Bundesräte gehen wann es ihnen passt

Doris Leu­thard und Johann Schnei­der-Ammann haben ihren Rück­tritt per Ende 2018 bekannt gege­ben. Das ist ein übli­ches Vor­ge­hen, die gros­se Mehr­heit der Bun­des­rä­te tritt wäh­rend der Legis­la­tur zurück. Indi­vi­du­el­le Rück­trit­te wir­ken sta­bi­li­sie­rend auf das poli­ti­sche Sys­tem der Schweiz und machen die Bun­des­rats­wah­len für die Par­tei­en bere­chen­ba­rer. Wären Rück­trit­te nur per Ende einer Legis­la­tur üblich, wür­den sich die Dis­kus­sio­nen im Vor­feld der Par­la­ments­wah­len über die Zusam­men­set­zung der Regie­rung inten­si­vie­ren, so dass die Gesamt­erneue­rungs­wah­len des Bun­des­rats schnell mehr als blos­ses Ritu­al wären. So wäre die Zau­ber­for­mel wohl nie ein­ge­führt wor­den, wären 1959 nicht gleich vier Bun­des­rä­te zeit­gleich zurückgetreten. 

Ver­si­on française

Doris Leu­thard und Johann Schnei­der-Ammann haben ihren Rück­tritt aus dem Bun­des­rat ange­kün­digt. Bei­de schei­den per Ende 2018 aus der Lan­des­re­gie­rung. Dies ist ein übli­ches Sze­na­rio, denn im Durch­schnitt tra­ten in den letz­ten hun­dert Jah­ren nur drei von zehn Bun­des­rä­ten per Ende einer Legis­la­tur zurück.

Rücktritte aus dem Bundesrat seit 1919

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Seit 1919 erfolg­ten nur gera­de 21 von 71 Rück­trit­ten, oder dreis­sig Pro­zent, per Ende eines Man­da­tes[i]. Im Bun­des­rat gilt damit eine sehr spe­zi­el­le Rück­tritts­kul­tur, denn im natio­na­len Par­la­ment oder in den direkt vom Volk gewähl­ten kan­to­na­len Regie­run­gen sind Rück­trit­te per Ende einer Legis­la­tur die Regel.

Faktisch keine Regierungswahl

Die Bun­des­rä­te wer­den in der Schweiz für die Dau­er von vier Jah­ren vom Par­la­ment gewählt und kön­nen wäh­rend ihrer Amts­dau­er nicht abge­wählt wer­den. In der Pra­xis sind die Gesamt­erneue­rungs­wah­len des Bun­des­rats durch das Par­la­ment aber kei­ne rich­ti­gen Wah­len. Regie­rungs­mit­glie­der wer­den ritua­li­siert bestä­tigt und am inter­es­san­tes­ten ist allen­falls, wie hoch die Stim­men­zahl der ein­zel­nen Mit­glie­der ist. Seit 1919 wur­den mit Aus­nah­me von Ruth Metz­ler 2003 und Chris­toph Blo­cher 2007 sämt­li­che Bun­des­rä­te, die erneut kan­di­dier­ten, im ers­ten Wahl­gang mit durch­schnitt­lich über sieb­zig Pro­zent der Stim­men wie­der­ge­wählt.[ii] Das bedeu­tet, dass das Par­la­ment die per­so­nel­le Zusam­men­set­zung der Regie­rung nur dann beein­flusst, wenn es eine Vakanz gibt.

Begüns­tigt wird die­se Situa­ti­on durch das vor­herr­schen­de Wahl­sys­tem. Die Mit­glie­der des Bun­des­ra­tes wer­den nicht gemein­sam, son­dern ein­zeln und nach­ein­an­der gewählt, was einen enorm sta­bi­li­sie­ren­den Effekt hat. Par­tei­en haben einen hohen Anreiz, die Mit­glie­der ande­rer Par­tei­en zu wäh­len, weil sie sonst Retour­kut­schen befürch­ten müs­sen, ins­be­son­de­re falls ihre eige­nen Bun­des­rä­te zu den letz­ten gehö­ren, die gewählt wer­den müs­sen. Und wer sei­ne Schäf­chen bereits im Trock­nen hat, hat kei­nen Anreiz mehr, Bun­des­rats­mit­glie­der ande­rer Par­tei­en zu desavouieren.

