Nationale Souveränität oder wirtschaftliche Integration? Nur für Bürgerliche eine schwierige Entscheidung.

Nicht nur in der Schweiz ste­hen zwei Zie­le zuneh­mend in Kon­flikt: die auto­no­me natio­na­le Steue­rung der Migra­ti­on einer­seits und der Erhalt inter­na­tio­na­ler wirt­schaft­li­cher Ver­flech­tung ande­rer­seits. Wer bei­des will, befin­det sich im Ziel­kon­flikt. Wir zei­gen, dass vor allem bür­ger­li­che Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler die­sem Kon­flikt aus­ge­setzt sind und ihre Ent­schei­dung stark von der Par­tei­li­nie geprägt ist. 

Fran­zö­si­sche Version

Mit der Begren­zungs­in­itia­ti­ve will die SVP an der Urne eine Ent­schei­dung zum Kon­flikt um die Per­so­nen­frei­zü­gig­keit her­bei­füh­ren. Der Bun­des­rat lehnt die Vor­la­ge ab. Die Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger sol­len vor­aus­sicht­lich im nächs­ten Jahr dar­über ent­schei­den, ob die Schweiz die Immi­gra­ti­on künf­tig allei­ne kon­trol­lie­ren soll und dafür den Preis in Form des Zugan­ges zum EU-Bin­nen­markt zu zah­len bereit ist.

Was die Bri­ten im Rah­men des Bre­x­it gera­de schmerz­lich erfah­ren, sagt mitt­ler­wei­le auch die SVP offen: «Die Schweiz zu ver­tei­di­gen war noch nie gra­tis.» (Tages­an­zei­ger, 27.11.2018). Es mag poli­tisch umstrit­ten sein, ob eine Kün­di­gung des Per­so­nen­frei­zü­gig­keits­ab­kom­mens als Ver­tei­di­gung der Schweiz zu zäh­len ist, aber dass das Wie­der­erlan­gen natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät in Migra­ti­ons­fra­gen hohe wirt­schaft­li­che Kos­ten hät­te, ist weit weni­ger kontrovers.

Die­ser Preis der natio­na­len Sou­ve­rä­ni­tät steht im Zen­trum unse­res Bei­tra­ges. Wir unter­su­chen, wie vie­le und wel­che Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger effek­tiv mit einem Ziel­kon­flikt kon­fron­tiert sind und wie die­se sich ent­schei­den, wenn sie expli­zit vor die Wahl gestellt werden.

Kon­kret gin­gen wir fol­gen­den bei­den Fra­gen nach:

1) Wie vie­le und wel­che Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger befin­den sich in einem soge­nann­ten Ziel­kon­flikt bezüg­lich ihrer poli­ti­schen Präferenzen?

2) Wie ent­schei­den sich die Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger zwi­schen den zwei prä­fe­rier­ten Zie­len der Immi­gra­ti­ons­steue­rung und der öko­no­mi­schen Integration?

Die Unter­su­chung im Detail
Zwei spe­zi­fi­sche Aspek­te aus der Befra­gung, wel­che im Rah­men der Schwei­zer Wahl­stu­die Selects im Vor­feld der Natio­nal­rats­wah­len 2015 durch­ge­führt wur­de, haben unse­re Unter­su­chung ermög­licht. Einer­seits beinhal­ten die­se Daten nicht nur Fra­gen nach der Bewer­tung von Immi­gra­ti­on und den Bila­te­ra­len Ver­trä­gen, son­dern auch eine expli­zi­te Ent­schei­dungs­fra­ge zwi­schen den Bila­te­ra­len Ver­trä­gen und einer Immi­gra­ti­ons­be­gren­zung. Zum ande­ren umfas­sen die­se Daten ein beson­ders gros­ses Sam­ple von über 11’000 Per­so­nen, was eine Ana­ly­se meh­re­rer Teil­grup­pen ermög­licht. In der Tat befin­den sich im Sam­ple nicht weni­ger als rund 1’300 Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler, wel­che sowohl die Immi­gra­ti­on als pro­ble­ma­tisch bewer­ten, als auch die Bila­te­ra­len Ver­trä­ge posi­tiv beurteilen.
Bürgerliche im Zielkonflikt

Für Wäh­len­de, wel­che sowohl die Bila­te­ra­len als auch die Fol­gen der Migra­ti­on für das Land posi­tiv bewer­ten, besteht natür­lich kein Ziel­kon­flikt. Sie könn­ten eine Begren­zungs­in­itia­ti­ve getrost ableh­nen. Wir nen­nen sie in unse­rer Ana­ly­se Inter­na­tio­nal Gesinn­te und sie reprä­sen­tie­ren ein gutes Drit­tel der Befrag­ten (sie­he Abbil­dung 1).

Auch wer sowohl der Immi­gra­ti­on als auch den Bila­te­ra­len gegen­über skep­tisch ein­ge­stellt ist, hat eine leich­te Wahl: Natio­nal Gesinn­te (14% der Befrag­ten) könn­ten eine Begren­zungs­in­itia­ti­ve pro­blem­los annehmen.

