Populismus und direkte Demokratie – Eine Liebe auf den ersten Blick

Wer ist das Volk, was möch­te das Volk und wer darf für sich bean­spru­chen, in sei­nem Namen zu ent­schei­den? Popu­lis­ten glau­ben die Ant­wort zu ken­nen. Wir zei­gen in unse­rer Ana­ly­se, dass Men­schen mit popu­lis­ti­schen Ein­stel­lun­gen der direk­ten Demo­kra­tie gegen­über sehr posi­tiv ein­ge­stellt sind und erklä­ren, war­um dies so ist. 

Vie­le aktu­el­le poli­ti­sche Debat­ten in Euro­pa dre­hen sich um die Fra­ge nach dem “wah­ren” Volks­wil­len und sei­ner Umset­zung. Popu­lis­ti­sche Par­tei­en stel­len sich häu­fig als die ein­zig rich­ti­ge Ver­tre­tung des Volks­wil­lens dar. Sie geben vor, den Wil­len der Bevöl­ke­rung zu ken­nen und die­sen – sofern es die Mehr­heits­ver­hält­nis­se erlau­ben – so direkt wie mög­lich umzusetzen.

Volk und Eli­te: Was Popu­lis­mus bedeutet
Per­so­nen mit popu­lis­ti­schen Ein­stel­lun­gen tei­len die Bevöl­ke­rung in Eli­te und Volk ein. Wer genau in wel­che Kate­go­rie fällt, ist aber nicht so klar defi­niert. Wäh­rend für eini­ge das Volk natio­nal oder eth­nisch defi­niert ist, bezieht sich die­se Ein­tei­lung bei ande­ren auf die Zuge­hö­rig­keit zu sozia­len Klas­sen. Gemein­sam ist den Populist*innen, dass sie die Eli­te ableh­nen und als kor­rupt betrach­ten, wäh­rend das Volk als gut gilt – dies sowohl im Sin­ne mora­li­scher Über­le­gen­heit als auch als homo­ge­ne Ein­heit, die weiss, was das Bes­te für das Land ist.

Popu­lis­ti­sche Par­tei­en for­dern in vie­len euro­päi­schen Län­dern mehr direk­te Demo­kra­tie. Man kann dar­in einen Wider­spruch oder ein macht­stra­te­gi­sches Kal­kül erken­nen — oder auch die Absicht popu­lis­ti­scher Par­tei­en aus­ma­chen, den Volks­wil­len kon­ti­nu­ier­lich über­mit­telt zu bekom­men, um ihm als regie­ren­de Par­tei zum Durch­bruch zu verhelfen.

In die­sem Zusam­men­hang stellt sich die Fra­ge, in wie weit Men­schen mit popu­lis­ti­schen Ein­stel­lun­gen (mehr) direk­te Demo­kra­tie beja­hen und in der direk­ten Par­ti­zi­pa­ti­on der Bevöl­ke­rung an poli­ti­schen Sach­ent­schei­dun­gen einen Wert an sich erken­nen. Die­ser Fra­ge – wie Men­schen mit popu­lis­ti­schen Ein­stel­lun­gen zu direk­ter Demo­kra­tie ste­hen – gin­gen wir in unse­rer Ana­ly­se nach (sie­he Moh­ren­berg et al. 2019).

 Populist*innen und stealth democrats : Eine Abgrenzung

In der poli­tik­wis­sen­schaft­li­chen Dis­kus­si­on wird häu­fig argu­men­tiert, dass Populist*innen (mehr) direk­te Demo­kra­tie for­dern, weil sie auch eine soge­nann­te Tarn­kap­pen­de­mo­kra­tie befür­wor­ten. Wir unter­su­chen in unse­rer Ana­ly­se auch, inwie­fern es im poli­ti­schen Den­ken zwi­schen Popu­lis­ten und Tarn­kap­pen-Demo­kra­ten Unter­schie­de gibt in Bezug auf die Unter­stüt­zung der direk­ten Demokratie.

Defi­ni­ti­on Tarnkappendemokratie
Der Begriff ste­alth demo­cra­cy, zu Deutsch in etwa Tarn­kap­pen­de­mo­kra­tie, hat sich im poli­tik­wis­sen­schaft­li­chen Dis­kurs eta­bliert. Im Unter­schied zu Populist*innen hegen soge­nann­te ste­alth demo­crats aber nur gerin­ge Erwar­tun­gen an das Volk. Sie ten­die­ren viel­mehr dazu, nor­ma­le Bürger*innen gering zu schät­zen. Es ist ihnen zudem rela­tiv gleich­gül­tig, wer genau ein Land regiert, solan­ge ihrer Mei­nung nach rich­tig regiert wird, d.h. solan­ge sie mit den getrof­fe­nen poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen ein­ver­stan­den sind.
Populismus, stealth democracy und direkte Demokratie

Wir argu­men­tie­ren, dass aus der Per­spek­ti­ve von ste­alth demo­crats direkt-demo­kra­ti­sche Ver­fah­ren pri­mär als poli­ti­sche Not­brem­se fun­gie­ren, die zwar immer ver­füg­bar sind, aber nur dann zur Anwen­dung kom­men soll­ten, wenn sich die poli­ti­schen Entscheidungsträger*innen zu weit von den Prä­fe­ren­zen der Bürger*innen ent­fer­nen (Hib­bing und Theiss-Mor­se 2002). Zudem unter­stüt­zen ste­alth demo­crats die Idee, dass Geschäfts­leu­te oder Exper­ten von aus­ser­halb der herr­schen­den poli­ti­schen Eli­te und des Par­tei­en­spek­trums wich­ti­ge poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen treffen.

