Surfen, um zu helfen? Wie die Internetnutzung soziale Ungleichheiten ausgleicht

Das Inter­net hat die Ver­net­zung der Gesell­schaft enorm beschleu­nigt. Die Sor­ge um eine zuneh­men­de Indi­vi­dua­li­sie­rung ist der Hoff­nung auf eine Stär­kung des sozia­len Kitts durch digi­ta­le Tech­no­lo­gien gewi­chen. Eine neue Stu­die tes­tet die­se Erwar­tung anhand von Umfra­ge­da­ten aus 27 euro­päi­schen Län­dern und über 26000 Befrag­ten. Die Ergeb­nis­se zei­gen, dass Men­schen die häu­fi­ger das Inter­net nut­zen, auch eher bereit sind, sich frei­wil­lig für ande­re zu enga­gie­ren. Beson­ders aus­ge­prägt ist die­ser Zusam­men­hang unter ande­rem für Men­schen mit nied­ri­gem Bil­dungs­stand und Men­schen ohne Beschäftigung.

Die Nut­zung des Inter­nets ist für die meis­ten Men­schen in Euro­pa inzwi­schen zur täg­li­chen Gewohn­heit gewor­den. Wäh­rend wis­sen­schaft­li­che Beob­ach­ter zunächst die Befürch­tung geäu­ßert haben, dass dadurch per­sön­li­che Kon­tak­te und das gesell­schaft­li­che Enga­ge­ment in Mit­lei­den­schaft gezo­gen wer­den könn­ten, hat sich inzwi­schen eine posi­ti­ve Sicht­wei­se auf die zuneh­men­de Ver­net­zung der Gesell­schaft durch­ge­setzt. Ein­fa­che und schnel­le Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten ver­stär­ken sozia­le Kon­tak­te und bie­ten neue Mög­lich­kei­ten zum Aus­tausch. Das Inter­net, so die Annah­me, wirkt also eher akti­vie­rend als iso­lie­rend. Wir haben die­se Annah­me empi­risch über­prüft. Im Zen­trum unse­rer Stu­die steht das frei­wil­li­ge Enga­ge­ment von Bür­ge­rin­nen und Bür­gern als Kern einer leben­di­gen Zivilgesellschaft.

Internetnutzung hängt positiv mit freiwilligem Engagement zusammen

War­um soll­te die Inter­net­nut­zung gera­de mit der Bereit­schaft, sich frei­wil­lig für ande­re und das gesell­schaft­li­che Mit­ein­an­der ein­zu­set­zen, zusam­men­hän­gen? Zen­tral ist hier­bei die Annah­me, dass sozia­le Inter­ak­tio­nen durch die Nut­zung digi­ta­ler Tech­no­lo­gien nicht ersetzt, son­dern ergänzt wer­den. Das Inter­net kann nicht nur als Unter­hal­tungs- und Infor­ma­ti­ons­me­di­um genutzt wer­den, son­dern auch zur Pfle­ge sozia­ler Kon­tak­te. Frei­wil­li­ge kön­nen sich koor­di­nie­ren und Infor­ma­tio­nen aus­tau­schen. Orga­ni­sa­tio­nen kön­nen über Platt­for­men Frei­wil­li­ge rekru­tie­ren und für Frei­wil­li­gen­pro­jek­te wer­ben. Kurz­um, das Inter­net ver­ein­facht die Kom­mu­ni­ka­ti­on und den Aus­tausch von Infor­ma­tio­nen und erleich­tert und ermög­licht damit frei­wil­li­ges Engagement.

Unse­re Befun­de unter­stüt­zen die­se The­se. Anhand von Daten aus 27 euro­päi­schen Län­dern kön­nen wir zei­gen, dass die regel­mäs­si­ge Nut­zung des Inter­nets mit einer stär­ke­ren Bereit­schaft zu frei­wil­li­gem Enga­ge­ment ein­her­geht. Der Zusam­men­hang zeigt sich wei­test­ge­hend unab­hän­gig vom Ziel­be­reich des Enga­ge­ments, also für Sport­ver­ei­ne glei­cher­ma­ßen wie für Kul­tur­ver­ei­ne. Ledig­lich das Enga­ge­ment in kirch­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen und Ver­ei­nen, die sich für die Belan­ge von Min­der­hei­ten, Älte­ren und Kon­su­men­ten ein­set­zen, steht in kei­nem Zusam­men­hang mit der Nut­zung des Internets.

