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Bundesräte gehen wann es ihnen passt

Georg Lutz
25th September 2018

Doris Leuthard und Johann Schneider-Ammann haben ihren Rücktritt per Ende 2018 bekannt gegeben. Das ist ein übliches Vorgehen, die grosse Mehrheit der Bundesräte tritt während der Legislatur zurück. Individuelle Rücktritte wirken stabilisierend auf das politische System der Schweiz und machen die Bundesratswahlen für die Parteien berechenbarer. Wären Rücktritte nur per Ende einer Legislatur üblich, würden sich die Diskussionen im Vorfeld der Parlamentswahlen über die Zusammensetzung der Regierung intensivieren, so dass die Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats schnell mehr als blosses Ritual wären. So wäre die Zauberformel wohl nie eingeführt worden, wären 1959 nicht gleich vier Bundesräte zeitgleich zurückgetreten.

Version française

Doris Leuthard und Johann Schneider-Ammann haben ihren Rücktritt aus dem Bundesrat angekündigt. Beide scheiden per Ende 2018 aus der Landesregierung. Dies ist ein übliches Szenario, denn im Durchschnitt traten in den letzten hundert Jahren nur drei von zehn Bundesräten per Ende einer Legislatur zurück.

Rücktritte aus dem Bundesrat seit 1919

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Seit 1919 erfolgten nur gerade 21 von 71 Rücktritten, oder dreissig Prozent, per Ende eines Mandates[i]. Im Bundesrat gilt damit eine sehr spezielle Rücktrittskultur, denn im nationalen Parlament oder in den direkt vom Volk gewählten kantonalen Regierungen sind Rücktritte per Ende einer Legislatur die Regel.

Faktisch keine Regierungswahl

Die Bundesräte werden in der Schweiz für die Dauer von vier Jahren vom Parlament gewählt und können während ihrer Amtsdauer nicht abgewählt werden. In der Praxis sind die Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats durch das Parlament aber keine richtigen Wahlen. Regierungsmitglieder werden ritualisiert bestätigt und am interessantesten ist allenfalls, wie hoch die Stimmenzahl der einzelnen Mitglieder ist. Seit 1919 wurden mit Ausnahme von Ruth Metzler 2003 und Christoph Blocher 2007 sämtliche Bundesräte, die erneut kandidierten, im ersten Wahlgang mit durchschnittlich über siebzig Prozent der Stimmen wiedergewählt.[ii] Das bedeutet, dass das Parlament die personelle Zusammensetzung der Regierung nur dann beeinflusst, wenn es eine Vakanz gibt.

Begünstigt wird diese Situation durch das vorherrschende Wahlsystem. Die Mitglieder des Bundesrates werden nicht gemeinsam, sondern einzeln und nacheinander gewählt, was einen enorm stabilisierenden Effekt hat. Parteien haben einen hohen Anreiz, die Mitglieder anderer Parteien zu wählen, weil sie sonst Retourkutschen befürchten müssen, insbesondere falls ihre eigenen Bundesräte zu den letzten gehören, die gewählt werden müssen. Und wer seine Schäfchen bereits im Trocknen hat, hat keinen Anreiz mehr, Bundesratsmitglieder anderer Parteien zu desavouieren.

Dass die Bundesversammlung darum ihr Wahlrecht bei Gesamterneuerungswahlen faktisch nicht ausübt, führt dazu, dass die Mitglieder des Bundesrates weitgehend autonom sind, darüber zu entscheiden, wann sie zurücktreten. In manchen Fällen wird dies mit der Partei oder mit anderen Mitgliedern des Bundesrates abgesprochen, in der Regel aber fällen Bundesrätinnen und Bundesräte diesen Entscheid ohne feste Absprachen und darum auch immer wieder überraschend.

Gründe für den Rücktritt aus dem Bundesrat
In den meisten Fällen erfolgte ein Rücktritt aus persönlichen oder politischen Überlegungen. Faktoren, die gehäuft zu einem Rücktritt führen, können das abgeschlossene Jahr im Bundespräsidium sein oder wenn ein wichtiges Geschäft aus dem eigenen Departement Erfolg hatte, sei es im Parlament oder bei einer Volksabstimmung. Dass Doris Leuthard die No-Billag Abstimmung abwartete, bevor sie ihren Rücktritt erklärte, ist kaum Zufall. Ein Einzelabgang ermöglicht zudem nochmals eine umfassende Würdigung der geleisteten Arbeit in der Öffentlichkeit – schliesslich wird man als Bundesrat nie mehr gelobt als bevor man kommt oder wenn man geht.