Aber Stimm­bür­ger und Stimm­bür­ge­rin­nen, wel­che sowohl eine Begren­zung der Immi­gra­ti­on als auch die Bei­be­hal­tung der Bila­te­ra­len anstre­ben, sind zumin­dest poten­zi­ell hin- und her­ge­ris­sen. Poten­zi­ell dar­um, weil der Kon­flikt nur in der kon­kre­ten Ent­schei­dungs­si­tua­ti­on akut wird. Mit 12 Pro­zent ist dies eine sub­stan­zi­el­le Grup­pe in der Schweiz, wel­che gera­de im Fall von Volks­ent­schei­den von gros­ser Rele­vanz sein kann.

Zusam­men mit den Neu­tra­len, wel­che gegen­über Immi­gra­ti­on und/oder den Bila­te­ra­len indif­fe­rent sind, bil­den die Hin- und Her­ge­ris­se­nen eine gros­se Grup­pe von Per­so­nen, deren Ent­schei­dung im Ziel­kon­flikt zwi­schen einer auto­no­men natio­na­len Steue­rung der Migra­ti­on und dem Erhalt inter­na­tio­na­ler wirt­schaft­li­cher Ver­flech­tun­gen nur schwer abzu­schät­zen ist.

Hin­ge­gen zeigt Abbil­dung 1, dass die Grup­pe der­je­ni­gen, wel­che «alter­na­tiv» hin- und her­ge­ris­sen sind – wel­che also die Bila­te­ra­len nega­tiv bewer­ten, aber Immi­gra­ti­on posi­tiv gegen­über ste­hen – in der Schweiz sehr klein ist (ca. 4%) und kaum poli­ti­sches Gewicht hat.

Abbildung 1

Es gibt ver­schie­de­ne theo­re­ti­sche Erklä­run­gen, war­um Indi­vi­du­en zwi­schen Immi­gra­ti­ons­be­gren­zung und wirt­schaft­li­cher Offen­heit hin- und her­ge­ris­sen sein könn­ten. Wir unter­such­ten drei zen­tra­le Hypo­the­sen:

Die ers­te Hypo­the­se ist eine polit­öko­no­mi­sche und geht davon aus, dass sich Arbeit­neh­me­rin­nen und Arbeit­neh­mer in wirt­schaft­lich expo­nier­ten Sek­to­ren mit hohem Aus­län­der­an­teil im Dilem­ma befin­den, weil sie einer­seits von der wirt­schaft­li­chen Offen­heit abhän­gig sind und ander­seits der Arbeits­markt­kon­kur­renz durch Migran­tin­nen und Migran­ten beson­ders aus­ge­setzt sind. Für die­se Hypo­the­se fin­den wir in den Daten aber kei­ne Evi­denz. Wir mes­sen die indi­vi­du­el­le Bedro­hung durch die Export­ab­hän­gig­keit des Beschäf­ti­gungs­sek­tors und durch den Aus­län­der­an­teil an den Beschäf­tig­ten. Kei­ne der bei­den Varia­blen, weder ein­zeln noch in Kom­bi­na­ti­on, ste­hen mit dem diver­gie­ren­den Prä­fe­renz­pro­fil im Zusammenhang.

Eine zwei­te Erklä­rung des Ziel­kon­flik­tes beruht auf der Idee, dass weni­ger gut infor­mier­te Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger sich des Kon­flikts ihrer Prä­fe­ren­zen schlicht nicht bewusst sind. Ent­spre­chend soll­ten Per­so­nen mit gerin­gem poli­ti­schem Inter­es­se oder Wis­sen häu­fi­ger im Ziel­kon­flikt ste­cken. Doch auch unse­re zwei­te Hypo­the­se wird durch die Ana­ly­se nicht bestä­tigt. Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger, wel­che zwi­schen Immi­gra­ti­ons­be­gren­zung und Bila­te­ra­len hin- und her­ge­ris­sen sind, sind durch­aus infor­mier­te und akti­ve Bür­ge­rin­nen und Bürger.

Drit­tens unter­su­chen wir, wel­che Par­tei­en die Per­so­nen mit unter­schied­li­chem Prä­fe­renz­pro­fil bevor­zu­gen. Hier sind die Befun­de glas­klar (Abbil­dung 2): der Ziel­kon­flikt zwi­schen Immi­gra­ti­ons­steue­rung und wirt­schaft­li­chem Markt­zu­gang ist in der Schweiz ein (fast) rein bür­ger­li­ches Phä­no­men. Zwei Drit­tel der SVP-Wäh­len­den bewer­tet Immi­gra­ti­on als nega­tiv, ein knap­pes Drit­tel der SVP-Wäh­len­den schätzt die Aus­wir­kun­gen der bila­te­ra­len Ver­trä­ge auf die Schweiz aber als posi­tiv ein. Ins­ge­samt ist jede fünf­te Per­son, die SVP wählt, mit einem poten­zi­el­len Ziel­kon­flikt konfrontiert.

