Durch Verdoppeln einbeziehen: Ämterkumulation in der Schweiz

Die Kumu­la­ti­on poli­ti­scher Ämter unter­schied­li­cher Staats­ebe­nen wird in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung zumeist kri­tisch beäugt. Die­ser Bei­trag kehrt die Per­spek­ti­ve um und betrach­tet Ämter­ku­mu­la­ti­on als einen aus kon­kor­danz­de­mo­kra­ti­scher Per­spek­ti­ve wün­schens­wer­ten Kanal des Ein­be­zugs sub­na­tio­na­ler Kräf­te in die Ent­schei­dungs­fin­dung des Bun­des. Doch inwie­fern sind die Kan­to­ne und Gemein­den über Ämter­ku­mu­la­ti­on in die natio­na­le Poli­tik eingebunden?

 

Wäre der Ber­ner Finanz­di­rek­to­rin Bea­tri­ce Simon (BDP) bei den eid­ge­nös­si­schen Wah­len der Sprung in den Stän­de­rat gelun­gen, hät­te dies für die Regie­rung des Kan­tons auto­ma­tisch eine Ersatz­wahl nach sich gezo­gen. So will es die Kan­tons­ver­fas­sung, die es den Mit­glie­dern des Regie­rungs­ra­tes ver­bie­tet, gleich­zei­tig der Bun­des­ver­samm­lung anzu­ge­hö­ren (Art. 68 Abs. 3 KV-BE). Sol­che in zahl­rei­chen Kan­to­nen bestehen­den Unver­ein­bar­keits­klau­seln las­sen sich mit­un­ter als Aus­druck dafür ver­ste­hen, dass Ämter­ku­mu­la­ti­on (auch: «cumul des man­dats», Dop­pel­man­da­te) – das gleich­zei­ti­ge Aus­üben eines natio­na­len Par­la­ments- und eines kan­to­na­len und/oder kom­mu­na­len Exe­ku­tiv- oder Legis­la­tiv­man­dats – nach all­ge­mein herr­schen­der Über­zeu­gung nicht wün­schens­wert ist. Ämter­ku­mu­la­ti­on impli­ziert Macht­bal­lung in den Hän­den Ein­zel­ner ent­ge­gen der für eine Kon­kor­danz­de­mo­kra­tie cha­rak­te­ris­ti­schen Teil­ha­be mög­lichst vie­ler Per­so­nen am poli­ti­schen Pro­zess. Doch lässt sich Ämter­ku­mu­la­ti­on nicht auch als spe­zi­fi­sche Form der aus kon­kor­danz­de­mo­kra­ti­scher Sicht eben­falls wün­schens­wer­ten Ein­bin­dung föde­ra­ler Kräf­te in die Ent­schei­dungs­fin­dung des Bun­des werten?

Ämterkumulation als Verkörperung von Konkordanz und Föderalismus

Kon­kor­danz und Föde­ra­lis­mus bil­den – nebst der direk­ten Demo­kra­tie – die zen­tra­len Pfei­ler des poli­ti­schen Sys­tems der Schweiz. Wäh­rend Kon­kor­danz mit­un­ter die Ein­bin­dung der wich­tigs­ten poli­ti­schen Kräf­te besagt (vgl. Lehm­bruch 1967; Lij­phart 1977), sieht das föde­ra­le Prin­zip vor allem gemein­sa­mes Ent­schei­den von natio­na­len und glied­staat­li­chen Vertreter*innen im Bund vor (vgl. Ela­zar 1987). Im Kern bedeu­ten sowohl Kon­kor­danz als auch Föde­ra­lis­mus Macht­tei­lung (Lij­phart 1985).