In Einzelfällen erfolgen Rücktritte aus gesundheitlichen Gründen, beispielsweise der CVP-Bundesrat Alphonse Egli, der sein Amt 1986 nach nur vier Jahren im Bundesrat zurückgab. Zwei Jahre zuvor war auch der gleichzeitig gewählte FDP-Bundesrat Rudolf Friedrich nach nur zwei Amtsjahren aus ähnlichen Gründen zurückgetreten. Ebenfalls aus gesundheitlichen Gründen trat der SP-Bundesrat René Felber 1993 zurück. Im Falle von Jean Bourgknecht 1962 mussten gar seine Angehörigen den Rücktritt erklären, weil er nach einem Schlaganfall weder sprechen noch schreiben konnte.

In anderen Fällen erfolgt der Rücktritt aus politischem Druck. Elisabeth Kopp, FDP-Mitglied und erste Frau im Bundesrat, trat 1989 zurück, nachdem ihr Amtsgeheimisverletzung vorgeworfen worden war. Auch beim Rücktritt von Samuel Schmid spielte der politische Druck aus den Reihen der SVP eine Rolle. Er war ursprünglich als nicht offizieller SVP-Bundesrat ins Amt gewählt worden. Nach der Nicht-Wiederwahl von Christoph Blocher trat er 2008 aus der SVP aus und der neu gegründeten BDP bei und stand danach unter ständiger Kritik seiner ehemaligen Partei. Diverse Vorfälle im Verteidigungsdepartement setzten ihm politisch zu und dürften beim Rücktritt eine Rolle gespielt haben.

Vor allem FDP und CVP-Bundesräte gehen während der Legislatur

Zwischen den Parteien zeigen sich erhebliche Unterschiede im Bezug auf den Zeitpunkt des Rücktritts. Bei der FDP und der CVP erfolgten seit 1919 vier von fünf Rücktritten während der Legislatur. Bei der SP und der SVP war es nur jeder zweite.

Rücktritte während der Legislatur sind allerdings kein neues Phänomen. In den letzten hundert Jahren fand die Mehrheit der Rücktritte während der Legislatur statt. Etwas häufiger waren Rücktritte auf Ende der Legislatur zwischen 1919 und 1959. Allerdings erfolgte auch in dieser Zeit die Mehrheit der Rücktritte während der Legislatur. Seltenheitswert hatten Rücktritte per Ende eines Mandates zwischen 1960-1979, d.h. direkt nach der Einführung der Zauberformel. In dieser Zeit traten nur gerade zwei von dreizehn Bundesräten per Ende einer Amtszeit zurück. Seither ist der Anteil Rücktritte auf Ende Legislatur eher wieder etwas grösser geworden.

Rücktritte aus Bundesrat von 1919-2017: Anteil während bzw. Anfang Legislatur in Prozent nach Partei sowie Periode

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Parteipolitisches Kalkül

Den Parteien kommen Rücktritte während einer Legislatur in der Regel entgegen, denn Rücktrittserklärungen führen dazu, dass die zur Wahl vorgeschlagenen Personen und ihre Partei über viele Wochen oder gar Monate im Rampenlicht stehen. Bundesratswahlen generieren in den Medien eine sehr hohe Aufmerksamkeit, die Parteien zunehmend auch gezielt zu nutzen versuchen. So geschehen beispielsweise nach dem Rücktritt von Didier Burkhalter Ende Oktober 2017. Die FDP präsentierte ihre Kandidierenden im Vorfeld in einer Roadshow im ganzen Land. Obwohl das Volk bei der Wahl von Bundesräten gar nichts zu sagen hat, präsentierten sich die Kandidierenden der FDP an diversen Anlässen in der ganzen Schweiz Volk und Medien.

