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Durch Verdoppeln einbeziehen: Ämterkumulation in der Schweiz

Alexander Arens, Rahel Freiburghaus
27th November 2019

Die Kumulation politischer Ämter unterschiedlicher Staatsebenen wird in der öffentlichen Wahrnehmung zumeist kritisch beäugt. Dieser Beitrag kehrt die Perspektive um und betrachtet Ämterkumulation als einen aus konkordanzdemokratischer Perspektive wünschenswerten Kanal des Einbezugs subnationaler Kräfte in die Entscheidungsfindung des Bundes. Doch inwiefern sind die Kantone und Gemeinden über Ämterkumulation in die nationale Politik eingebunden?

 

Wäre der Berner Finanzdirektorin Beatrice Simon (BDP) bei den eidgenössischen Wahlen der Sprung in den Ständerat gelungen, hätte dies für die Regierung des Kantons automatisch eine Ersatzwahl nach sich gezogen. So will es die Kantonsverfassung, die es den Mitgliedern des Regierungsrates verbietet, gleichzeitig der Bundesversammlung anzugehören (Art. 68 Abs. 3 KV-BE). Solche in zahlreichen Kantonen bestehenden Unvereinbarkeitsklauseln lassen sich mitunter als Ausdruck dafür verstehen, dass Ämterkumulation (auch: «cumul des mandats», Doppelmandate) – das gleichzeitige Ausüben eines nationalen Parlaments- und eines kantonalen und/oder kommunalen Exekutiv- oder Legislativmandats – nach allgemein herrschender Überzeugung nicht wünschenswert ist. Ämterkumulation impliziert Machtballung in den Händen Einzelner entgegen der für eine Konkordanzdemokratie charakteristischen Teilhabe möglichst vieler Personen am politischen Prozess. Doch lässt sich Ämterkumulation nicht auch als spezifische Form der aus konkordanzdemokratischer Sicht ebenfalls wünschenswerten Einbindung föderaler Kräfte in die Entscheidungsfindung des Bundes werten?

Ämterkumulation als Verkörperung von Konkordanz und Föderalismus

Konkordanz und Föderalismus bilden – nebst der direkten Demokratie – die zentralen Pfeiler des politischen Systems der Schweiz. Während Konkordanz mitunter die Einbindung der wichtigsten politischen Kräfte besagt (vgl. Lehmbruch 1967; Lijphart 1977), sieht das föderale Prinzip vor allem gemeinsames Entscheiden von nationalen und gliedstaatlichen Vertreter*innen im Bund vor (vgl. Elazar 1987). Im Kern bedeuten sowohl Konkordanz als auch Föderalismus Machtteilung (Lijphart 1985).

In dieser Lesart vereinigt Ämterkumulation beide Merkmale: Durch eine bzw. einen Doppelmandatsträger*in lassen sich die Interessen der Kantone und Gemeinden – zwei wichtige politische Kräfte in der bundesstaatlichen Architektur der Schweiz – auf der nationalen Ebene prozedural einbeziehen. Ein solch prozeduraler Einbezug ergänzt die vertikalen Föderalismusinstitutionen wie bspw. den Ständerat (Art. 150 BV) oder das Ständemehr (Art. 142 BV), die ausschliesslich den Kantonen, nicht aber den Gemeinden, offenstehen. Für die Kantone stellt «cumul des mandats» somit bloss einen unter vielen Zugangspunkten zur Bundesebene dar. Demgegenüber ist der schweizerische Bundesstaat weitestgehend «gemeindeblind» (Seiler 2001: 493), womit Ämterkumulation aus kommunaler Sicht einer unter wenigen Einflusskanälen ist.

Datengrundlage
Die Analyse basiert auf Angaben zu allen 246 Mitgliedern der Schweizer Bundesversammlung pro Jahr (Beobachtungen) zwischen 1985 und 2018 (N=8’364). Der Datensatz erfasst insgesamt 986 Parlamentsmitglieder.