Dass die Bun­des­ver­samm­lung dar­um ihr Wahl­recht bei Gesamt­erneue­rungs­wah­len fak­tisch nicht aus­übt, führt dazu, dass die Mit­glie­der des Bun­des­ra­tes weit­ge­hend auto­nom sind, dar­über zu ent­schei­den, wann sie zurück­tre­ten. In man­chen Fäl­len wird dies mit der Par­tei oder mit ande­ren Mit­glie­dern des Bun­des­ra­tes abge­spro­chen, in der Regel aber fäl­len Bun­des­rä­tin­nen und Bun­des­rä­te die­sen Ent­scheid ohne fes­te Abspra­chen und dar­um auch immer wie­der überraschend.

Grün­de für den Rück­tritt aus dem Bundesrat
In den meis­ten Fäl­len erfolg­te ein Rück­tritt aus per­sön­li­chen oder poli­ti­schen Über­le­gun­gen. Fak­to­ren, die gehäuft zu einem Rück­tritt füh­ren, kön­nen das abge­schlos­se­ne Jahr im Bun­des­prä­si­di­um sein oder wenn ein wich­ti­ges Geschäft aus dem eige­nen Depar­te­ment Erfolg hat­te, sei es im Par­la­ment oder bei einer Volks­ab­stim­mung. Dass Doris Leu­thard die No-Bil­lag Abstim­mung abwar­te­te, bevor sie ihren Rück­tritt erklär­te, ist kaum Zufall. Ein Ein­zel­ab­gang ermög­licht zudem noch­mals eine umfas­sen­de Wür­di­gung der geleis­te­ten Arbeit in der Öffent­lich­keit – schliess­lich wird man als Bun­des­rat nie mehr gelobt als bevor man kommt oder wenn man geht.

In Ein­zel­fäl­len erfol­gen Rück­trit­te aus gesund­heit­li­chen Grün­den, bei­spiels­wei­se der CVP-Bun­des­rat Alp­hon­se Egli, der sein Amt 1986 nach nur vier Jah­ren im Bun­des­rat zurück­gab. Zwei Jah­re zuvor war auch der gleich­zei­tig gewähl­te FDP-Bun­des­rat Rudolf Fried­rich nach nur zwei Amts­jah­ren aus ähn­li­chen Grün­den zurück­ge­tre­ten. Eben­falls aus gesund­heit­li­chen Grün­den trat der SP-Bun­des­rat René Fel­ber 1993 zurück. Im Fal­le von Jean Bourg­knecht 1962 muss­ten gar sei­ne Ange­hö­ri­gen den Rück­tritt erklä­ren, weil er nach einem Schlag­an­fall weder spre­chen noch schrei­ben konnte.

In ande­ren Fäl­len erfolgt der Rück­tritt aus poli­ti­schem Druck. Eli­sa­beth Kopp, FDP-Mit­glied und ers­te Frau im Bun­des­rat, trat 1989 zurück, nach­dem ihr Amts­ge­hei­mis­ver­let­zung vor­ge­wor­fen wor­den war. Auch beim Rück­tritt von Samu­el Schmid spiel­te der poli­ti­sche Druck aus den Rei­hen der SVP eine Rol­le. Er war ursprüng­lich als nicht offi­zi­el­ler SVP-Bun­des­rat ins Amt gewählt wor­den. Nach der Nicht-Wie­der­wahl von Chris­toph Blo­cher trat er 2008 aus der SVP aus und der neu gegrün­de­ten BDP bei und stand danach unter stän­di­ger Kri­tik sei­ner ehe­ma­li­gen Par­tei. Diver­se Vor­fäl­le im Ver­tei­di­gungs­de­par­te­ment setz­ten ihm poli­tisch zu und dürf­ten beim Rück­tritt eine Rol­le gespielt haben.

Vor allem FDP und CVP-Bundesräte gehen während der Legislatur

Zwi­schen den Par­tei­en zei­gen sich erheb­li­che Unter­schie­de im Bezug auf den Zeit­punkt des Rück­tritts. Bei der FDP und der CVP erfolg­ten seit 1919 vier von fünf Rück­trit­ten wäh­rend der Legis­la­tur. Bei der SP und der SVP war es nur jeder zweite.

