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Alles über die eidgenössischen Wahlen 2015

Nathalie Giger, Line Rennwald, Anke Tresch
11th December 2018

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) und die Freisinnig-liberale Partei (FDP) gingen als klare Siegerinnen aus den eidgenössischen Wahlen 2015 hervor. Mit den gleichzeitigen Verlusten der Mitteparteien und der Stagnation der politischen Linken waren die Wahlen 2015 damit nicht nur von einem Rechtsrutsch geprägt, sondern führten auch zu einer stärkeren Polarisierung zwischen den politischen Lagern. Die Sondernummer der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft zu den Wahlen 2015 versammelt neun innovative und anregende Artikel, welche die National- und Ständeratswahlen basierend auf Daten aus der Schweizer Wahlstudie Selects aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten.

Mehrdimensionalität der Schweizer Politik, Kampagneneffekte und Populismus als grosse Themen

Die Beiträge decken drei grosse Themenbereiche ab, die auch in internationalen Debatten wichtig sind. Ein erstes grosses Thema ist die Mehrdimensionalität des politischen Raumes in der Schweiz. Dabei geht es darum, dass Schweizer Bürgerinnen und Bürger Präferenzen zu unterschiedlichen Themen haben und dies mitunter zu Konflikten zwischen unterschiedlichen Einstellungen führen kann (siehe z.B. die Beiträge von Kurella und Rosset 2018 oder von Emmenegger et al. 2018). In den letzten Jahren haben wir viel über die Dynamik bzw. die Fluktuation von Einstellungen und Prioritäten der Bürger gelernt und wie die Kampagnendynamik die Meinungsbildung beeinflusst (siehe auch Petitpas und Sciarini 2018). Dies ist auch ein Gebiet, das in dieser Sondernummer angegangen wird. Dabei wird beispielsweise untersucht, welchen Einfluss politische Werbung auf die Parteiwahl hat (Zumofen und Gerber 2018) oder wie sich die Unterstützung von Interessengruppen während der Kampagne auf die Wahlchancen auswirkt (Lutz et al. 2018). Ein dritter grosser Themenblock umfasst den Populismus (siehe auch Beitrag von Simon Bornschier auf de facto), bei dem der Schweiz ja sogar so etwas wie eine Vorreiterrolle zukommt. Konkret wird neben den populistischen Einstellungen der Wählerinnen und Wähler (Bernhard und Hänggli 2018) auch die programmatische Ausrichtung von SVP Kantonalsektionen (Storz und Bernauer 2018) sowie das Persönlichkeitsprofil der SVP-Wählerschaft (Ackermann et al. 2018) angeschaut.

Wissen wir nicht schon alles zum Wahlverhalten der Schweizer?

Wahlforschung wird in der Schweiz in der Tat schon seit mehreren Jahrzehnten betrieben und es stellt sich die Frage, was wir noch Neues zur bestehenden Literatur beitragen können. Unsere Haltung ist klar: Ja, es gibt noch viele spannende Fragen! Zwei Entwicklungen der letzten Jahre haben viel zur Innovationskraft der Artikel beigetragen. Erstens basieren viele Artikel in der Sondernummer auf einer Kombination von verschiedenen Datenquellen. Dies ermöglicht es ganz neue Fragestellungen anzugehen, beispielsweise wie die Medienagenda beeinflusst oder welche Themenaspekte die Bürgerinnen und Bürger wichtig finden (Wüest 2018). Der Gastbeitrag von Sylvia Kritzinger beleuchtet diese Entwicklung im Detail und weist darauf hin, dass heutige Wahlstudien nicht nur Informationen zur Meinungsbildung der Wählerinnen und Wähler erheben, sondern auch zu den Prioritäten von Parteien im Wahlkampf oder eben zur Medienagenda. Diese breit angelegte Datenerhebung erlaubt es den Forschenden neue Fragen zu stellen und zum Beispiel neue Erkenntnisse zum Zusammenspiel von Bürgern, Parteien und Medien zu gewinnen. Ausserdem verknüpfen mehrere Beiträge in dieser Sondernummer verschiedene Datensätze von Selects mit anderen Datenquellen, wie offiziellen Statistiken (Lutz et al. 2018), Parteiprogrammen (Storz und Bernauer 2018) oder den Inseratekampagnen der Parteien in Zeitungen (Zumofen und Gerber 2018). Eine zweite Neuerung, die für den frischen Wind in der Schweizer Wahlforschung verantwortlich ist, betrifft die Öffnung von Selects für spezifische Fragestellungen von Forschenden. Im Vorfeld der Wahlen 2015 konnten die Forschenden konkrete Fragen für die Wahlstudie vorschlagen, welche nach einem kompetitiven Auswahlverfahren teilweise in den offiziellen Fragebogen integriert wurden. Dieses Vorgehen garantiert, dass die Wahlstudie auch Themen aufnimmt, die den Schweizer Forschenden unter den Nägeln brennen und die es ihnen erlauben, spannende neue Forschungsbeiträge zu schreiben. So wurden beispielsweise detaillierte Fragen zur Ausgestaltung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union gestellt. Auch wurde in Selects 2015 zum ersten Mal eine Batterie von Fragen zu populistischen Einstellungen abgefragt, die sowohl von Bernhard und Hänggli (2018) als auch von Storz und Bernauer (2018) verwendet wurden. Dieser Einbezug der Forschungsgemeinde hat sich bewährt und wurde für die Wahlstudie 2019 wiederholt.