Auch bei der FDP und der CVP haben fünf­zehn bzw. drei­zehn Pro­zent der Wäh­ler­schaft die­sen Ziel­kon­flikt, wäh­rend nur gera­de­mal jeder zwan­zigs­te aus der SP-Wäh­ler­schaft die­sem Pro­fil ent­spricht. Wei­ter­füh­ren­de Ana­ly­sen zei­gen, dass es vor allem gut­ver­die­nen­de SVP- und FDP-Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler sind, wel­che sich in einem Ziel­kon­flikt befin­den. Eine Erklä­rung dafür könn­te sein, dass die­se bür­ger­li­chen Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler beruf­lich von der wirt­schaft­li­chen Ver­flech­tung pro­fi­tie­ren, gesell­schafts­po­li­tisch jedoch kon­ser­va­tiv denken.

Abbildung 2

Ob der «bür­ger­li­che Ziel­kon­flikt» ein spe­zi­fisch Schwei­ze­ri­scher ist, oder ob auch in ande­ren Län­dern kaum Bin­nen­markt-befür­wor­ten­de Immi­gra­ti­ons­skep­ti­ke­rin­nen und Immi­gra­ti­ons­skep­ti­ker auf der Lin­ken zu fin­den wären, bleibt in unse­rer Ana­ly­se offen. Aller­dings zeigt der Anteil Inter­na­tio­nal Gesinn­ter bei den Lin­ken in der Schweiz ein­mal mehr, dass die SP in der Schweiz kaum mehr gesell­schafts­kon­ser­va­ti­ve Wäh­len­de mobilisiert.

Parteipolitisch geprägte Entscheidungen

Auf wel­che Sei­te ten­die­ren nun Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger im Ziel­kon­flikt, wenn sie kon­kret zur Ent­schei­dung gezwun­gen werden?

Abbil­dung 3 zeigt die Resul­ta­te unse­rer Ana­ly­sen zu die­ser Fra­ge. Wie sich zeigt, erklärt die indi­vi­du­el­le Betrof­fen­heit den Ent­scheid kaum. Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in han­dels­ex­po­nier­ten Sek­to­ren ent­schei­den sich nicht über­pro­por­tio­nal für den Erhalt der Bila­te­ra­len (obwohl ihre Beschäf­ti­gung stark davon abhängt). Und wer in einen Sek­tor mit einem hohen Aus­län­der­an­teil arbei­tet, ent­schei­det sich auch nicht häu­fi­ger für die Beschrän­kung der Immigration.

Der zen­tra­le Effekt in Abbil­dung 3 ist die star­ke Kor­re­la­ti­on zwi­schen SVP-Wahl und einer Prä­fe­renz für die Immi­gra­ti­ons­kon­trol­le. Auch SVP-Wäh­len­de, wel­che die Bila­te­ra­len posi­tiv ein­schät­zen, ten­die­ren in der Ent­schei­dungs­si­tua­ti­on gegen die­sel­ben. Wir inter­pre­tie­ren die­sen Effekt als Effekt der Par­tei­li­nie auf die Ent­schei­dung der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger. Man könn­te ein­wen­den, dass es gera­de anders­rum ist. Dass also Per­so­nen, die Immi­gra­ti­ons­be­schrän­kung höher gewich­ten, aus die­sem Grund SVP wäh­len. Unse­re Inter­pre­ta­ti­on des Par­tei­ef­fek­tes wird jedoch dadurch gestützt, dass die­ser auch im mul­ti­va­ria­ten Modell robust bleibt, also unab­hän­gig davon, wel­che Wich­tig­keit jemand dem The­ma Migra­ti­on beimisst.

Abbildung 3

Abschlies­send lässt sich fest­hal­ten, dass der Ziel­kon­flikt betref­fend Immi­gra­ti­ons­kon­trol­le und öko­no­mi­scher Inte­gra­ti­on in der Schweiz ein fast aus­schliess­lich bür­ger­li­ches Phä­no­men ist. Lin­ke Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler sind die­sem Ziel­kon­flikt weni­ger aus­ge­setzt, und falls sie es doch sind, ent­schei­den sie sich in der Regel für die Bilateralen.

Auf der ande­ren Sei­te ist die Prä­fe­renz für eine Immi­gra­ti­ons­be­schrän­kung bei den SVP-Wäh­len­den sehr klar und robust. Offe­ner ist die Ent­schei­dung für hin- und her­ge­ris­se­ne Wäh­len­de der FDP und CVP. Hier schei­nen Sali­enz­ef­fek­te (z.B. die Wich­tig­keit der Migra­ti­ons- bzw. EU-Poli­tik) einen gros­sen Stel­len­wert zu haben. Eine Abstim­mungs­kam­pa­gne wird daher vor allem effek­tiv sein, wenn sie stark auf die Mobi­li­sie­rung die­ser Grup­pen und das Framing der Ent­schei­dung zuge­schnit­ten wird.  


 Referenz:

Emmen­eg­ger, Patrick; Sil­ja Häu­ser­mann und Ste­fa­nie Wal­ter (2018).
 

Bild: commons.wikimedia.org

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