Rück­trit­te wäh­rend der Legis­la­tur sind aller­dings kein neu­es Phä­no­men. In den letz­ten hun­dert Jah­ren fand die Mehr­heit der Rück­trit­te wäh­rend der Legis­la­tur statt. Etwas häu­fi­ger waren Rück­trit­te auf Ende der Legis­la­tur zwi­schen 1919 und 1959. Aller­dings erfolg­te auch in die­ser Zeit die Mehr­heit der Rück­trit­te wäh­rend der Legis­la­tur. Sel­ten­heits­wert hat­ten Rück­trit­te per Ende eines Man­da­tes zwi­schen 1960–1979, d.h. direkt nach der Ein­füh­rung der Zau­ber­for­mel. In die­ser Zeit tra­ten nur gera­de zwei von drei­zehn Bun­des­rä­ten per Ende einer Amts­zeit zurück. Seit­her ist der Anteil Rück­trit­te auf Ende Legis­la­tur eher wie­der etwas grös­ser geworden.

Rücktritte aus Bundesrat von 1919–2017: Anteil während bzw. Anfang Legislatur in Prozent nach Partei sowie Periode

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Parteipolitisches Kalkül

Den Par­tei­en kom­men Rück­trit­te wäh­rend einer Legis­la­tur in der Regel ent­ge­gen, denn Rück­tritts­er­klä­run­gen füh­ren dazu, dass die zur Wahl vor­ge­schla­ge­nen Per­so­nen und ihre Par­tei über vie­le Wochen oder gar Mona­te im Ram­pen­licht ste­hen. Bun­des­rats­wah­len gene­rie­ren in den Medi­en eine sehr hohe Auf­merk­sam­keit, die Par­tei­en zuneh­mend auch gezielt zu nut­zen ver­su­chen. So gesche­hen bei­spiels­wei­se nach dem Rück­tritt von Didier Burk­hal­ter Ende Okto­ber 2017. Die FDP prä­sen­tier­te ihre Kan­di­die­ren­den im Vor­feld in einer Road­show im gan­zen Land. Obwohl das Volk bei der Wahl von Bun­des­rä­ten gar nichts zu sagen hat, prä­sen­tier­ten sich die Kan­di­die­ren­den der FDP an diver­sen Anläs­sen in der gan­zen Schweiz Volk und Medien.

In man­chen Fäl­len hilft der Rück­tritt des eige­nen Bun­des­rats einer Par­tei, sich kurz vor den eid­ge­nös­si­schen Wah­len in ein gutes Licht zu rücken. So trat bei­spiels­wei­se der Sozi­al­de­mo­krat Otto Stich per Ende Okto­ber 1995 zurück. Die Ergän­zungs­wahl erfolg­te in der Herbst­ses­si­on ein paar Wochen vor den eid­ge­nös­si­schen Wah­len und führ­te dazu, dass die SP viel Medi­en­prä­senz hatte.

Beim Dop­pel­rück­tritt der CVP-Bun­des­rä­te Arnold Kol­ler und Fla­vio Cot­ti 1999 nur gera­de sechs Mona­te vor den eid­ge­nös­si­schen Wah­len half der eige­nen Par­tei zen­tral dabei, ihre bei­den Bun­des­rats­sit­ze vor­erst zu sichern. Die CVP befürch­te­te zu Recht, bei den im glei­chen Jahr anste­hen­den Par­la­ments­wah­len von der SVP als dritt­stärks­te Par­tei abge­löst zu wer­den. Um zu ver­hin­dern, dass einer der CVP-Sit­ze im Bun­des­rat mas­siv unter Druck kommt, erfolg­ten die Rück­trit­te der bei­den Magis­tra­ten dar­um koor­di­niert noch vor den eid­ge­nös­si­schen Wah­len. Ohne die­ses Manö­ver wäre es für die CVP wohl schwie­rig gewe­sen, ihre zwei Bun­des­rats­sit­ze zu hal­ten. Vier Jah­re spä­ter ging dann aller­dings ein CVP-Sitz ver­lo­ren, als Chris­toph Blo­cher anstel­le von Ruth Metz­ler in den Bun­des­rat gewählt wurde.