Warum erst jetzt Artikel zur Wahl 2015?

Es ist eine berechtigte Frage, warum Studien zu den Wahlen 2015 erst jetzt, mehr als drei Jahre später publiziert werden. Dies hat zum einen mit dem Prozess der Datenerhebung und –veröffentlichung zu tun, der einige Zeit in Anspruch nimmt. Da die Schweizer Wahlstudie auch eine Nachwahlbefragung beinhaltet, d.h. die Stimmberechtigten im Nachhinein über ihr Wahlverhalten befragt wurden, war die Datenerhebung für Selects 2015 erst im Dezember 2015 abgeschlossen. Danach mussten die Daten gesäubert und aufbereitet werden, was wiederum einige Monate in Anspruch nahm. Den Forschenden in der Schweiz standen die wissenschaftlichen Daten für ihre Analysen damit erst ungefähr ein Jahr nach den eidgenössischen Wahlen zur Verfügung. Zum anderen braucht auch der wissenschaftliche Arbeitsprozess seine Zeit und die Artikel, die jetzt veröffentlicht werden, wurden mehrmals redigiert und verbessert. So wurden beispielsweise erste Fassungen der Artikel an einem Workshop im Oktober 2017 präsentiert und diskutiert.

Mehr Transparenz in der Datenanalyse

Zum Schluss möchten wir noch auf eine weitere Neuerung hinweisen, die für diese Sondernummer zum ersten Mal erprobt wurde. Alle Autorinnen und Autoren haben sich bereit erklärt, Replikationsmaterial für ihre Analysen zur Verfügung zu stellen. Darin werden die Aufbereitung der Daten und die Analysen Schritt für Schritt gezeigt und damit das Vorgehen transparent gemacht. Die Dokumente können auf der Seite der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft direkt bei den jeweiligen Artikeln heruntergeladen werden. Wir verfolgen damit zwei Ziele. Erstens nehmen wir den Gedanken der Nachvollziehbarkeit ernst, was ein entscheidendes Kriterium für wissenschaftliche Arbeit ist. Die Praxis, Replikationsmaterial zur Verfügung zu stellen gibt es mittlerweile bei vielen politikwissenschaftlichen Zeitschriften. Wir begrüssen diesen Wandel und setzen ihn darum gerne auch in der Schweiz fort. Zweitens wissen wir, dass die Beiträge zu den Schweizer Wahlen auch oft Thema in Vorlesungen und Seminaren sind. Deshalb ist es uns auch ein Anliegen, dass die vorliegenden Analysen von den Studierenden nicht nur passiv verstanden, sondern auch aktiv nachvollzogen werden können.

Die Schweizer Wahlstudie Selects
Seit 1995 untersucht die Schweizer Wahlstudie Selects die Gründe für die Wahlteilnahme und den Wahlentscheid an eidgenössischen Wahlen. Im Rahmen von Selects 2015 wurden verschiedene Erhebungen durchgeführt, welche die Datengrundlage der Artikel in der Sondernummer bilden:

  • In einer Nachwahlbefragung wurden insgesamt 5’337 Stimmberechtigte durch das Befragungsinstitut DemoSCOPE per Internet oder Telefon befragt. Es handelt sich um eine kantonal geschichtete Stichprobe, in der die kleinen Kantone überrepräsentiert sind sowie drei Kantone (Genf, Tessin, Zürich) zusätzlich aufgestockt wurden
  • Eine vierwellige, kombinierte Panel-/Rolling Cross-Section-Erhebung basierend auf einer gesamtschweizerischen Zufallsstichprobe, mit der dieselben Personen während und nach der Wahl per Internet mehrmals befragt wurden (Vorkampagnen-Welle mit 11’009 befragten Personen im Juni/Juli 2015; Kampagnen-Welle mit täglich rund 120 Interviews und insgesamt 7’295 Personen zwischen August und Oktober 2015; Nachwahl-Welle mit 7’601 Personen im Oktober/November 2015 sowie eine letzte Welle mit 5’411 Personen nach der Bundesratswahl im Dezember 2015)
  • Eine automatisierte Medienanalyse von 93 verschiedenen (print und online) Zeitungen und Newsseiten, die in Zusammenarbeit mit dem Institut für Politikwissenschaften der Universität Zürich durchgeführt wurde und während der Wahlkampagne die wichtigsten Themen und Akteure in der Medienberichterstattung identifiziert
  • Eine Kandidierendenbefragung per Internet oder Papier unter allen Kandidatinnen und Kandidaten für den National- und Ständerat, von denen 1’744 an der Umfrage teilgenommen haben. Diese Befragung wurde im Auftrag von Selects durch polittools.net durchgeführt.

Die Schweizer Wahlstudie Selects wird vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert und ist am Schweizer Kompetenzzentrum für Sozialwissenschaften FORS beherbergt.


Der Beitrag basiert auf einem Sonderheft der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft (Heft 24(4), 2018) mit folgendem Inhalt: