die rund 35 Seiten zum Forschungsstand und zu den Nikabträgerinnen in der Schweiz. Die Diskursanalyse, die mit 46 Seiten immerhin einen guten Drittel des Lauftextes unseres Buches ausmacht, ist in der gegenwärtigen Phase der Debatte praktisch nicht rezipiert worden.

Auch Nadia Baghdadi formuliert in ihrem Debattenbeitrag als – von mir unterstütztes – Desiderat, dass weitere Forschung zeigen möge, «auf welche religiösen Autoritäten sich Nikab-Trägerinnen beziehen und wie sie konkret praktizieren». Zugleich nimmt sie als erste Stimme die Befunde der Diskursanalyse breiter auf und verknüpft sie mit dem Konzept des gendernativism, das Janine Dahinden und Stefan Manser-Egli jüngst an dieser Stelle vorgestellt haben. Diesen Ansatz halte auch ich für lohnenswert.

Baghdadi stellt auch die wichtige Frage, «welche Auswirkungen die Burka-Diskurse auf die breite muslimische Bevölkerung haben». Diese Auswirkungen zu untersuchen, lag ebensowenig im Anspruch des Buches wie die Frage nach ideologischen Einflüssen. Sie ist gleichwohl nicht minder wichtig, denn womöglich ist die realitätsformende Kraft des vorherrschenden Diskurses in der Mehrheitsgesellschaft noch wirksamer als Lehrsätze ferner Scheichs.

Als Fazit zum aktuellen Stand der Debatte unter Angehörigen der scientific community halte ich demnach als Antwort auf den Titel über Elham Maneas Debattenbeitrag fest: Ja, natürlich ist der Kontext wichtig, aber darin sind eben Ideologien nur ein Teil, den man gegenüber anderen Teilen nicht überbewerten darf, will man den plumpen Fallen der öffentlichen Burka-Debatte ausweichen.


Referenz:

Bild: panasianism