Daten und Methode
Für unse­re Stu­die haben wir Umfra­ge­da­ten des Euro­ba­ro­me­ters 75.2 ver­wen­det. Die Daten wur­den anhand einer geschich­te­ten Zufalls­stich­pro­be und mit­tels per­sön­li­cher Inter­views von 26’825 Befrag­ten in 27 euro­päi­schen Län­dern im Jahr 2011 erho­ben. Zu die­sem Zeit­punkt war die Vari­anz in der Inter­net­nut­zung noch deut­lich grös­ser, so dass dies ein geeig­ne­ter Indi­ka­tor für den Nut­zungs­grad digi­ta­ler Tech­no­lo­gien ist. Unse­re dicho­to­me unab­hän­gi­ge Varia­ble bil­det ab, ob Befrag­te das Inter­net zuhau­se täglich/fast täg­lich (1) oder sel­te­ner (0) nut­zen. Als abhän­gi­ge Varia­ble ver­wen­den wir eine kate­go­ria­le Varia­ble, wel­che die Häu­fig­keit des frei­wil­li­gen Enga­ge­ments der Befrag­ten erfasst: kein frei­wil­li­ges Enga­ge­ment (1), gele­gent­li­ches frei­wil­li­ges Enga­ge­ment (2) und regel­mä­ßi­ges frei­wil­li­ges Enga­ge­ment (3). Wir schät­zen ordi­nal-logis­ti­sche Meh­re­be­nen­mo­del­le, die ver­schie­de­ne Kon­troll­va­ria­blen (z.B. Alter, Geschlecht, Bil­dungs­stand) berück­sich­ti­gen. In einem zwei­ten Schritt unter­su­chen wir anhand von Inter­ak­ti­ons­ef­fek­ten, ob der Zusam­men­hang zwi­schen Inter­net­nut­zung und Frei­wil­lig­keit über  gesell­schaft­li­che Grup­pen hin­weg variiert.
Abbildung: Der Zusammenhang zwischen Internetnutzung und freiwilligem Engagement

Anmer­kun­gen: Dar­ge­stellt sind die Regres­si­ons­ko­ef­fi­zi­en­ten (Punk­te) und das 95%-Konfidenzintervall (waag­rech­te Lini­en) basie­rend auf einem ordi­nal-logis­ti­schen Meh­re­be­nen­mo­dell zur Erklä­rung des frei­wil­li­gen Enga­ge­ments. Schnei­det das Kon­fi­denz­in­ter­vall die rote Null-Linie nicht, ist der Effekt sta­tis­tisch signi­fi­kant. Die signi­fi­kan­ten Effek­te sind in dunk­ler Far­be abgebildet.

Lese­bei­spiel: Das Modell zeigt, dass Per­so­nen, die das Inter­net täg­lich nut­zen, eine höhe­re Wahr­schein­lich­keit haben, sich frei­wil­lig zu enga­gie­ren, als Per­so­nen, die das Inter­net nicht täg­lich nutzen.

Quel­le: Dar­stel­lung auf Basis von Fil­sin­ger et al. (2019)

Soziale Ungleichheiten werden beseitigt

Wie bereits in ande­ren Stu­di­en gezeigt wer­den konn­te, ist es unwahr­schein­lich, dass alle Bevöl­ke­rungs­grup­pen glei­cher­mas­sen von der Nut­zung des Inter­nets pro­fi­tie­ren (vgl. Fil­sin­ger und Frei­tag 2019). Digi­ta­le Tech­no­lo­gien soll­ten vor allem das frei­wil­li­ge Enga­ge­ment derer stei­gern, denen die neu­en Mög­lich­kei­ten zur Ver­net­zung und Infor­ma­ti­ons­ge­win­nung beson­ders nut­zen. Sie soll­ten also dazu bei­tra­gen, sozia­le Ungleich­hei­ten im Zugang zu Netz­wer­ken und Infor­ma­tio­nen aus­zu­glei­chen und damit die Frei­wil­li­gen­ar­beit auf eine brei­te­re gesell­schaft­li­che Basis stel­len. Unse­re Ergeb­nis­se zei­gen tat­säch­lich, dass Unter­schie­de zwi­schen Bevöl­ke­rungs­grup­pen exis­tie­ren. Für Men­schen und für Men­schen auf dem Land, aber auch für Men­schen mit nied­ri­gem Bil­dungs­sta­tus und für Men­schen ohne Beschäf­ti­gung ist der posi­ti­ve Zusam­men­hang zwi­schen Inter­net­nut­zung und frei­wil­li­gem Enga­ge­ment stär­ker aus­ge­prägt. Digi­ta­le Tech­no­lo­gien kön­nen die Benach­tei­li­gung sozia­ler Grup­pen im Zugang zu Netz­wer­ken und Infor­ma­tio­nen also durch­aus aus­glei­chen. Mehr noch: Die Inter­net­nut­zung ver­mag die eli­tä­re Schlag­sei­te der Frei­wil­li­gen­ar­beit aufzubrechen.


Refe­renz:

Fil­sin­ger, Maxi­mi­li­an, Kath­rin Acker­mann und Mar­kus Frei­tag. 2019. Sur­fing to help? An empi­ri­cal ana­ly­sis of Inter­net and vol­un­tee­ring in 27 Euro­pean socie­ties. Euro­pean Socie­ties, doi: 10.1080/14616696.2019.1663895.

Biblio­gra­phie:

Fil­sin­ger, Maxi­mi­li­an und Mar­kus Frei­tag. 2019. Inter­net Use and Vol­un­tee­ring: Rela­ti­ons­hips and Dif­fe­ren­ces Across Age and App­li­ca­ti­ons . VOLUNTAS: Inter­na­tio­nal Jour­nal of Vol­un­ta­ry and Non­pro­fit Orga­niz­a­ti­ons, 30(1): 87–97.

Bild: rawpixel.com

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