«Politstil der Provokation» als Gefahr für die Konkordanz? Emotionen bei parlamentarischen Debatten

Der «Poli­ti­s­til der Pro­vo­ka­ti­on» stel­le eine Gefahr für die Kon­kor­danz dar, gab alt Bun­des­rat Samu­el Schmid im Jahr 2015 zu Pro­to­koll. Statt sach­po­li­ti­scher Lösungs­su­che herr­sche im Par­la­ment immer mehr aggres­si­ver Kon­kur­renz­kampf vor, zudem sei eine pola­ri­sie­ren­de Ver­ro­hung der Aus­ein­an­der­set­zung fest­zu­stel­len. Stimmt die­se Ein­schät­zung wirk­lich? Wie emo­tio­nal wird im Par­la­ment ver­han­delt und wie hat sich dies über die Zeit ver­än­dert? Und gefähr­det dies wirk­lich die Konkordanz?

Emotionen und Politik

Sowohl die klas­si­sche Lite­ra­tur zu Ent­schei­dungs­fin­dung als auch die land­läu­fi­ge Mei­nung stel­len Emo­tio­nen in der Poli­tik ein schlech­tes Zeug­nis aus: Die­se hät­ten bei poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen nichts zu suchen, weil ver­meint­lich nur unser Ver­stand fähig sei, die Welt zu ver­ste­hen. Durch Pro­vo­ka­tio­nen aus­ge­lös­ter Ärger oder gar Wut auf der einen Sei­te, aber auch durch Lob her­vor­ge­ru­fe­ne posi­ti­ve Gefüh­le wer­den als schlech­te Rat­ge­ber für ratio­na­le Lösungs­su­che beurteilt.

Nun zeigt aller­dings die moder­ne Neu­ro­wis­sen­schaft, dass eine Tren­nung von Emo­tio­nen und Ver­stand gar nicht mög­lich ist. Viel­mehr scheint es, dass jeder Mensch die unab­läs­sig auf ihn ein­wir­ken­den Ein­drü­cke vor allem emo­tio­nal eva­lu­iert. Die dadurch ent­ste­hen­den unbe­wuss­ten Emo­tio­nen gelan­gen anschlies­send nur sehr selek­tiv in unser Bewusst­sein. Die­je­ni­gen die durch­drin­gen, bil­den in der Fol­ge die Grund­la­ge für unse­re (ratio­na­len) Hand­lun­gen und Ent­schei­dun­gen. Emo­tio­nen sind ratio­na­len Hand­lun­gen somit vorgelagert.

Wirkungen von Emotionen auf politische Entscheidungen

Wenn wir die­ser neu­ro­wis­sen­schaft­li­chen Argu­men­ta­ti­on und ver­schie­de­nen dar­auf beru­hen­den Befun­den fol­gen, so dürf­ten posi­ti­ve Emo­tio­nen zu opti­mis­ti­sche­ren Bewer­tun­gen von Situa­tio­nen füh­ren als nega­ti­ve Emo­tio­nen. Im Gegen­satz dazu dürf­ten Gefüh­le der Aver­si­on dazu füh­ren, dass man ande­ren qua­si als Abwehr­re­flex nicht zuhört und sich einer ein­ver­nehm­li­chen Lösung verschliesst.

Dies wür­de frei­lich bedeu­ten, dass die War­nung von alt-Bun­des­rat Samu­el Schmid ihre Berech­ti­gung hat: Das Wecken von nega­ti­ven Emo­tio­nen durch zuneh­men­de Pro­vo­ka­ti­on könn­te also die Suche nach Kom­pro­miss­lö­sun­gen durch­aus nega­tiv beeinflussen.

Emotionen im eidgenössischen Parlament

Aber lässt sich eine Zunah­me von Emo­tio­nen auch tat­säch­lich nach­zeich­nen? Die­ser Fra­ge gehen wir auf der Basis von 22’485 par­la­men­ta­ri­schen Ent­schei­dun­gen nach, bei denen wir auf­grund der Rede­pro­to­kol­le wis­sen, ob es vor­gän­gig zu Emo­tio­nen gekom­men ist. Denn im Amt­li­chen Bul­le­tin wer­den neben dem Wort­laut der Reden auch emo­tio­na­le Reak­tio­nen im Rat anno­tiert. Frei­lich mes­sen wir damit nicht die Emo­tio­nen eines ein­zel­nen Par­la­ments­mit­glieds, son­dern des gesam­ten Rates und ana­ly­sie­ren somit die Wir­kung einer Grup­penemo­ti­on auf die von die­ser Grup­pe gefäll­te Entscheidung.