In manchen Fällen hilft der Rücktritt des eigenen Bundesrats einer Partei, sich kurz vor den eidgenössischen Wahlen in ein gutes Licht zu rücken. So trat beispielsweise der Sozialdemokrat Otto Stich per Ende Oktober 1995 zurück. Die Ergänzungswahl erfolgte in der Herbstsession ein paar Wochen vor den eidgenössischen Wahlen und führte dazu, dass die SP viel Medienpräsenz hatte.

Beim Doppelrücktritt der CVP-Bundesräte Arnold Koller und Flavio Cotti 1999 nur gerade sechs Monate vor den eidgenössischen Wahlen half der eigenen Partei zentral dabei, ihre beiden Bundesratssitze vorerst zu sichern. Die CVP befürchtete zu Recht, bei den im gleichen Jahr anstehenden Parlamentswahlen von der SVP als drittstärkste Partei abgelöst zu werden. Um zu verhindern, dass einer der CVP-Sitze im Bundesrat massiv unter Druck kommt, erfolgten die Rücktritte der beiden Magistraten darum koordiniert noch vor den eidgenössischen Wahlen. Ohne dieses Manöver wäre es für die CVP wohl schwierig gewesen, ihre zwei Bundesratssitze zu halten. Vier Jahre später ging dann allerdings ein CVP-Sitz verloren, als Christoph Blocher anstelle von Ruth Metzler in den Bundesrat gewählt wurde.

Weniger Strategie, mehr echte Wahlen bei Rücktritten am Ende der Legislatur?

Die sehr hohe Stabilität in der Regierung sowohl personell als auch in der parteipolitischen Zusammensetzung ist zweifelsohne eine grosse Stärke des schweizerischen politischen Systems und Garant für politische Kontinuität. Rücktritte während der Legislatur sind für die Parteien berechenbarer und übersichtlicher. Im Zuge von anstehenden Bundesratswahlen werden jeweils viele verschiedene Kriterien wie Herkunftsregion, Sprache, Geschlecht sowie politische Ausrichtung der Kandidierenden diskutiert. Eine Einzelvakanz schränkt diesen Katalog ein und vereinfacht es den Parteispitzen, den Prozess zu steuern.

Auch wenn Rücktritte während der Legislatur rechtlich möglich und sowohl individuell wie aus Sicht der Parteien nachvollziehbar sind, wäre eine Änderung der Gewohnheit, in der Regel während und nicht am Ende einer Amtszeit zurückzutreten, wünschenswert. Würden am Ende einer Legislatur mehrere Vakanzen anstehen, wäre eine breitere Diskussion über die künftige Zusammensetzung der Regierung möglich, was auch das Kandidierendenfeld erheblich vergrössern würde. Damit würden die Gesamterneuerungswahlen auch zu echten Regierungswahlen, was die öffentliche Debatte auch im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen beleben würde und mobilisierend wirken könnte.

Dieser grössere Spielraum über die personelle Zusammensetzung und damit das Kandidatenfeld bei mehreren Vakanzen würde die Parteien dazu zwingen, sich im Vorfeld untereinander zu koordinieren – wie das in anderen Ländern, in denen viele Parteien an der Regierung beteiligt sind, durchaus üblich ist. Und was auch in der Schweiz schon einmal der Fall war: Als es 1959 per Ende der Legislatur im Bundesrat gleich vier Vakanzen gab, ermöglichten politische und strategische Absprachen die Einführung der Zauberformel und damit das Prinzip, dass alle grossen Parteien gemäss ihrer Stärke im Bundesrat vertreten sein sollten. Ohne gleichzeitige Rücktritte wäre dieser historische Schritt wohl nicht möglich gewesen.


[i] Insgesamt wurden seit 1848 nur vier von 117 Bundesratsmitglieder nicht bestätigt.

[ii] Nicht mitgezählt sind zwei Neubesetzungen aufgrund von Bundesräten, die im Amt verstarben (Karl Scheurer FDP 1929, Markus Feldmann SVP 1958) sowie die Wahlen von Ruth Metzler CVP 2003 und Christoph Blocher SVP 2007, die nicht zurücktraten, sondern nicht wiedergewählt wurden. Hingegen wurden Josef Escher CVP 1954 sowie Willi Ritschard SP 1983 mitgezählt, da sie zwar noch im Amt verstarben, aber zuvor ihren Rücktritt erklärt hatten. 

Foto: Wikimedia Commons.