In die­ser Les­art ver­ei­nigt Ämter­ku­mu­la­ti­on bei­de Merk­ma­le: Durch eine bzw. einen Doppelmandatsträger*in las­sen sich die Inter­es­sen der Kan­to­ne und Gemein­den – zwei wich­ti­ge poli­ti­sche Kräf­te in der bun­des­staat­li­chen Archi­tek­tur der Schweiz – auf der natio­na­len Ebe­ne pro­ze­du­ral ein­be­zie­hen. Ein solch pro­ze­du­ra­ler Ein­be­zug ergänzt die ver­ti­ka­len Föde­ra­lis­mus­in­sti­tu­tio­nen wie bspw. den Stän­de­rat (Art. 150 BV) oder das Stän­de­mehr (Art. 142 BV), die aus­schliess­lich den Kan­to­nen, nicht aber den Gemein­den, offen­ste­hen. Für die Kan­to­ne stellt «cumul des man­dats» somit bloss einen unter vie­len Zugangs­punk­ten zur Bun­des­ebe­ne dar. Dem­ge­gen­über ist der schwei­ze­ri­sche Bun­des­staat wei­test­ge­hend «gemein­de­blind» (Sei­ler 2001: 493), womit Ämter­ku­mu­la­ti­on aus kom­mu­na­ler Sicht einer unter weni­gen Ein­fluss­ka­nä­len ist.

Daten­grund­la­ge
Die Ana­ly­se basiert auf Anga­ben zu allen 246 Mit­glie­dern der Schwei­zer Bun­des­ver­samm­lung pro Jahr (Beob­ach­tun­gen) zwi­schen 1985 und 2018 (N=8’364). Der Daten­satz erfasst ins­ge­samt 986 Parlamentsmitglieder.

Die Anga­ben basie­ren pri­mär auf dem «Regis­ter der Inter­es­sen­bin­dun­gen», wel­ches jeweils Anfang Jahr erscheint. Die­se wur­den mit den Bio­gra­fien der Rats­mit­glie­der, der «Base de don­nées des éli­tes suis­ses au XXe siè­cle», dem «His­to­ri­schen Lexi­kon der Schweiz (HLS)», per­sön­li­chen Web­sites, Medi­en­be­rich­ten und wei­te­ren Online­quel­len abgeglichen.

Abbildung 1: Kategorien von Ämterkumulation (1985–2018)

Quel­le: eige­ner Daten­satz, vgl. Infobox.

Anmer­kung: Abbil­dung 1 lie­gen prin­zi­pi­ell alle 8’362 Beob­ach­tun­gen (Par­la­ments­mit­glie­der pro Jahr; zwei Mis­sings aus­ge­schlos­sen) zugrun­de. Wäh­rend der lin­ke Teil den Anteil von Beob­ach­tun­gen mit Ämter­ku­mu­la­ti­on jenem ohne Ämter­ku­mu­la­ti­on gegen­über­stellt, han­delt es sich beim rech­ten Teil aus­schliess­lich um die Grup­pe der Beob­ach­tun­gen mit vor­han­de­ner Ämter­ku­mu­la­ti­on. Der rech­te zeigt im Ver­gleich zum lin­ken Teil bes­ser les­bar auf, wie stark die ein­zel­nen Kate­go­rien besetzt sind.

Ausmass und Formen von Ämterkumulation in der schweizerischen Bundesversammlung (1985–2018)

Zwi­schen 1985 und 2018 lag bei 18.6 Pro­zent aller Beob­ach­tun­gen (Par­la­ments­mit­glied pro Jahr) Ämter­ku­mu­la­ti­on vor (Abbil­dung 1), wobei das natio­na­le vor allem mit einem loka­len Man­dat – ins­be­son­de­re einem Exe­ku­tiv­amt (d.h. Gemein­de­rat) – kumu­liert wird. Umge­kehrt sind es eher Mit­glie­der der kan­to­na­len Par­la­men­te (d.h. Gross- bzw. Kan­tons­rat) denn der Regie­run­gen (d.h. Regie­rungs- bzw. Staats­rat), die zeit­gleich Mit­glied der eid­ge­nös­si­schen Räte sind. Aus­ge­nom­men sind weni­ge Kan­to­ne, in denen die kan­to­na­len Exe­ku­tiv­mit­glie­der meist zusätz­lich auch im natio­na­len Par­la­ment ver­tre­ten sind. Ein Bei­spiel ist der Kan­ton Appen­zell Inner­rho­den, in dem amtie­ren­de Mit­glie­der der Stan­des­kom­mis­si­on tra­di­tio­nell auch in der Bun­des­ver­samm­lung Ein­sitz nehmen.

Abbildung 2: Anteil an Ämterkumulation aller Parlamentsmitglieder (1985–2018)

Quel­le: eige­ner Daten­satz, vgl. Infobox.