Populist*innen tei­len die­se Sicht auf direk­te Demo­kra­tie nicht. Sie unter­stüt­zen direkt­de­mo­kra­ti­sche Ver­fah­ren grund­sätz­lich, also unab­hän­gig von der kon­kre­ten Sach­vor­la­ge. Populist*innen sehen direkt-demo­kra­ti­sche Instru­men­te viel mehr als Garant dafür, dass die aus ihrer Sicht “gute” und zu “gutem poli­ti­schen Han­deln” fähi­ge Bevöl­ke­rung ihre eige­nen Geschi­cke len­ken kann (Mül­ler 2016). Die direk­te Teil­ha­be an poli­ti­schen Sach­ent­schei­dun­gen ist im Welt­bild der Populist*innen daher die grund­sätz­lich bes­se­re Alter­na­ti­ve (oder zwin­gen­de Ergän­zung) zur reprä­sen­ta­ti­ven Demokratie.

Personen mit ausgeprägter populistischer Einstellung mögen direktdemokratische Verfahren

Unse­re Ergeb­nis­se zei­gen, dass Men­schen mit aus­ge­präg­ter popu­lis­ti­scher Ein­stel­lung direkt­de­mo­kra­ti­sche Ver­fah­ren stär­ker prä­fe­rie­ren als Men­schen mit weni­ger stark aus­ge­präg­ter popu­lis­ti­scher Ein­stel­lung. Per­so­nen, die die typi­schen Ein­stel­lun­gen von ste­alth demo­crats tei­len, zei­gen eben­falls die erwar­te­te Prä­fe­renz für direk­te Demokratie.

Die­se direkt­de­mo­kra­ti­schen Prä­fe­ren­zen von Populist*innen und ste­alth demo­crats sind in unse­ren Ana­ly­sen aber unab­hän­gig von­ein­an­der. Dies wer­ten wir als Unter­stüt­zung der hier ein­gangs aus­ge­führ­ten Posi­ti­on, dass Populist*innen und ste­alth demo­crats direk­te Demo­kra­tie aus unter­schied­li­chen Moti­ven her­aus gut­heis­sen und dass popu­lis­ti­sche Zustim­mung zu direk­ter Demo­kra­tie nicht von tarn­kap­pen­de­mo­kra­ti­schen Vor­stel­lun­gen abhängt.

Abbildung 1: Unterstützung für die direkte Demokratie mit populistischen Einstellungen

Lesehinweis: Die Abbildungen fassen die Simulationen unserer Analyse zusammen. Die Punkte zeigen den Median und die Linien jeweils 95%-Konfidenzintervalle (als linker und rechter Endpunkt der horizontalen Linien dargestellt) dieser Simulationen. In jeder einzelnen Simulation wird geschätzt, wie sich die abhängige Variable «Unterstützung direkter Demokratie» verändert, wenn eine bestimmte unabhängige Variable von einem niedrigen Wert (z.B. 1. Quartil (Q1)) zu einem hohen Wert (z.B. 3. Quartil (Q3)) geändert wird, während alle anderen unabhängigen Variablen auf ihrem Mittelwert oder Median konstant gehalten werden.

Zusam­men­fas­send kön­nen wir fest­hal­ten, dass Men­schen mit popu­lis­ti­schen Ein­stel­lun­gen (mehr) direk­te Demo­kra­tie gut­heis­sen. Die­se Prä­fe­renz scheint direkt mit den bei­den Dimen­sio­nen popu­lis­ti­scher Ein­stel­lun­gen (anti-Eli­tis­mus und Glau­be an das gute und tugend­haf­te Volk) zusam­men­zu­hän­gen, unab­hän­gig davon, ob jemand typi­sche tarn­kap­pen­de­mo­kra­ti­sche Ansich­ten eines ste­alth demo­crats teilt. Wir kom­men in allen vier von uns betrach­te­ten Län­dern (Gross­bri­tan­ni­en, Frank­reich, Schweiz und Deutsch­land) zu einem recht ähn­li­chen Ergeb­nis, obwohl sich das Niveau der Unter­stüt­zung direk­ter Demo­kra­tie zwi­schen den vier Län­dern unterscheidet.