Weniger Strategie, mehr echte Wahlen bei Rücktritten am Ende der Legislatur?

Die sehr hohe Sta­bi­li­tät in der Regie­rung sowohl per­so­nell als auch in der par­tei­po­li­ti­schen Zusam­men­set­zung ist zwei­fels­oh­ne eine gros­se Stär­ke des schwei­ze­ri­schen poli­ti­schen Sys­tems und Garant für poli­ti­sche Kon­ti­nui­tät. Rück­trit­te wäh­rend der Legis­la­tur sind für die Par­tei­en bere­chen­ba­rer und über­sicht­li­cher. Im Zuge von anste­hen­den Bun­des­rats­wah­len wer­den jeweils vie­le ver­schie­de­ne Kri­te­ri­en wie Her­kunfts­re­gi­on, Spra­che, Geschlecht sowie poli­ti­sche Aus­rich­tung der Kan­di­die­ren­den dis­ku­tiert. Eine Ein­zel­va­kanz schränkt die­sen Kata­log ein und ver­ein­facht es den Par­tei­spit­zen, den Pro­zess zu steuern.

Auch wenn Rück­trit­te wäh­rend der Legis­la­tur recht­lich mög­lich und sowohl indi­vi­du­ell wie aus Sicht der Par­tei­en nach­voll­zieh­bar sind, wäre eine Ände­rung der Gewohn­heit, in der Regel wäh­rend und nicht am Ende einer Amts­zeit zurück­zu­tre­ten, wün­schens­wert. Wür­den am Ende einer Legis­la­tur meh­re­re Vakan­zen anste­hen, wäre eine brei­te­re Dis­kus­si­on über die künf­ti­ge Zusam­men­set­zung der Regie­rung mög­lich, was auch das Kan­di­die­ren­den­feld erheb­lich ver­grös­sern wür­de. Damit wür­den die Gesamt­erneue­rungs­wah­len auch zu ech­ten Regie­rungs­wah­len, was die öffent­li­che Debat­te auch im Vor­feld der eid­ge­nös­si­schen Wah­len bele­ben wür­de und mobi­li­sie­rend wir­ken könnte.

Die­ser grös­se­re Spiel­raum über die per­so­nel­le Zusam­men­set­zung und damit das Kan­di­da­ten­feld bei meh­re­ren Vakan­zen wür­de die Par­tei­en dazu zwin­gen, sich im Vor­feld unter­ein­an­der zu koor­di­nie­ren – wie das in ande­ren Län­dern, in denen vie­le Par­tei­en an der Regie­rung betei­ligt sind, durch­aus üblich ist. Und was auch in der Schweiz schon ein­mal der Fall war: Als es 1959 per Ende der Legis­la­tur im Bun­des­rat gleich vier Vakan­zen gab, ermög­lich­ten poli­ti­sche und stra­te­gi­sche Abspra­chen die Ein­füh­rung der Zau­ber­for­mel und damit das Prin­zip, dass alle gros­sen Par­tei­en gemäss ihrer Stär­ke im Bun­des­rat ver­tre­ten sein soll­ten. Ohne gleich­zei­ti­ge Rück­trit­te wäre die­ser his­to­ri­sche Schritt wohl nicht mög­lich gewesen.


[i] Ins­ge­samt wur­den seit 1848 nur vier von 117 Bun­des­rats­mit­glie­der nicht bestätigt.

[ii] Nicht mit­ge­zählt sind zwei Neu­be­set­zun­gen auf­grund von Bun­des­rä­ten, die im Amt ver­star­ben (Karl Scheu­rer FDP 1929, Mar­kus Feld­mann SVP 1958) sowie die Wah­len von Ruth Metz­ler CVP 2003 und Chris­toph Blo­cher SVP 2007, die nicht zurück­tra­ten, son­dern nicht wie­der­ge­wählt wur­den. Hin­ge­gen wur­den Josef Escher CVP 1954 sowie Wil­li Rit­s­chard SP 1983 mit­ge­zählt, da sie zwar noch im Amt ver­star­ben, aber zuvor ihren Rück­tritt erklärt hat­ten. 

Foto: Wiki­me­dia Commons.

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