Anmer­kung: Abbil­dung 2 lie­gen alle 986 Parlamentarier*innen zugrun­de. Die­se wur­den ent­spre­chend des Grads an Über­schnei­dung zwi­schen natio­na­lem und sub­na­tio­na­lem poli­ti­schem Amt grup­piert. Ämter­ku­mu­la­ti­on kann in jedem oder kei­nem Amts­jahr eines Par­la­ments­mit­glieds vor­lie­gen oder in ein­zel­nen bzw. eini­gen, nicht aber in allen Jah­ren bestehen.

Das Aus­mass an Ämter­ku­mu­la­ti­on wird jedoch schnell unter­schätzt. So zeigt Abbil­dung 2, dass weit mehr als ein Drit­tel (ca. 37.3 Pro­zent) aller Mit­glie­der der Bun­des­ver­samm­lung in jedem oder zumin­dest in Tei­len ihrer natio­na­len Amts­jah­re par­al­lel ein sub­na­tio­na­les Man­dat bekleidet.

Wie las­sen sich die unter­schied­li­chen Befun­de aus Abbil­dung 1 und 2 erklä­ren? Prin­zi­pi­ell sinkt der Anteil an «cumul des man­dats» über die Zeit, was pri­mär dem Rück­gang an Dop­pel­man­da­ten in Form von natio­na­lem und kan­to­na­lem Amt geschul­det ist (Abbil­dung 3). Zuneh­men­de Arbeits­last, ver­mehr­te kan­to­na­le Unver­ein­bar­keits­klau­seln sowie par­tei­sta­tu­ta­ri­sche Gren­zen sind mög­li­che Erklä­rungs­an­sät­ze. Als einer unter vie­len kan­to­na­len Ein­fluss­ka­nä­len ist Ämter­ku­mu­la­ti­on des­we­gen heu­te nahe­zu inexistent.

Inter­es­san­ter­wei­se zeigt die zeit­li­che Ent­wick­lung an Mit­glie­dern in den eid­ge­nös­si­schen Räten, die auch ein kom­mu­na­les Amt beklei­den, in die umge­kehr­te Rich­tung: Seit Beginn der 1990er-Jah­re steigt der Anteil auf tie­fem Niveau an. Damit könn­te Ämter­ku­mu­la­ti­on für Gemein­den tat­säch­lich einen unter weni­gen Zugangs­punk­ten dar­stel­len. Dies erscheint vor allem für städ­ti­sche Gemein­den plau­si­bel: Bei letz­te­ren klaf­fen gesamt­wirt­schaft­li­che bzw. ‑gesell­schaft­li­che Bedeu­tung und die weit­ge­hend feh­len­den insti­tu­tio­nell gesi­cher­ten Mit­wir­kungs­mög­lich­kei­ten beson­ders weit auseinander.

Fer­ner deu­tet Abbil­dung 3 auf Spit­zen der Anteils­wer­te zu Beginn einer jeden Legis­la­tur hin. Dies ver­weist auf das häu­fi­ge Phä­no­men unfrei­wil­li­ger Ämter­ku­mu­la­ti­on: Neu in die Bun­des­ver­samm­lung gewähl­te Parlamentarier*innen geben ihr kan­to­na­les (bzw. kom­mu­na­les) Amt auf­grund von Über­gangs­pha­sen erst nach einer Wei­le ab. Ein aktu­el­les Bei­spiel ist der im Mai 2019 in den Stän­de­rat gewähl­te und Mit­te Novem­ber im Amt bestä­tig­te St. Gal­ler Finanz­di­rek­tor Bene­dikt Würth (CVP), der bis Ende Mai 2020 in der kan­to­na­len Regie­rung ver­bleibt. Glei­ches gilt für den Neo-Stän­de­rat Oth­mar Reich­muth (CVP). Der Vor­ste­her des Bau­de­par­te­ments des Kan­tons Schwyz und ehe­ma­li­ge Land­am­mann gab unlängst bekannt, mit neu­em Man­dat auf Bun­des­ebe­ne bei den Gesamt­erneue­rungs­wah­len im nächs­ten Früh­ling nicht mehr kan­di­die­ren zu wollen.