Die Angaben basieren primär auf dem «Register der Interessenbindungen», welches jeweils Anfang Jahr erscheint. Diese wurden mit den Biografien der Ratsmitglieder, der «Base de données des élites suisses au XXe siècle», dem «Historischen Lexikon der Schweiz (HLS)», persönlichen Websites, Medienberichten und weiteren Onlinequellen abgeglichen.

Abbildung 1: Kategorien von Ämterkumulation (1985-2018)

Quelle: eigener Datensatz, vgl. Infobox.

Anmerkung: Abbildung 1 liegen prinzipiell alle 8’362 Beobachtungen (Parlamentsmitglieder pro Jahr; zwei Missings ausgeschlossen) zugrunde. Während der linke Teil den Anteil von Beobachtungen mit Ämterkumulation jenem ohne Ämterkumulation gegenüberstellt, handelt es sich beim rechten Teil ausschliesslich um die Gruppe der Beobachtungen mit vorhandener Ämterkumulation. Der rechte zeigt im Vergleich zum linken Teil besser lesbar auf, wie stark die einzelnen Kategorien besetzt sind.

Ausmass und Formen von Ämterkumulation in der schweizerischen Bundesversammlung (1985–2018)

Zwischen 1985 und 2018 lag bei 18.6 Prozent aller Beobachtungen (Parlamentsmitglied pro Jahr) Ämterkumulation vor (Abbildung 1), wobei das nationale vor allem mit einem lokalen Mandat – insbesondere einem Exekutivamt (d.h. Gemeinderat) – kumuliert wird. Umgekehrt sind es eher Mitglieder der kantonalen Parlamente (d.h. Gross- bzw. Kantonsrat) denn der Regierungen (d.h. Regierungs- bzw. Staatsrat), die zeitgleich Mitglied der eidgenössischen Räte sind. Ausgenommen sind wenige Kantone, in denen die kantonalen Exekutivmitglieder meist zusätzlich auch im nationalen Parlament vertreten sind. Ein Beispiel ist der Kanton Appenzell Innerrhoden, in dem amtierende Mitglieder der Standeskommission traditionell auch in der Bundesversammlung Einsitz nehmen.

Abbildung 2: Anteil an Ämterkumulation aller Parlamentsmitglieder (1985-2018)

Quelle: eigener Datensatz, vgl. Infobox.

Anmerkung: Abbildung 2 liegen alle 986 Parlamentarier*innen zugrunde. Diese wurden entsprechend des Grads an Überschneidung zwischen nationalem und subnationalem politischem Amt gruppiert. Ämterkumulation kann in jedem oder keinem Amtsjahr eines Parlamentsmitglieds vorliegen oder in einzelnen bzw. einigen, nicht aber in allen Jahren bestehen.

Das Ausmass an Ämterkumulation wird jedoch schnell unterschätzt. So zeigt Abbildung 2, dass weit mehr als ein Drittel (ca. 37.3 Prozent) aller Mitglieder der Bundesversammlung in jedem oder zumindest in Teilen ihrer nationalen Amtsjahre parallel ein subnationales Mandat bekleidet.

Wie lassen sich die unterschiedlichen Befunde aus Abbildung 1 und 2 erklären? Prinzipiell sinkt der Anteil an «cumul des mandats» über die Zeit, was primär dem Rückgang an Doppelmandaten in Form von nationalem und kantonalem Amt geschuldet ist (Abbildung 3). Zunehmende Arbeitslast, vermehrte kantonale Unvereinbarkeitsklauseln sowie parteistatutarische Grenzen sind mögliche Erklärungsansätze. Als einer unter vielen kantonalen Einflusskanälen ist Ämterkumulation deswegen heute nahezu inexistent.

Interessanterweise zeigt die zeitliche Entwicklung an Mitgliedern in den eidgenössischen Räten, die auch ein kommunales Amt bekleiden, in die umgekehrte Richtung: Seit Beginn der 1990er-Jahre steigt der Anteil auf tiefem Niveau an. Damit könnte Ämterkumulation für Gemeinden tatsächlich einen unter wenigen Zugangspunkten darstellen. Dies erscheint vor allem für städtische Gemeinden plausibel: Bei letzteren klaffen gesamtwirtschaftliche bzw. -gesellschaftliche Bedeutung und die weitgehend fehlenden institutionell gesicherten Mitwirkungsmöglichkeiten besonders weit auseinander.