Kon­kret unter­su­chen wir die Wir­kung von ent­spre­chend im Amt­li­chen Bul­le­tin ver­merk­ter «Hei­ter­keit» bzw. «Bei­fall» (als eher posi­ti­ve Emo­tio­nen) sowie «teil­wei­ser Hei­ter­keit», «teil­wei­sem Bei­fall»[1] und «Unru­he» (als eher nega­ti­ve Emo­tio­nen) auf den Kon­flikt­grad einer nach­fol­gen­den Ent­schei­dung. Der Kon­flikt­grad ist am nied­rigs­ten bei einer ein­stim­mi­gen Ent­schei­dung und am stärks­ten aus­ge­prägt bei einem 50:50-Entscheid.

Unse­re Meh­re­be­nen­ana­ly­sen, die neben den Emo­tio­nen ver­schie­de­ne Kon­troll­va­ria­blen umfas­sen (vgl. Abbil­dung 1), legen in der Tat nahe, dass sich eine im Amt­li­chen Bul­le­tin ver­merk­te nega­ti­ve Stim­mung im Rat auf den Kon­flikt­grad aus­wirkt: Abstim­mun­gen, die nach Auf­tre­ten teil­wei­ser Hei­ter­keit, teil­wei­sem Bei­fall und Unru­he durch­ge­führt wer­den, sind signi­fi­kant kon­flikt­rei­cher als Abstim­mun­gen, bei denen vor­gän­gig kei­ne Emo­tio­nen ver­merkt wur­den. Kei­ne Wir­kung schei­nen hin­ge­gen posi­ti­ve Emo­tio­nen zu haben. Die Kon­troll­va­ria­blen legen zudem nahe, dass Kon­flik­te in Detail­ab­stim­mun­gen stär­ker sind als bei Gesamt- und Schluss­ab­stim­mun­gen und dass die­se im Natio­nal­rat häu­fi­ger auf­tre­ten als im Ständerat.

Abbildung 1: Einfluss des Auftretens von Emotionen in einem Rat auf die Konfliktivität einer nachfolgenden Entscheidung

 

Negative Emotionen als zunehmende Belastung der Konkordanz?

Muss man nun also um die Kon­kor­danz fürch­ten, weil sich ein zuneh­mend aggres­si­ver Poli­tik­stil im Par­la­ment nicht nur in Form nega­ti­ver Emo­tio­nen, son­dern eben auch abneh­men­der Kom­pro­miss­be­reit­schaft bemerk­bar macht?

Die Ana­ly­se der Ent­wick­lung der im Amt­li­chen Bul­le­tin anno­tier­ten Emo­tio­nen legt nahe, dass die­se Befürch­tung unbe­grün­det ist. Wie in Abbil­dung 2 zu beob­ach­ten ist, scheint es im Par­la­ment ers­tens nur äus­serst sel­ten zu Emo­tio­nen zu kom­men: Bei nur gera­de 2.5 Pro­zent aller rund 182’000 Reden zwi­schen 1995 und 2018 fin­det sich eine Anno­ta­ti­on, die Emo­tio­nen anzeigt. Zwei­tens han­delt es sich dabei in der Mehr­heit der Fäl­le um Hei­ter­keit. Die nega­ti­ven Emo­tio­nen sind nicht nur wesent­lich sel­te­ner, son­dern es lässt sich auch kein Trend zu immer häu­fi­ge­rem Auf­tre­ten nach­zeich­nen. Zusätz­li­che Ana­ly­sen zei­gen sogar, dass kon­flik­ti­ves Abstim­mungs­ver­hal­ten zwar zunimmt, dies aber immer sel­te­ner mit nega­ti­ven Emo­tio­nen einhergeht.

Abbildung 2: Emotionen im Zeitverlauf

Fest­hal­ten lässt sich also, dass nega­ti­ve Emo­tio­nen zwar in der Tat zu umstrit­te­ne­ren Ent­schei­den füh­ren, ein zuneh­men­der aggres­si­ver Poli­tik­stil lässt sich aber im eid­ge­nös­si­schen Par­la­ment nicht mes­sen. Zwar schei­nen umstrit­te­ne­re Ent­schei­dun­gen in den Räten ten­den­zi­ell zuzu­neh­men, dies ist aber nicht auf eine zuneh­mend emo­tio­nal geführ­te Debat­te zurückzuführen.


[1] Wir argu­men­tie­ren, dass teil­wei­se Hei­ter­keit und teil­wei­ser Bei­fall im Gegen­satz zu Hei­ter­keit und Bei­fall im gesam­ten Rat eher auf Häme oder Spott hin­deu­ten, die nur bei einem Teil des Rates aus­ge­löst werden.


Refe­renz:

Hei­del­ber­ger, Anja und Marc Bühl­mann (2019). «Polit­stil der Pro­vo­ka­ti­on» als Gefahr für die Kon­kor­danz? Emo­tio­nen bei par­la­men­ta­ri­schen Debat­ten. In: Kon­kor­danz im Par­la­ment. Zürich: NZZ Libro, Rei­he „Poli­tik und Gesell­schaft in der Schweiz“.

Bild: Wiki­me­dia Commons

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