Abbildung 3: Anteil an Ämterkumulation über die Zeit (1985–2018)

Quel­le: eige­ner Daten­satz, vgl. Infobox.

Anmer­kung: Die Zeit­rei­hen bil­den den Anteil an Ämter­ku­mu­la­ti­on pro Jahr ab. Auf­grund von Drei­fach­man­da­ten (natio­nal-kan­to­nal-lokal) ergibt eine Aggre­ga­ti­on der unter­ge­ord­ne­ten Zeit­rei­hen (natio­nal-kan­to­nal und natio­nal-lokal) nicht in jedem Jahr die über­ge­ord­ne­te Zeit­rei­he aus natio­na­lem und kan­to­na­lem bzw. loka­lem Amt.

Ins­ge­samt bestä­tigt die Ana­ly­se die gene­rell sin­ken­de Rele­vanz von Ämter­ku­mu­la­ti­on im Schwei­zer Par­la­ment (Pilot­ti 2017: 262–267). Gleich­zei­tig ist eine dif­fe­ren­zier­te Betrach­tung von­nö­ten: Nebst der Unter­schei­dung nach Staats­ebe­ne erge­ben sich hier nicht berich­te­te unter­schied­li­che Mus­ter nach Frak­ti­on und vor allem nach Kan­ton. Dies ver­weist auf eine je nach Kon­text unter­schied­li­che Bedeu­tung. Die Beur­tei­lung von Ein­zel­fäl­len in der öffent­li­chen Dis­kus­si­on ist damit nicht nur legi­tim, son­dern durch­aus ange­zeigt: Sofern die Doppelmandatsträger*innen auch wirk­lich gewillt sind, kan­tons- bzw. gemein­de­spe­zi­fi­sche Inter­es­sen in den natio­na­len Wil­lens­bil­dungs- und Ent­schei­dungs­pro­zess ein­zu­brin­gen, ver­mag Ämter­ku­mu­la­ti­on das Prin­zip der Ein­bin­dung zu unter­stüt­zen – gera­de dank der in einer Kon­kor­danz­de­mo­kra­tie eigent­lich uner­wünsch­ten Macht­kon­zen­tra­ti­on in den Hän­den Einzelner.


Refe­renz:

Arens, Alex­an­der und Rahel Frei­burg­haus (2019). Durch Ver­dop­peln ein­be­zie­hen: Ämter­ku­mu­la­ti­on in der Schweiz. In: Kon­kor­danz im Par­la­ment. Zürich: NZZ Libro, Rei­he „Poli­tik und Gesell­schaft in der Schweiz“.

Biblio­gra­phie:

  • Ela­zar, Dani­el J. (1987). Explo­ring Federa­lism. Tus­ca­loo­sa, AL: Uni­ver­si­ty of Ala­ba­ma Press.
  • Lehm­bruch, Ger­hard (1967). Pro­porz­de­mo­kra­tie. Poli­ti­sches Sys­tem und poli­ti­sche Kul­tur in der Schweiz und in Öster­reich. Tübin­gen: J. C. B. Mohr.
  • Lij­phart, Arend (1977). Demo­cra­cy in Plu­ral Socie­ties. A Com­pa­ra­ti­ve Explo­ra­ti­on. New Haven, CT/London: Yale Uni­ver­si­ty Press.
  • Lij­phart, Arend (1985). «Non-Majo­ri­ta­ri­an Demo­cra­cy: A Com­pa­ri­son of Federal and Con­so­cia­tio­nal Theo­ries». Publi­us: The Jour­nal of Federa­lism 15(2): 3–15.
  • Pilot­ti, Andrea (2017). Ent­re démo­cra­ti­sa­ti­on et pro­fes­si­onnali­sa­ti­on. Le Par­le­ment suis­se et ses mem­bres de 1910 à 2016. Zürich/Genf: Seismo.
  • Sei­ler, Hans­jörg (2001). «Gemein­den im schwei­ze­ri­schen Staats­recht». S. 491–506. In Schwei­ze­ri­sches Ver­fas­sungs­recht, 3. Auf­la­ge, hrsg. v. Dani­el Thü­rer, Jean-Fran­çois Aubert und Jörg P. Mül­ler. Basel: Hel­bing + Lich­ten­hahn: Basel.

Bild: Par­la­ments­diens­te, 3003 Bern

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