Ferner deutet Abbildung 3 auf Spitzen der Anteilswerte zu Beginn einer jeden Legislatur hin. Dies verweist auf das häufige Phänomen unfreiwilliger Ämterkumulation: Neu in die Bundesversammlung gewählte Parlamentarier*innen geben ihr kantonales (bzw. kommunales) Amt aufgrund von Übergangsphasen erst nach einer Weile ab. Ein aktuelles Beispiel ist der im Mai 2019 in den Ständerat gewählte und Mitte November im Amt bestätigte St. Galler Finanzdirektor Benedikt Würth (CVP), der bis Ende Mai 2020 in der kantonalen Regierung verbleibt. Gleiches gilt für den Neo-Ständerat Othmar Reichmuth (CVP). Der Vorsteher des Baudepartements des Kantons Schwyz und ehemalige Landammann gab unlängst bekannt, mit neuem Mandat auf Bundesebene bei den Gesamterneuerungswahlen im nächsten Frühling nicht mehr kandidieren zu wollen.

Abbildung 3: Anteil an Ämterkumulation über die Zeit (1985-2018)

Quelle: eigener Datensatz, vgl. Infobox.

Anmerkung: Die Zeitreihen bilden den Anteil an Ämterkumulation pro Jahr ab. Aufgrund von Dreifachmandaten (national-kantonal-lokal) ergibt eine Aggregation der untergeordneten Zeitreihen (national-kantonal und national-lokal) nicht in jedem Jahr die übergeordnete Zeitreihe aus nationalem und kantonalem bzw. lokalem Amt.

Insgesamt bestätigt die Analyse die generell sinkende Relevanz von Ämterkumulation im Schweizer Parlament (Pilotti 2017: 262–267). Gleichzeitig ist eine differenzierte Betrachtung vonnöten: Nebst der Unterscheidung nach Staatsebene ergeben sich hier nicht berichtete unterschiedliche Muster nach Fraktion und vor allem nach Kanton. Dies verweist auf eine je nach Kontext unterschiedliche Bedeutung. Die Beurteilung von Einzelfällen in der öffentlichen Diskussion ist damit nicht nur legitim, sondern durchaus angezeigt: Sofern die Doppelmandatsträger*innen auch wirklich gewillt sind, kantons- bzw. gemeindespezifische Interessen in den nationalen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess einzubringen, vermag Ämterkumulation das Prinzip der Einbindung zu unterstützen – gerade dank der in einer Konkordanzdemokratie eigentlich unerwünschten Machtkonzentration in den Händen Einzelner.


Referenz:

Arens, Alexander und Rahel Freiburghaus (2019). Durch Verdoppeln einbeziehen: Ämterkumulation in der Schweiz. In: Konkordanz im Parlament. Zürich: NZZ Libro, Reihe „Politik und Gesellschaft in der Schweiz“.

Bibliographie:

  • Elazar, Daniel J. (1987). Exploring Federalism. Tuscaloosa, AL: University of Alabama Press.
  • Lehmbruch, Gerhard (1967). Proporzdemokratie. Politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Österreich. Tübingen: J. C. B. Mohr.
  • Lijphart, Arend (1977). Democracy in Plural Societies. A Comparative Exploration. New Haven, CT/London: Yale University Press.
  • Lijphart, Arend (1985). «Non-Majoritarian Democracy: A Comparison of Federal and Consociational Theories». Publius: The Journal of Federalism 15(2): 3–15.
  • Pilotti, Andrea (2017). Entre démocratisation et professionnalisation. Le Parlement suisse et ses membres de 1910 à 2016. Zürich/Genf: Seismo.
  • Seiler, Hansjörg (2001). «Gemeinden im schweizerischen Staatsrecht». S. 491–506. In Schweizerisches Verfassungsrecht, 3. Auflage, hrsg. v. Daniel Thürer, Jean-François Aubert und Jörg P. Müller. Basel: Helbing + Lichtenhahn: Basel.

Bild: Parlamentsdienste, 3003 Bern