Wei­ter­hin geht gemäss unse­rer Ergeb­nis­se die indi­vi­du­el­le Unter­stüt­zung für direk­te Demo­kra­tie mit Unter­stüt­zung für eine popu­lis­ti­sche Par­tei im eige­nen Land ein­her. Wir bewer­ten all dies zusam­men­ge­nom­men als Hin­weis dar­auf, dass Ein­stel­lun­gen zur direk­ten Demo­kra­tie in allen Län­dern auch his­to­risch gewach­sen sind und sich in Reak­ti­on auf das aktu­el­le poli­ti­sche Sys­tem mit sei­nen Akteu­ren (z.B. popu­lis­ti­sche Par­tei­en, die mehr direk­te Demo­kra­tie ein­for­dern) ste­tig wei­ter­ent­wi­ckelt. Popu­lis­tisch ein­ge­stell­te Men­schen füh­len sich also durch­aus hin­ge­zo­gen zur direk­ten Demo­kra­tie. Wir hal­ten es aber auch für wahr­schein­lich, dass popu­lis­ti­sche Par­tei­en und Tra­di­tio­nen hier als qua­si-Hei­rats­ver­mitt­ler nachhelfen.

Daten und Methoden
Wir ver­wen­den in unse­rer Ana­ly­se zwei unter­schied­li­che Mess­in­stru­men­te für die indi­vi­du­el­le Unter­stüt­zung der direk­ten Demo­kra­tie. Unse­re ers­te abhän­gi­ge Varia­ble misst die Bewer­tung direkt­de­mo­kra­ti­scher Ele­men­te als mehr oder weni­ger wich­tig für eine funk­tio­nie­ren­de Demo­kra­tie (in Abbil­dung 1 als «gene­ral sup­port for direct demo­cra­cy» bezeich­net). Unse­re zwei­te abhän­gi­ge Varia­ble hin­ge­gen misst den Grad der Ableh­nung jeg­li­cher gesetz­li­cher Ein­schrän­kun­gen der The­men, über die direkt­de­mo­kra­tisch ent­schie­den wer­den darf (in Abbil­dung 1 als «uncon­di­tio­nal sup­port for direct demo­cra­cy» bezeichnet).

Das Aus­mass indi­vi­du­el­ler popu­lis­ti­scher Ein­stel­lung wie­der­um mes­sen wir basie­rend auf der indi­vi­du­el­len Zustim­mung zu (1) anti-eli­tis­ti­schen State­ments und (2) zu State­ments, in denen «das Volk» als «gut» und tugend­haft gese­hen wird – ana­log der obi­gen Aus­füh­run­gen zu den zwei defi­ni­to­ri­schen Merk­ma­len von Popu­lis­mus. Unse­re Daten­ba­sis besteht aus den Ant­wor­ten von 4’000 Per­so­nen aus in vier west­eu­ro­päi­schen Demo­kra­tien (Frank­reich, Deutsch­land, Schweiz und Gross­bri­tan­ni­en) durch­ge­führ­ten stan­dar­di­sier­ten Inter­views (NCCR Demo­cra­cy 2006).


Quel­le:

Refe­ren­zen:

  • Bow­ler, Shaun, David Denemark, Todd Dono­van, and Dun­can McDon­nell. 2017. ‘Right-Wing Popu­list Par­ty Sup­por­ters: Dis­sa­tis­fied but Not Direct Demo­crats’. Euro­pean Jour­nal of Poli­ti­cal Rese­arch 56(1): 70–91.
  • Haw­kins, Kirk A., und Cris­tó­bal Rovi­ra Kalt­was­ser. 2018. ‘Intro­duc­tion: The Ide­a­tio­nal Approach’. In The Ide­a­tio­nal Approach to Popu­lism: Con­cept, Theo­ry, and Method, eds. Kirk A. Haw­kins, Ryan E. Car­lin, Leven­te Litt­vay, und Cris­tó­bal Rovi­ra Kalt­was­ser. Rout­ledge, 1–24.
  • Hib­bing, John R., and Eliza­beth Theiss-Mor­se. 2002. Ste­alth Demo­cra­cy: Ame­ri­cans’ Beliefs about How Government Should Work. Cam­bridge ; New York: Cam­bridge Uni­ver­si­ty Press.
  • Mül­ler, Jan-Wer­ner. 2016. What Is Popu­lism? Phil­adel­phia: Uni­ver­si­ty of Penn­syl­va­nia Press.
  • NCCR Demo­cra­cy 2016. Demo­cra­tic Gover­nan­ce and Citi­zenship Natio­nal Sur­vey [Data­set], FORS Lausanne.
  • Webb, Paul. 2013. ‘Who Is Wil­ling to Par­ti­ci­pa­te? Dis­sa­tis­fied Demo­crats, Ste­alth Demo­crats and Popu­lists in the United King­dom’. Euro­pean Jour­nal of Poli­ti­cal Rese­arch 52(6): 747–72.
Bild: flickr
image_pdfimage_print